Vom Allgäu nach Afrika: Aus dem Tagebuch einer Missionarin auf Zeit
Veronikas Mission - Teil X
Ruanda, 16. August 2023
Veronika Wetzel ist 22 Jahre alt und stammt aus Waltenhofen im Oberallgäu. Seit Anfang September 2022 ist sie als „Missionarin auf Zeit“ in Ruanda bei den Pallotinerinnen. Regelmäßig nimmt uns Veronika mit auf ihre Reise und berichtet in den zwölf Monaten über ihre Erfahrungen bei diesem außergewöhnlichen Einsatz für die Menschen und die katholische Kirche. Bald geht ihr Dienst zu Ende. Zeit für einige Highlights und Zeit, darüber nachzudenken, was sie in diesem einen Jahr gelernt hat.
„10 Minuten bis zum Boarding – ein Jahr in Ruanda liegt vor mir. Ein Traum seit meiner Kindheit. Das Wetter ist gut: blauer Himmel, nur ein paar Wolken hängen in der Luft. Ein bisschen so wie meine Gefühlslage: Ein wenig Anspannung, ein wenig Angst, aber vor allem die beruhigende Gewissheit, dass alles so kommen wird, wie es kommen soll. (…)
Als ich im Konvent der Schwestern angekommen bin, habe ich schon erstmal einen Schock bekommen: von den Wänden blättert teilweise der Putz ab, im Flur zu unserem Zimmer sind Kakerlaken rumgesaust, zur Dusche führen einfach zwei Wasserrohre an der Wand. Es ist alles sehr viel einfacher, als ich es mir vorgestellt habe.“
Diese Sätze habe ich vor rund einem Jahr nach meiner Ankunft in Ruanda als erstes in mein Tagebuch geschrieben. 357 Tage, 407 Tagebuchseiten und 832 Unterrichtsstunden später stehe ich kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland und merke, wenn ich auf die ersten Tage meines Einsatzes zurückschaue, wieviel ich in diesem Jahr gelernt habe und wie sich mein Denken verändert hat.
Wo ich umgedacht habe
Mein Bild vom „armen Afrikaner“, das ich unterbewusst durchaus verinnerlicht hatte, auch wenn ich das auf Nachfrage vermutlich nicht direkt so bestätigt hätte, hat sich verändert. Ich musste feststellen, dass es hier große Unterschiede gibt: Da gibt es einmal die reichen Familien, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, die in großen Villen wohnen, die durch Stacheldraht und Überwachungskameras geschützt sind und in denen Hausmädchen sich um die Wäsche, das Essen und teils auch um die Kinder kümmern. Dann war ich bei einer Kollegin zu Hause, die zwar für ihre Familie ein eigenes Haus hat, einen kleinen Garten, eine Haushaltshilfe und einen Wachhund, aber trotzdem deutlich unter der finanziellen Oberschicht lebt. Und gleichzeitig habe ich Einblicke in Lebenssituationen erhalten, in denen Menschen am Existenzminimum leben: Ich habe von Eltern mitbekommen, die mehrere Jobs haben, um irgendwie die Monatsmiete bezahlen zu können, Essen auf den Tisch zu bringen und das Schulgeld für ihre Kinder zu bezahlen – und es dann trotzdem nicht reicht, dass die Kinder eine weiterführende Ausbildung absolvieren können. Ich war bei Bekannten zu Hause, die kein fließendes Wasser haben, weder Herd noch Kühlschrank und kein Bad, sondern sich ein Plumpsklo mit zehn anderen Personen teilen.
Ich habe gemerkt, dass in Ruanda ein sehr viel gruppenspezifischeres Denken herrscht als ich das aus Deutschland gewohnt bin: Statt beim Namen wurde der Busfahrer der Schule „alter Mann“ gerufen, Lehrer werden einfach „Lehrer“ gerufen, Eltern werden „Mama“ oder „Papa“ gerufen und Nicht-Afrikaner werden alle „Ausländer“ gerufen, was mich – obwohl ich es zu verstehen gelernt habe – bis jetzt stört.
In der Schule ist mir bewusst geworden, dass unsere Pädagogik, die sich sehr stark am Einzelnen orientiert, hier nicht funktionieren würde, eben weil mehr an die Gemeinschaft als an das Individuum gedacht wird. Das Eingehen auf einzelne Fragen, mit denen, die sich schwertun, nochmal extra wiederholen, jeden Einzelnen beobachten und ihn seiner Leistung entsprechend zu motivieren und zu belohnen, klappt schon allein wegen der Klassengröße oft nicht.
Stereotype bestehen auf beiden Seiten
Und für mich persönlich die wichtigste Erkenntnis: Viele Leute hier haben uns Europäern gegenüber genauso Stereotype verankert, wie wir sie in Bezug auf Afrika haben. Und mir ist bewusst geworden: Brücken zwischen verschiedenen Kulturen können nur gebaut werden, wenn die Vorurteile auf beiden Seiten angesprochen und abgebaut werden.
Ein Vorurteil, das sich zum Beispiel fest etabliert hat, ist, dass Europäer nicht wüssten, wie man arbeitet. Denn viele anstrengende Hausarbeiten wie Abspülen, Kleidung waschen, Rasenmähen oder Gemüse schneiden, die bei uns in der Regel von elektronischen Geräten übernommen werden, werden hier von Hand gemacht, was schnell anstrengend werden kann, wenn man das nicht gewohnt ist. Deswegen wurden mir solche Arbeiten oft abgenommen, wenn ich damit bereits begonnen hatte oder Hilfsangebote meinerseits öfter nicht angenommen. Beim Kartoffelschälen habe ich einmal den wohl gut gemeinten Kommentar bekommen: „Inzwischen hast du gelernt, wie eine Afrikanerin zu arbeiten.“
Meine Highlights: Pilgerfeier mit über 20.000 Gläubigen
Doch trotz manch schwierigen Situationen wegen kultureller Unterschiede habe ich viele Erfahrungen gemacht und Erlebnisse gesammelt, die ich nicht missen möchte und die ich nie vergessen werde.
Da war einmal die Feier der ersten Marienerscheinungen vor über vierzig Jahren am einzig kirchlich anerkannten Wallfahrtsort Kibeho, zu der ich im November gefahren bin. Über 20.000 Gläubige sind aus den verschiedensten afrikanischen Ländern, aber auch aus Europa, Asien und Amerika an den Wallfahrtsort gepilgert. Weil sich nicht alle Pilger ein Bus- geschweige denn ein Flugticket leisten konnten, sind die Pilger aus dem Umland teilweise zu Fuß mehrere Tage angereist. Das hat die Leute trotzdem nicht davon abgehalten, dass jeder eine Gabe für den Wallfahrtsort mitgebracht hat – ob Seife, einen Sack voll Reis, Bohnen oder Tee: jeder hat gebracht, was er oder sie sich leisten konnte.
Und weil es bei Weitem nicht genug Schlafplätze für alle Gläubigen gab, haben die meisten einfach unter freiem Himmel geschlafen. Dass die Menschen hier bereit sind, für ihren Glauben so viele Opfer zu bringen, hat mich schwer beeindruckt und berührt. Doch am beeindruckendsten für mich war der Lobpreis der Pilger: So weit das Auge reicht, hat sich ein buntes, wippendes Meer der singenden, tanzenden, klatschenden und jubelnden Menschen erstreckt. Ein Bild, das auch eine der Kamerafrauen und meine Dolmetscherin zu Tränen gerührt hat. In Kibeho habe ich dann ohne Absprache auch noch Kollegen von Radio Horeb getroffen und sogar den Bürgermeister von dem im Allgäu gelegenen Balderschwang, der zuvor schon einen meiner Erfahrungsberichte in unserer lokalen Zeitung gelesen hatte. Das war eine unglaubliche Überraschung für mich und es hat mich sehr gefreut durch die Reisegruppe ein Stück Heimat in Ruanda zu bekommen.
Ruandische Hochzeit: Das Spiel mit den Kühen
Ein zweites Highlight während dieses Jahres war eine ruandisch-burundische Hochzeit, zu der ich mit einem Bekannten gegangen bin, den ich in Kibeho kennengelernt habe. Die Hochzeit hat in einem wunderschön dekorierten großen Zelt stattgefunden.
Erst gab es den traditionellen Teil der Hochzeit, bei dem die Verhandlungen über den Brautpreis nachgespielt werden. Während diesem Teil verhandeln die Väter der beiden Familien spielerisch, wie viele Kühe für die Braut gezahlt werden und die Familien spielen, wie sie einander vorgestellt wurden – so sollen die Traditionen Ruandas hochgehalten werden. (Für die Braut wird auch heute noch bezahlt, aber nicht mehr mit Kühen, sondern mit Geld.) Als der Verhandlungsteil abgeschlossen war, wurde die Braut, die bis dahin noch nicht im Festzelt war, weil sie traditionellerweise auch erst dem Mann nach Abschluss der Verhandlungen übergeben wird, geführt von ihren Brüdern und begleitet von ihren Brautjungfern unter Trommeln zur Gesellschaft geführt. Der Bräutigam hat seine Braut dann empfangen und gemeinsam haben sie sich unter den Festbaldachin gesetzt, der für das Paar bereitet wurde.
Bis zum Mittagessen hat die Trommlergruppe aus Burundi (die burundischen Trommler sind für ihre Aufführungen weltberühmt) ununterbrochen gesungen, getrommelt und getanzt. Ich war ziemlich beeindruckt, wie lange die Trommler durchgehalten haben, vor allem, weil sie während ihren Tänzen immer wieder beachtliche Sprünge in die Luft vollführt haben. Während dem ganzen traditionellen Teil haben Braut und Bräutigam traditionelle Gewänder getragen, die dann erst für die kirchliche Trauung, zu der wir nach dem Mittagessen gefahren sind, in Brautkleid und Anzug getauscht wurden.
Mehr Tradition, weniger Kirche
Mich hat überrascht, wie kurz der Gottesdienst war: nur rund eineinhalb Stunden. Allein sonntags dauert der Gottesdienst oft drei. Und weil in Ruanda eigentlich jedes Paar kirchlich heiratet, werden normalerweise auch drei Paare auf einmal getraut. So auch bei der Hochzeit, zu der ich eingeladen war. Nach dem Trauungsgottesdienst und dem Fotomachen ist die Hochzeitsgesellschaft wieder zurück in das Festzelt gefahren, wo dann die Hochzeitsparty begonnen hat. Es war sehr spannend für mich, mal zu sehen, wie Hochzeiten in einer anderen Kultur gefeiert werden und allein deswegen unvergesslich.
Wenn ich daran denke, dass ich bald wieder am Flughafen stehe um in die andere Richtung zu fliegen, überschlagen sich meine Gefühle: Da ist einerseits Vorfreude auf zu Hause, auch ein bisschen Erleichterung, wieder das Vertraute zu haben, Dankbarkeit für die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, aber andererseits ein bisschen Wehmut, weil ich die Kinder und einige Freunde doch auch vermissen werde – aber vor allem spüre ich erwartungsvolle Spannung, was hinter der nächsten Kurve auf meinem Lebensweg auf mich wartet.
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Text und Fotos: Veronika Wetzel
(SG)