„West und Ost – und das Ganze Europa“ - 400 Gäste beim 6. Domforum mit Péter Kardinal Erdö in Regensburg
Am gestrigen Abend veranstaltete das Bistum Regensburg zum sechsten Mal die Vortragsreihe „Domforum“ in der Kathedrale St. Peter. Als Gastredner sprach Péter Kardinal Erdö, Erzbischof von Budapest, Primas von Ungarn und Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen vor rund 400 Gästen zum Thema „West und Ost – das Ganze Europa“. In seiner Begrüßung hob Bischof Gerhard Ludwig Müller, der im Jahr 2005 die Veranstaltung ins Leben gerufen hatte, hervor, dass sich das „Domforum“ seit Jahren zur Aufgabe gemacht habe, der Frage nachzugehen, aus welchen Quellen das christliche Europa schöpfe. Mit Péter Kardinal Erdö, den der Regensburger Oberhirte bereits seit Jahren kennt, habe man einen Referenten gefunden, der passend zum 20. Jahrestag nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ das Verhältnis von Gottesglauben und Menschenverständnis im östlichen Europa fundiert erörtern könne. Die Regensburger Domspatzen unter der Leitung von Domkapellmeister Roland Büchner gestalteten das Domforum musikalisch.
Lesen Sie hier den Vortrag von Péter Kardinal Erdö im Wortlaut:
Exzellenz, Lieber Herr Bischof!
Liebe Mitbrüder im priesterlichen Amt!
Liebe Brüder und Schwestern!
1.
Ich bedanke mich herzlich für die Einladung hier, in Regensburg über Europa zu sprechen. Der Anlass liegt nahe: vor 20 Jahren hat man den sogenannten „Eisernen Vorhang“ durchgebrochen, genauer gesagt den Stacheldraht an der österreichisch-ungarischen Grenze durchgeschnitten. Unsicher waren damals die Gemüter. Man wusste nicht, was noch bevorsteht. Es waren nicht die Völker, die die Änderung herausgekämpft haben. Man schaute die weltgeschichtlichen Änderungen mit Freude und Angst. Nicht wenige Christen haben gedacht: „So groß ist die göttliche Vorsehung“. Die sowjetische Armee war noch in Ost-Mitteleuropa fast überall anwesend. In Ungarn, zum Beispiel, bis Juli 1991. Wenn man heute zurückfragt: warum die Änderung nicht sauberer und folgerichtiger durchgeführt wurde, vergisst man oft die realen Kräfteverhältnisse der damaligen Stunde. Oft irreale Erwartungen wurden gestellt. Es gab ja kaum jemand in den ehemaligen sozialistischen Ländern, in den Gesellschaften, die vierzig- bis siebzig Jahre Kommunismus erlebten, kaum jemand also der von den westlichen Demokratien nicht die Lösung aller oder fast aller Probleme erwartet hätte. Und es gab sicher kaum jemand, der in den westlichen Ländern eine realistische Vorstellung über die wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle Situation, über die oft erstaunliche Feinheit und hohe Qualifikation einiger Intellektuellen und über die extreme Ohnmächtigkeit und Wehrlosigkeit der Gesellschaften den wilden Kräften des Marktes gegenüber gehabt hätte.
Schon das Schema „Ost und West“ war eine zu grobe, zu oberflächliche Vorstellung. Zu ephemär und zu politisch inspiriert. Als ob die bloße Tatsache dass die Siegermächte die Hälfte des Kontinentes der Sowjetunion zugeteilt haben, aus allen diesen Völkern eine homogene Größe gemacht hätte. Wenn Europa selbst nicht nur ein geographischer, sondern eben ein kultureller Begriff ist, dasselbe muss man über Ost- und Westeuropa sagen. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems waren viele überrascht, als ein mörderischer Krieg in Ex-Jugoslawien ausgebrochen war. Jugoslawien galt ja seit langem als das liberalste Land der sozialistischen Welt. Amerikanische Freunde haben mich damals gefragt: worum geht es eigentlich in Jugoslawien? Dann musste ich ganz spontan antworten: um die Linie, die einmal Kaiser Diokletian zwischen den östlichen und den westlichen Teil des Römischen Reiches gezogen hat. Und schon damals war die Entscheidung, keine bloße Willkür eines mächtigen Herrschers, sondern sie hatte ihre geschichtlichen und kulturellen Vorbedingungen.
In der ehemaligen kommunistischen Welt exsistierte vor allem eine ältere kulturelle Grenze zwischen den mitteleuropäischen Völkern lateinischer Kultur und den byzantinisch geprägten Völkern Ost- und Südosteuropas.
2.
Wenn wir heute sagen wollen, dass Ost- und Westeuropa ein Ganzes bilden, ist dies nicht nur ein Ausdruck der Höflichkeit, sondern bedeutet, dass die verschiedenen Teile des Kontinentes komplementär sind, einander benötigen und voraussetzen. Prophetisch sprach Johannes Paul II. über die zwei Lungen Europas und auch über den Austausch der Gaben zwischen den beiden Teilen des Kontinentes . An der ersten Spezialversammlung der Bischofssynode für Europa hat Johannes Paul II. über diesen Austausch der Gaben in zwei verschiedenen Bedeutungen gesprochen. Erstens, bezüglich der Vergangenheit: Man muss untersuchen, welche Gaben die Kirchen von der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs den westlichen Kirchen anbieten können und welche umgekehrt von den westlichen Schwesterkirchen den Kirchen des ehemaligen Ostens gegeben werden. Wieviel wert sind diese Erfahrungen für die Weltkirche?
Zweitens, bezüglich der Zukunft: Wie kann man diesen Austausch der Gaben für die Mission der Kirche in Europa weiter entwickeln, wie kann man davon Gebrauch machen für die Neuevangelisierung an der Schwelle des dritten Jahrtausends? Beide Fragen waren schwer und beide sind bis heute nur zum Teil beantwortet.
3.
Was den Austausch der Gaben und der Erfahrungen der Vergangenheit betrifft, kann man sagen, dass der Austausch manchmal euphorisch, aber immer ziemlich mangelhaft war. Die Katholiken der ehemaligen sozialistischen Länder haben ökonomische Unterstützungen erwartet. Von den deutschen Christen haben sie tatsächlich viel bekommen. Dafür sind wir auch heute sehr dankbar. In den Ländern, die nicht zur Sowjetunion gehörten, war aber die Überzeugung ziemlich weit verbreitet, dass unser kirchliches Leben irgendwie noch immer gesunder, also besser ist, als die kirchliche Praxis der westlichen Länder. Man hörte ja die Nachrichten über Phänomene der Kontestation in der nachkonziliaren Zeit, und man nahm Anstoß daran. Manchmal war man zum Gegenteil bereit, im Gespräch mit westlichen Katholiken feierlich zu bekennen, dass man eben die Erfahrungen der Erneuerung der Kirche in Westen sehr hochschätzt, man wusste aber nicht genau, was man dort für so beispielhaft anerkennt. Teilweise Oberflächlichkeit, teilweise aber die Hoffnung, weitere finanzielle Unterstützungen zu bekommen, waren im Spiel. Anders war die Lage in den Gemeinschaften, die in der Sowjetunion lebten, oder die in ihrer Heimat gänzlich verboten waren, wie die griechisch-katholische Kirche in Rumänien und in der Tschechoslowakei. Diese Gemeinschaften waren soweit unterdrückt, dass sie viele Elemente ihrer eigenen Identität von den Ausländern wieder erlernen mussten. Ich war selbst dabei, als ein italienischer Fachmann einigen griechisch-katholischen Priestern von Osteuropa ihre eigene Liturgie unterrichtete. Und er nahm nachher sicherheitshalber als Assistent auch an der feierlichen Liturgie teil.
Im Westen betrachtete man die Christen des östlichen Teils des Kontinentes manchmal sehr romantisch. Es gab ein heroisches Bild über die verfolgte Kirche. Dieses Bild stimmte im Wesentlichen. Aber erst jetzt wird allmählich klar, wie viele gelitten haben, wie viele Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien wurden für ihren Glauben getötet, gequält, zu Zwangsarbeit oder Gefängnis verurteilt, wie viele Intellektuelle standen unter Berufsverbot, welche Demütigungen und Benachteiligungen gehörten zum Alltag der Gläubigen. Die Vielfalt der Situationen wird nur in der letzten Zeit mit Publikationen von großen Forschungen stufenweise bekannt. Es gibt eine lange Reihe von Kleinigkeiten, die man oft nicht einmal erzählt. Wir, zum Beispiel, in Budapest, als Kinder, waren in der Grundschule keine Pioniere. Mein Vater hat nämlich gesagt: es ist schon das Vorzimmer der kommunistischen Jugendbewegung. Wir durften also nicht eintreten. Dies war die Überzeugung unserer Eltern. Und meine Eltern konnten ihren Beruf schon lange nicht ausüben, also vor kleineren Unannehmlichkeiten am Arbeitsplatz fürchteten sie sich nicht mehr. Gefängnis aber bedrohte sie nicht, wegen der bloßen Tatsache, dass wir nicht Pioniere waren. Aber das alles hatte zur Folge, dass wir in allen Schulfeiern in der Ecke standen mit zwei-drei anderen Kindern, die aus der Pionierbewegung ausgeschlossen wurden, weil sie gestohlen haben, oder den Mitgliedsbeitrag nicht bezahlen wollten. Die Anderen hatten Uniform an, wir nicht. Die waren die aktiven Teilnehmer, wir nicht. Und ich habe es für natürlich gefunden. Ähnlich geschah es mit dem Religionsunterricht. Als der Priester, der in der zweiten Klasse der Grundschule die Religionsstunde gehalten hat, verhaftet wurde, hörte der Religionsunterricht in der Schule auf. Man konnte aber an einer Religionsstunde an einer Pfarrei teilnehmen. Freilich am Nachmittag. Und das haben wir auch einigermaßen für natürlich gefunden. Einmal fragte die Lehrerin: Wer geht zur Religionsstunde in eine Kirche? Drei-vier Kinder hatten sich gemeldet. Ich auch. Dann sagte sie: Ihr seid die Dümmsten der Klasse. Ein guter Schüler geht nicht zur Katechese. Das habe ich aber nicht verstanden: wieso dass ich der Dümmste bin? Ich habe ja die besten Noten. Und weinend ging ich in der Pause zu dieser Lehrerin. Hat man vielleicht etwas missverstanden? Dann sagte sie: lass’ mal, ich sprach nicht über dich. Bis dann war sie meine Lieblingslehrerin.
Nicht die kleinen Nuancen sind in diesen Geschichten bemerkenswert, sondern eher die Tatsache, dass wir eine ganze Reihe von Diskriminierungen und Demütigungen für natürlich gefunden haben, weil wir dagegen nichts tun konnten. Und es lag auf der Hand, dass dies der Preis des Glaubens ist. Vor dem Abitur bei den Piaristen, die das einzige katholische Bubengymnasium in Budapest geführt haben, wussten wir genau, dass man nur an technischen und naturwissenschaftlichen Fächern weiterstudieren kann.
Also: keine Humanwissenschaften, kein Recht, keine Ökonomie, keine Medizin. Wir sind ja unzuverlässig. Natürlich. Viel später habe ich im berühmten Auschwitz-Roman des ungarischen Nobelpreisträgers, Imre Kertész mit Befremden gelesen, dass er in der Erzählung seiner Jugenderlebnisse in den Konzentrationslagern immer wieder und wieder das Wort „natürlich“ gebraucht. Für Situationen, die überhaupt nicht natürlich waren. Es lebt im Menschen ein Abwehrmechanismus. Es ist nicht die unbewusste Annahme des Absurden, sondern eben eine Voraussetzung dafür, dass man auch unter schlechten Verhältnissen innerlich überleben kann. Ein alter Ordenspriester der lange Jahre in den GULAG der Sowjetunion gefangen war, hat einige Verhaltensregeln für das Überleben ausgearbeitet. Unter anderen schrieb er: man darf nicht ständig an die Ungerechtigkeit denken und sagen: Wir sind unschuldig, und die Gefängniswächter, die sind alle schlecht. Und man muss Dinge und Situationen finden, worüber man lachen kann.
Über die vielfältigen, persönlichen und psychologischen Erfahrungen hinaus hatte die Katholische Kirche auch eine ganze Reihe von kollektiven, institutionellen Erfahrungen. Im Westen sprach man oft über die Kirche des Schweigens, manchmal über die Untergrundkirche, über geheime Priester und Bischöfe, über geheime Seminare und Ordensgemeinschaften. Man konnte aber nicht immer richtig verstehen, dass Pfarreien und Organe der katholischen Hierarchie in den meisten Ostblockländern, sogar teilweise auch in der Sowjetunion, nicht aber in Albanien, überlebten und irgendwie funktionierten. Am Ende der siebziger Jahre hat ein englischer Katholik in Budapest mit Erstaunen gefragt: Gibt es hier offene katholische Kirchen? Das hätte ich nicht gedacht – sagte er. Andererseits fragte einmal ein westdeutscher Prälat von der „Pax Christi“- Bewegung einen ungarischen Kaplan: Warum seid ihr so unzufrieden mit dem Sozialismus, die Kirche hat ja einige Probleme auch in der westlichen Welt.
Das Verständnis für die Realität und die Kenntnis dieser Realität des östlichen Teiles des Kontinentes war in Westeuropa sehr mangelhaft. Schuld daran waren sicher die systematische Desinformation der sozialistischen Regime, aber auch die eigenen Interessen der westlichen Politiker, Gruppen und Strömungen.
Bis heute lebt weit und breit ein anderes schematisches Bild, nach dem die Katholiken der kommunistischen Zeit entweder Märtyrer oder Kollaborateure waren. Schon mit dem „entweder-oder“ ist etwas nicht in Ordnung, und vor allen Dingen, es gab sehr, sehr viele gute Priester und gläubige Laien, die keine politische Vorkämpfer werden wollten, die aber nach ihren Glauben lebten, und diesen Glauben weitergegeben haben. Die waren unsere Väter im Glauben.
Die institutionellen Erfahrungen zeigen auch die innere Spannung zwischen den institutionellen Bedürfnissen einer trotz allem legal-existierenden Organisation, wie die Katholische Kirche auch in jener Zeit war, und der Souveränität dieser Kirche, die auch gewissermaßen unabhängig von der Staatsgewalt gelten musste. Unter den bischöflichen und priesterlichen Märtyrern dieser Zeit gab es nicht wenige Kirchenrechtler und Verantwortliche der kirchlichen Leitung. Sie suchten und fanden die rechtlichen Lösungen für schwierige, außerordentliche Situationen, wo es darum ging, vom feindseligen Staat irgendwie doch geduldet zu werden, und gleichzeitig die kirchliche Legitimität zu bewahren. In einigen außerordentlichen Situationen forderten aber die kommunistischen Behörden ganz bewusst, dass Priester oder Bischöfe eben kirchenrechtlich illegal vorgehen. Andererseits die Erfahrungen mit den geheimen Ordinarien in der lateinischen Kirche in Rumänien in den fünfziger Jahren, oder mit den geheimen Ordinationen in der Tschechoslowakei, wo die Legitimität der meisten regimefreundlichen Kapitelsvikare vom Heiligen Stuhl nicht dementiert wurde, sondern sie wurden aufgrund der Rechtsvermutung einer formell vielleicht scheinbar gütigen Wahl geduldet - das alles hat gezeigt, dass die gänzlich geheime Leitung einer öffentlich funktionierenden Institution praktisch nicht lange möglich ist. Es gab jedoch eine ganze Reihe von Erfahrungen mit Rechtsvermutungen, Dispensen oder Anwendung der allgemeinen Prinzipien des kirchlichen Rechtes, die in schwierigen Situationen eine Lösung ermöglichten. Man musste zum Beispiel feststellen, welche Aufgaben der Bischofskonferenz von den einzelnen Bischöfen wahrgenommen werden können, und welche direkt dem Apostolischen Stuhl gehören, wenn die Bischofskonferenz nicht existieren kann.
Aufgrund von vielen solchen Erfahrungen hat man gefragt, ob man auch in der Kirche eine rechtliche Regelung des Ausnahmezustandes hat. Viele solche Möglichkeiten wurden gesammelt. In der Weltkirche waren früher die Regeln des außerordentlichen Zustandes nur für die Zeit der großen Epidemien systematisch untersucht. Für andere Ausnahmesituationen war neuerdings im Westen kein besonderes Interesse da. Diese Erfahrungen können aber bis jetzt eine der Gaben sein, die die Kirche des östlichen Teiles des Kontinentes anzubieten hat.
Andere Werte waren in den Augen der westlichen Katholiken die manchmal romantisch betrachtete, byzantinische Spiritualität, die Ikonenmalerei, die Musik usw. Einige haben auch eine ganz starke, traditionelle Religiosität von Osten erwartet. In bestimmten Ländern war diese Frömmigkeit tatsächlich da. In anderen Ländern aber war die Säkularisierung sogar viel größer als im Westen. Dies zeigt wieder einmal, dass das sogenannte „Osteuropa“ nie homogen war.
Die Erfahrungen der westeuropäischen Kirchen in Kultur, Wissenschaft, Organisation der verschiedenen Institutionen, die guten und schlechten Entwicklungen seit dem letzten ökumenischen Konzil gehörten zu den Gaben der westlichen Kirche. Und noch etwas: es kamen besonders viele geistliche Bewegungen vom Westen in die Osteuropäischen Länder. Ihre Zahl war viel höher als die Zahl der in Osteuropa erstandenen ähnlichen Bewegungen. Und trotz aller Fragen, die diese Bewegungen manchmal stellen, sie gaben sehr wertvolle Impulse an das kirchliche Leben in ganz Europa. Heutzutage gehören sie zu den verbindenden Kräften des Kontinentes.
4.
Aber schauen wir nicht nur in die Vergangenheit! Johannes Paul II. spricht auch über die Zukunft. Wie können wir in der gemeinsamen Mission der Kirche für die Neuevangelisierung in Europa zusammenarbeiten? Darauf ergeben sich viele Antworten und Erfahrungen.
Zuerst einmal muss man aufrichtig feststellen, dass sich die Weltkirche nach der Wende in Osteuropa neu organisiert hat. Die institutionellen Wegweisungen des II. Vatikanischen Konzils, die in der kommunistischen Welt nirgendwo gänzlich in die Praxis umgesetzt werden konnten, wurden in den letzten zwanzig Jahren großzügig verwirklicht. Für die institutionelle Entwicklung war die Feststellung des Dekrets Christus Dominus grundlegend, über die universale Kirche, die immer die ursprüngliche und grundlegende Größe bleibt, die sich aber in den Teilkirchen wiederspiegelt und vervielfacht. Diese Teilkirchen sind wahre Gemeinschaften der Gläubigen mit eigenem Presbyterium unter der Leitung eines Bischofs als eigenen Hirten. Die Kirche als Volk Gottes und Fortsetzerin des Werkes ihres göttlichen Gründers, konnte und sollte sich verjüngen, auch in ihren Organisationsstrukturen. Die Priesterräte, das stärkere Bewusstsein des eigenen Dienstes der Bischöfe, die Bischofskonferenzen, die auch gesamtkirchliche Mission der Bischöfe – all dies sind Elemente dieser erneuerten Vision.
Wenn das letzte ökumenische Konzil gewünscht hat, dass die Diözesen eine vernünftige Größe haben und dass die Zentren des Lebens der Menschen berücksichtigt werden, eben weil die Mission der Kirche zum heutigen Menschen gerichtet ist, so musste man auch die Diözesangrenzen neu gestalten. Die Änderungen der Diözesangrenzen und die Neugründungen von Diözesen und Kirchenprovinzen, sogar von ganzen Bischofskonferenzen, waren in Osteuropa nach der Wende viel häufiger als im Westen. In diesem Sinne hat die Kirche in Ost-Mitteleuropa die Richtlinien des II. Vatikanischen Konzils viel gründlicher und konsequenter befolgt, als anderswo, wo Konkordate und gesellschaftliche Traditionen die Durchführung der pastoralen Sichtweise des Konzils nicht in solchem Umfang ermöglichten.
Es gibt kontinentale Organisationen der Bischofskonferenzen, der Ordensoberen und verschiedener katholischer Organisationen. Zu diesen Organisationen gehören ja Bischöfe, Ordensleute und Fachstrukturen von Ost und West. Dies sind also hervorragende Mittel der geistlichen und kirchlichen Einheit. Es ist natürlich manchmal eine verschiedene Realität, die die gleichen Namen in den verschiedenen Ländern decken. In Mittel- und Osteuropa tragen auch die neugegründeten demokratischen Parteien oft dieselben Namen, wie die westlichen Parteien, die zum selben Verband gehören. Man musste ja nach der Wende gleich zu irgendeiner internationalen Gruppe gehören. Aber die tatsächliche Gliederung der Gesellschaft in Osteuropa ist manchmal ganz anders als im Westen. Die nominelle Identität verdeckt oft einen wesentlichen Unterschied.
Einen weiteren Schritt des Zusammenwachsens stellte der Beitritt vieler neuer Länder in die Europäische Union dar. Man hat oft gehört: „Was zusammengehört, muss zusammenwachsen“. All dies ist aber gar nicht so einfach. Die Mechanismen der kollektiven Interessenverteidigung sind in den früheren Ostblockländern viel schwächer als im Westen. Die Prinzipien der freien Wirtschaft können sehr rasch zu großen Ungerechtigkeiten führen. Nicht wenige Osteuropäer fühlen sich kolonisiert. Das Christentum in Westeuropa hat ganz stark dazu beigetragen, dass die Marktwirtschaft einen stärkeren sozialen Charakter hat, als anderswo in der Welt. Eben dieser soziale Zug ist in Osteuropa nicht spürbar. Darum spricht man oft in diesen Ländern über wilden Kapitalismus. Dabei hat nicht nur die christliche Soziallehre, sondern ganz stark auch die organisierte, gemeinsame Arbeit von vielen mündigen Christinnen und Christen eine sehr wichtige Funktion. Und dabei ist die Mitwirkung der Westeuropäischen Christen schlechterdings notwendig.
Die Evangelisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft ist also eine gemeinsame Mission. Eben jetzt in der Zeit der Europa-Wahlen haben die Christen – auch wenn nicht in ganz Europa, aber jedoch in der ganzen Europäischen Union – ein Dilemma vor sich gehabt. In den letzten Jahren erfuhren die Bürger der neuen Mitgliedsländer mit Besorgnis, dass die christlichen Werte und der christliche Glaube im offiziellen Europa nicht besonders willkommen sind. Nicht wenige stellten sogar die Frage, ob man wirklich noch Chancen hat, diese Werte gemeinsam zur Geltung zu bringen. Aber eben die Erfahrungen der früheren Jahrzehnte machen deutlich, dass die Christen doch moralisch verpflichtet sind – jeder an seiner eigenen Stelle -, dafür zu arbeiten, dass diese Werte auch in der Gesellschaft verteidigt und gefördert werden. Wenn gläubige Christen die Werte ihrer Weltanschauung auch in der europäischen Politik verwirklicht sehen wollen, dann müssen sie sich engagieren. Man muss selbstbewusst versuchen, im demokratischen Rahmen die eigene Überzeugung zur Geltung zu bringen. Wir leben in demokratischen Strukturen, die von Manipulationen doch nicht gänzlich zerstört wurden. Die Stimme des Einzelnen zählt. Im Kommunismus haben wir erlebt, dass es auch anders sein kann. Man soll die Möglichkeiten wahrnehmen, die tatsächlich da sind.
Zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Teilung Europas in den Köpfen noch nicht ganz überwunden. Darüber reflektieren wir in der Europäischen Bischofskonferenz viel. Der Übergang zur Demokratie war in den meisten Ländern des Ostens 1989 mehr oder weniger friedlich. Es fehlte aber in der Folge an der entsprechenden Aufarbeitung des Kommunismus. Die Situation war ähnlich wie in Süd-Afrika nach der Apartheid. Das heißt, die Gesellschaft ist unversöhnt mit ihrer Vergangenheit. Es gibt vor allem aber ein moralisches Vakuum, nicht zuletzt, weil die vom Staat verordnete Säkularisation noch immer nachwirkt. Die marxistische Ideologie ist vorbei, aber es gibt ein Vakuum im Bereich der Weltanschauung. Die Versuchung der allgemeinen Kriminalisierung ist deshalb insgesamt sehr groß.
Während man in einer gut Etablierten bürgerlichen Gesellschaft mit dem normalen Anstand rechnen kann, ist es in der ehemals kommunistischen Welt anders. Korruption gibt es im Westen auch. Aber sie ist anders als im Osten Europas gesellschaftlich geächtet. Der Staat lebt aber von der moralischen Gesinnung seiner Bürger. Man kann ja nicht hinter jedem einen Polizisten aufstellen.
Hinsichtlich unserer gemeinsamen Aufgaben muss man auch anmerken, dass die Passivität bezüglich des öffentlichen Lebens ziemlich stark verbreitet ist in den europäischen Ländern. Das Leben ist um uns herum zu kompliziert geworden. Man spürt oft nicht, dass die Träger der öffentlichen Verantwortung die Wünsche und Interessen der Menschen vertreten. Man kann von den Parlamenten sicherlich nicht erwarten, dass sie den religiösen Indifferentismus ändern, solange diese Einstellung für sehr viele Europäer typisch ist. Die Mission bleibt also eine dringende Aufgabe.
Und eben dies ist eine der schönsten gemeinsamen Erfahrungen. Johannes Paul II. hat vor dem großen Millennium die Mission in der Stadt Rom angefangen. Aufgrund dieser Mission haben mehrere europäische Bischöfe eine gemeinsame Mission von mehreren europäischen Großstädten organisiert. Wien, Paris, Lissabon, Brüssel und Budapest haben nicht nur nacheinander ihre Stadtmissionen organisiert, sondern sie haben viele Programme gemeinsam durchgeführt. Es war eine großartige Erfahrung der Gemeinschaft im Gebet, im Glauben und in der Evangelisierung. In Budapest ist davon sehr viel Positives geblieben. Religiöse Konzerte für die Jugend werden seither jedes Jahr organisiert. In jedem September haben wir die Woche der christlichen Kunst. In den Pfarreien wurde die freiwillige soziale Arbeit der Jugendlichen belebt. Auch im Bereich der Pastoral der Roma-Minderheit sieht man ermutigende Entwicklungen.
Mit Freude habe ich gehört, dass im Monat Mai eine Stadtmission auch hier in Regensburg durchgeführt wurde. Mit Grund kann man auch hier auf bleibende, positive Effekte hoffen. Es ist also eine reale Möglichkeit, dass wir europaweit vieles gemeinsam tun und nicht nur gemeinsam besprechen.
So erfüllt sich mit praktischer Bedeutung was Papst Benedikt XVI. über Europa lehrt: Unser Kontinent ist viel mehr als ein geopolitischer Raum oder ein gemeinsamer Markt. Europa ist eine spirituelle und kulturelle Größe die aus ihren christlichen Wurzeln lebt.