Von Domkapitular Dr. Josef Kreiml
Was ist wichtig für mein Leben? Was soll ich aus meinem Leben machen? Wie kann ich mich selbst verwirklichen? Gibt es so etwas wie eine Berufung für mich? Welchen Weg hat Gott für mich vorgesehen? Solche Fragen treiben Menschen um. Josef von Nazaret hat vielleicht ähnliche Überlegungen angestellt. Er war gewiss tief im Glauben seines Volkes verankert und war ein Mann des Gebetes. Er hat seine Berufung in der Ehe mit Maria gesehen. Und dann kam für beide vieles ganz anders. Es gab für Maria und Josef Überraschungen. Gott hatte einen besonderen Plan für beide. Durch den Boten Gottes haben sie davon erfahren. Sie brauchten eine Weile, um diesen Weg, den Gott ihnen aufgezeigt hat, zu erkennen. Als ihnen ihre von Gott gegebene Berufung klar geworden war, haben beide bereitwillig „ja“ dazu gesagt.
In den Äußerungen der Päpste nimmt außer der Gottesmutter kein Heiliger so viel Platz ein wie ihr Bräutigam. Papst Pius IX. hat ihn am 8. Dezember 1870 zum Schutzpatron der ganzen Kirche erhoben. Anlässlich des 150. Jahrestages dieses Ereignisses verfasste Papst Franziskus am 8. Dezember 2020 das Apostolische Schreiben „Patris corde“ („Mit väterlichem Herzen“) und rief ein „Jahr des heiligen Josef“ aus. Papst Pius XII. hat den heiligen Josef 1955 zum „Patron der Arbeiter“ ernannt und Papst Johannes Paul II. hat ihn als „Beschützer des Erlösers“ (Enzyklika „Redemptoris custos“ vom 15. August 1989) bezeichnet. Papst Franziskus nennt den heiligen Josef eine „außergewöhnliche Gestalt“, die jedem von uns „menschlich nahe“ ist. Mit seinem Apostolischen Schreiben verfolgt der Papst das Ziel, „die Liebe zu diesem großen Heiligen zu fördern und einen Anstoß zu geben, ihn um seine Fürsprache anzurufen und seine Tugenden und seine Tatkraft nachzuahmen“. Die Heiligen helfen den Gläubigen bei ihrem „Streben nach Heiligkeit und ihrem Stand entsprechender Vollkommenheit“ (Zweites Vatikanum, Lumen gentium, Nr. 42). Ihr Leben ist ein konkreter Beweis dafür, dass es möglich ist, das Evangelium zu leben.
In den Monaten der Pandemie ist – so der Papst – in ihm die Absicht gereift, „einige persönliche Überlegungen“ über den heiligen Josef mitzuteilen. In diesen Monaten konnten wir erleben, dass unser Leben von gewöhnlichen Menschen „gestaltet und erhalten wird, die weder in den Schlagzeilen der Zeitungen noch sonst im Rampenlicht der neuesten Show stehen, die aber heute zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte schreiben“. Alle können im heiligen Josef, diesem „unauffälligen Mann, diesem Menschen der täglichen, diskreten und verborgenen Gegenwart, einen Fürsprecher, Helfer und Führer in schwierigen Zeiten finden“. Der Bräutigam der Gottesmutter erinnert uns daran, dass jene, die scheinbar im Verborgenen oder in der „zweiten Reihe“ stehen, in der Heilsgeschichte „eine unvergleichliche Hauptrolle spielen“.
Die Vaterschaft des heiligen Josef drückt sich – so Papst Paul VI. in einer Predigt vom 19. März 1966 – darin aus, dass er sein Leben „zu einem Dienst, zu einem Opfer an das Geheimnis der Menschwerdung und an den damit verbundenen Erlösungsauftrag gemacht hat“. Sich selbst, sein Leben und seine Arbeit gab er ganz für die heilige Familie hin. Aufgrund seiner Aufgabe in der Heilsgeschichte wurde der heilige Josef von den Christen „seit jeher geliebt“. Weltweit sind ihm zahlreiche Kirchen geweiht; viele Ordensgemeinschaften und kirchliche Gruppen sind von seinem Geist inspiriert. Viele heilige Frauen – wie Theresia von Avila – und Männer verehrten ihn leidenschaftlich.
Der Glaube an Gott bedeutet auch – so lehrt uns der heilige Josef –, daran zu glauben, dass Gott auch durch unsere Ängste, unsere Zerbrechlichkeit und unsere Schwäche wirken kann. Im Blick auf den Bräutigam der Gottesmutter gewinnen wir die Gewissheit, dass wir „uns inmitten der Stürme des Lebens nicht davor fürchten müssen, das Ruder unseres Bootes Gott zu überlassen“. Manchmal wollen wir alles kontrollieren, aber Gott hat einen umfassenderen Blick.
Vater im Gehorsam und im Annehmen
In unserer Welt, in der die psychische, verbale und physische Gewalt gegenüber Frauen offenkundig ist, stellt sich der heilige Josef – so der Papst in einer Predigt vom 8. September 2017 – als „Gestalt eines respektvollen und feinfühligen Mannes“ dar. Das geistliche Leben des heiligen Josef ist nicht ein Weg, der „erklärt“, sondern ein Weg, der „annimmt“. Nur von dieser Annahme, von dieser Versöhnung her können auch wir in vielem einen tieferen Sinn erahnen. Josef von Nazaret ist kein passiv resignierter Mann, sondern handelt mutig und stark. Die Fähigkeit, etwas annehmen zu können, ist eine Weise, wie sich die vom Heiligen Geist kommende Gabe der Stärke in unserem Leben offenbart.
Vater mit kreativem Mut
Bei der Lektüre der „Kindheitsevangelien“ kann man den Eindruck gewinnen, dass die Welt den Starken und Mächtigen ausgeliefert ist. Warum schreitet Gott nicht direkt und klar ein? Er wirkt – so der Papst – „durch Ereignisse und Menschen“. Durch Josef trägt Gott für die Anfänge der Erlösungsgeschichte Sorge. Der „Beschützer des Erlösers“ ist das wahre „Wunder“, durch das Gott das Kind und seine Mutter rettet. Der Himmel greift ein, indem er auf den kreativen Mut dieses Mannes vertraut. Die „gute Nachricht“ des Evangeliums besteht darin zu zeigen, wie Gott trotz der Arroganz und Gewalt der irdischen Herrscher immer einen Weg findet, seinen Heilsplan zu verwirklichen. Auch unser Leben scheint manchmal starken Mächten ausgeliefert zu sein. Doch das Evangeliums sagt uns, dass es Gott immer gelingt, zu retten, „vorausgesetzt, dass wir den gleichen kreativen Mut aufbringen wie der Zimmermann von Nazaret“. Dieser hat es verstanden, ein Problem in eine Chance zu verwandeln – dadurch, dass er auf Gottes Vorsehung vertraute.
Wir müssen uns immer fragen, ob wir Jesus und Maria, die auf geheimnisvolle Weise unserer Verantwortung und Fürsorge anvertraut sind, mit all unseren Kräften behüten. Der Sohn Gottes kommt als schwaches Kind in die Welt. „Er macht sich von Josef abhängig, um verteidigt, geschützt, gepflegt und erzogen zu werden. Gott vertraut diesem Mann, ebenso wie Maria, die in Josef denjenigen findet, der nicht nur ihr Leben retten will, sondern der immer für sie und das Kind sorgen wird.“ Insofern ist es nur folgerichtig, dass der heilige Josef zum Schutzpatron der Kirche erhoben wurde. Denn die Kirche ist die Ausdehnung des Leibes Christi in der Geschichte, und gleichzeitig ist in der Mutterschaft der Kirche die Mutterschaft Marias angedeutet. Josef, der Patron der Kirche, beschützt weiterhin das Kind und seine Mutter. Und indem wir die Kirche lieben, lieben auch wir das Kind und seine Mutter.
Jeder Bedürftige, Arme, Leidende, Sterbende, Fremde, Gefangene und Kranke ist „das Kind“. Deshalb wird der heilige Josef als Beschützer der Elenden, Bedürftigen, Verbannten, Bedrängten, Armen und Sterbenden angerufen. Von ihm müssen wir die gleiche Fürsorge und Verantwortung lernen: das Kind und seine Mutter, die Sakramente und die Nächstenliebe, die Kirche und die Armen zu lieben. „Jede dieser Wirklichkeiten ist immer das Kind und seine Mutter.“
Vater und Arbeiter
Seit dem Erscheinen der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ Papst Leos XIII. wird der Bezug des heiligen Josef zur Arbeit besonders hervorgehoben. Von ihm lernte Jesus, welchen Wert, welche Würde und welche Freude es bedeutet, das Brot als Frucht eigener Arbeit zu essen. In unserer Zeit ist die Arbeit wieder zu einem drängenden sozialen Thema geworden. Die Arbeitslosigkeit nimmt manchmal drastische Ausmaße an. Insofern ist es notwendig, die Bedeutung der Arbeit wieder neu verstehen zu lernen. Unser Heiliger ist dafür Vorbild und Schutzpatron.
Vater „im Schatten“
Papst Franziskus nimmt in seinem Apostolischen Schreiben auch auf den Roman „Der Schatten des Vaters“ des polnischen Schriftstellers Jan Dobraczyński (1910–1994) Bezug, der mit dem eindrucksvollen Bild des Schattens die Gestalt Josefs umreißt, der in Bezug auf Jesus sozusagen der irdische Schatten des himmlischen Vaters ist. Zum Vater wird man nicht einfach dadurch, dass man ein Kind in die Welt setzt, sondern dadurch, dass man sich verantwortungsvoll um es kümmert. Wenn jemand Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen übernimmt, übt er ihm gegenüber in einem gewissen Sinn Vaterschaft aus.
Das Glück des heiligen Josef gründet auf der Logik der Selbsthingabe. Man nimmt bei ihm nie Frustration wahr, sondern nur Vertrauen. Sein beharrliches Schweigen ist nie Ausdruck der Klage, sondern immer Ausdruck eines konkreten Vertrauens. Die Welt braucht Väter, nicht Despoten. Jede wahre Berufung kommt aus der reifen Form der Selbsthingabe. Auch im Priestertum und im geweihten Leben ist diese Art von Reife erforderlich. Wo eine eheliche, zölibatäre oder jungfräuliche Berufung nicht die Reife der Selbsthingabe erreicht, wird sie kaum zu einem Zeichen für die Schönheit und die Freude der Liebe werden. Bei der Ausübung von Vaterschaft muss immer darauf geachtet werden, dass sie nie besitzergreifend ist, sondern zeichenhaft auf eine höhere Vaterschaft verweist. In gewisser Weise sind wir alle in der Situation des heiligen Josef: Wir sind „Schatten“ des himmlischen Vaters und „Schatten“ in der Nachfolge seines Sohnes.