Zum Tod von Papst em. Benedikt XVI.: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen."
Der silberne und der goldene Schlüssel
Regensburg, 31.12.2022
„Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen. (...) Ich gebe Dir die Schlüssel des Himmelreiches (...).“ (Mt 16,18 f.) Mit diesen Worten bestellt Jesus den Ersten der Apostel zu dem Amt, das sich geschichtlich zum Papstamt entwickelt hat. Am 19. April 2005 wurde es dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, drei Tage nach seinem 78. Geburtstag, von den im Konklave versammelten Kardinälen aufgeladen. Sein Träger ist „das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen“ (II. Vat. Konzil, Kirchenkonstitution Lumen gentium 22).
Das offizielle Wappen des Heiligen Stuhls, das jedem Papstwappen zugrunde liegt, nimmt das Bildwort von den Schlüsseln (im Plural) auf. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert werden die beiden Schlüssel in der Heraldik und in der Ikonographie farblich unterschieden: Der eine Schlüssel ist silbern, der andere golden! Was bedeutet das? Im Heiligen Jahr 2000 hat Kardinal Joseph Ratzinger in einer Predigt vor einer Pilgergruppe aus Trier (veröffentlicht in JRGS 14, 1446–1451) dieses Detail des Papstwappens gedeutet. Mir scheint, dass er dabei zugleich das Programm entworfen hat für die Ausübung des Amtes, das ihm fünf Jahre später übertragen werden sollte.
Der silberne Schlüssel – die philosophische Fachsprache hat das Bildwort längst aufgegriffen mit der Rede vom „hermeneutischen Schlüssel“ – steht für die Erkenntnis und damit für die Lehrvollmacht des Papstes, für seine Aufgabe, die Heilige Schrift „aufzuschließen“, den Glauben der Kirche zu deuten, in der Predigt und in den vielen anderen Medien der Verkündigung. Der goldene Schlüssel steht für die Liebe, die Liebe Gottes, der uns zuerst geliebt hat und durch seine Liebe befähigt, selbst liebende Menschen zu werden. Sie wird uns zugewendet vor allem in den Sakramenten der Kirche. Die beiden Schlüssel stehen somit in der Deutung Ratzingers einerseits für die Lehrvollmacht, andererseits für das Hirten- und Priesteramt, das dem Papst als Nachfolger Petri anvertraut ist.
Papst Benedikt war ein Mann des Wortes. Er hat die Kirche geleitet durch die Autorität seines Argumentes und durch die Schlüssigkeit seiner theologischen Ausführungen. Er war ein Jahrhunderttheologe, dessen Werk ungezählten Gläubigen geistliche Nahrung und Stärkung vermittelt, vielen Fragenden und Suchenden den Weg zu Christus und seiner Kirche geebnet und mit der Schönheit seiner Sprache – der „Mozart der Theologie“ – einfach Freude bereitet hat.
Schon mit 32 Jahren auf den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie in Bonn berufen, beeindruckte er den Kölner Erzbischof Frings derart, dass er Ratzinger zu seinem Konzils-Berater erwählte. Durch die Rede-Entwürfe für Kardinal Frings wurde Ratzinger zu einem der einflussreichsten Theologen des Konzils, das er in Vorträgen und Büchern auch unermüdlich kommentierte und erschloss, und das er später gegen einen ominösen „Geist des Konzils jenseits des Buchstabens“ vehement verteidigte. Mit Joseph Ratzinger starb der letzte der maßgeblichen Konzilstheologen und damit auch der authentischen Interpreten. Das Zweite Vatikanische Konzil stehe nicht für einen Bruch, sondern für Weiterentwicklung in Kontinuität mit der Überlieferung.
Seine auf Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten in Tübingen zurückgehende „Einführung in das Christentum“ (1968), in über 20 Sprachen übersetzt, machte ihn endgültig weltweit bekannt. Mir persönlich ebnete die Lektüre der „Einführung“ als Abiturient ganz entscheidend den Weg ins Priesterseminar.
Benedikt XVI. war einer der größten Prediger auf dem Stuhl Petri, und man wird seinen Namen fortan zusammen mit den beiden „Großen“ Leo I. und Gregor I. nennen. Ein Benediktinerabt sagte mir einmal: „Welche Predigten unserer Tage wird man noch in 100 Jahren lesen und zur Betrachtung heranziehen? Die Papst Benedikts!“
Charakteristisch ist die biblische, zumeist Altes und Neues Testament aufeinander beziehende Fundierung. In seinem Haus in Pentling fanden wir das Exemplar einer völlig „zerlesenen“ Ausgabe des Nestle-Aland, also des griechischen Neuen Testaments, das fast auf jeder Seite Anstreichungen und Unterstreichungen mit Bleistift aufweist. Zutiefst vertraut mit der biblischen Botschaft, hat Benedikt sie anderen erschlossen.
Und er blieb als Professor geistlicher Lehrer. Noch als Papst hat er – unter seinem bürgerlichen Namen – eine Jesus-Trilogie verfasst und damit das Messias-Bekenntnis des Apostels Petrus für die Gegenwart ausgelegt: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Mt 16,16)
Wenn der silberne Schlüssel für die „Erkenntnis“ steht, so steht der goldene Schlüssel, so Kardinal Ratzinger in seiner Predigt aus dem Jahr 2000, für die „Liebe“. Vorgängig zu aller Moral (und diese erst begründend) steht im Zentrum der kirchlichen Verkündigung die Liebe Gottes zu den Menschen. „Deus caritas est“, Gott ist die Liebe, so beginnt die programmatische Antrittsenzyklika vom Weihnachtsfest 2005; für viele, die den neuen Papst, aufgrund der völlig verzerrten medialen Darstellung nur als unnachgiebigen „Panzerkardinal“ wahrgenommen hatten, sicher eine neue Erfahrung. Diese Liebe Gottes ist in Jesus Christus konkret. Offenbarung ist nicht in erster Linie Mitteilung von Satzwahrheiten, sondern geschichtliche Begegnung, bezeugt im Leben der Kirche, die schließlich die Schrift hervorbringt. Ihr antwortet der Mensch in Glaube, Hoffnung und Liebe. Die päpstliche Verkündigung sollte dementsprechend die Enzykliken-Trilogie „Deus caritas est“ (2005), „Spe salvi“ (2007), und „Lumen fidei“ (unvollendet, von Papst Franziskus 2013 veröffentlicht) umfassen. Die Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009) über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit, in der er die Liebe auch als wichtigstes Prinzip der Soziallehre der Kirche lehrte, kann als praktische Auswirkung eines Lebens aus den göttlichen Tugenden für die Gestaltung der Gesellschaft verstanden werden.
Die Liebe Gottes, die in Jesus Christus ein Gesicht, einen Namen, ein menschliches Herz bekommen hat, wird dem Menschen zugewandt in den Sakramenten der Kirche. „Vorsitz in der Liebe“ (gemeint ist hier die „agape“, die Eucharistie), dieser schon von Ignatius von Antiochien (gest. vor 117) auf die Kirche von Rom angewandte Titel bezeugt die Kirche als Netz von Eucharistie-Gemeinschaften, in der der eine Leib Christi gegenwärtig wird zur Auferbauung der Kirche. Ihre Einheit wird durch die Communio mit der Kirche Roms gewährleistet. Als erster Priester ist der Papst beauftragt und bevollmächtigt, den Schatz der göttlichen Liebe aufzuschließen und den Gläubigen zuzuwenden.
„Im Umgang mit der Liturgie entscheidet sich das Geschick von Glaube und Kirche“, so die Überzeugung Benedikts. Die Ausgabe seines wissenschaftlichen Werkes wollte der Papst – eine der wenigen editorischen Vorgaben – mit den Schriften zur Theologie der Liturgie eröffnen! Die Würde und Schönheit der Liturgie, aber auch ihre Unverfügbarkeit wurden ihm mehr und mehr zum Anliegen. Über seinen Bruder Georg, seit 1964 Domkapellmeister in Regensburg, war er auch an den Fragen der Kirchenmusik interessiert, deren Glanz und Schönheit wesentlich zur Darstellung und Vermittlung der Liebe Gottes in der Liturgie gehören und deren Pflege auf höchstem Niveau alle Sorgfalt verdient.
Die Predigt vom Juni 2000 im Petersdom endete mit den Worten: „Der silberne und der goldene Schlüssel: Glaube und Liebe, das sind die Schlüssel zum lebendigen Gott. Bitten wir den Herrn an diesem Tag, dass er uns schenkt, diese Schlüssel nicht zu verlieren und dass er uns hilft, sie anderen in die Hand zu drücken, damit wir alle bei unserem Vater im Himmel einmal die Türen offen finden.“ Wir beten für Papst emeritus, dass ihm jetzt die Tür zum Vaterhaus offensteht und er eingehen darf in die Freude seines Herrn.
Dr. Rudolf Voderholzer,
Bischof von Regensburg