Ökumenische Andacht zum 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg - Grußwort von Bischof Voderholzer
Acker der Tränen
Am 23. April 1945 erreichte die US-Armee das Konzentrationslager Flossenbürg im Oberpfälzer Wald. Anlässlich des 77. Jahrestags der Befreiung fand am vergangenen Sonntag unter großer Anteilnahme eine ökumenische Andacht in der Kapelle "Jesus im Kerker" auf dem Gebiet des Konzentrationslagers statt. Der Ökumenebeauftragte des Bistums, Prof. Dr. Christoph Binninger, feierte die Andacht im Auftrag des Bischofs zusammen mit Dekan Karlhermann Schötz vom Evang.-Luth. Dekanat Sulzbach-Rosenberg. Im Rahmen der Veranstaltung wurde ein Grußwort von Bischof Rudolf Voderholzer verlesen, das wir hier im Wortlaut dokumentieren.
KZ Flossenbürg: Häftlinge im Steinbruch. SS Foto um 1942
(c) Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation
Grußwort von Bischof Dr. Rudolf Voderholzer zum 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg
Liebe Brüder und Schwestern im Herrn,
beim Propheten Ezechiel lesen wir: „Die Hand des Herrn legte sich auf mich und der Herr brachte mich im Geist hinaus und versetzte mich mitten in die Ebene. Sie war voll von Gebeinen. Er führte mich ringsum an ihnen vorüber und ich sah sehr viele über die Ebene verstreut liegen; sie waren ganz ausgetrocknet.“ (Ez 37, 1-3) Und Gott ließ Ezechiel das Klagen der Erschlagenen hören: „Ausgetrocknet sind unsere Gebeine, unsere Hoffnung ist untergegangen, wir sind verloren.“ (Ez 37, 11b)
Liebe Schwestern und Brüder,
auf einem solchen Todesacker stehen auch wir – jetzt – heute – hier.
Zehntausende wurden hier grausam ermordet. Ihrer Menschenwürde beraubt. Zur anonymen Zahl degradiert: ein Acker der Tränen! Wie viele Hoffnungen liegen hier begraben, von wie viel Stöhnen der Gemarterten ist die Erde erfüllt? Der ehemalige polnische KZ-Häftling Koscielniak schreibt:
„Dem Grauen der Tage folgt kein erlösender Schlaf,
Hunger zerschneidet das Gedärm,
und der Schmerz hat sich festgefressen
in den Gliedern,
dem Dunkel entsteigt die Qual der Gedanken,
die Seelen versinken in Einsamkeit,
es erkalten die Toten,
in den Nächten erlischt still das Leben
und hinterlässt eine ärmliche Spur,
mit dem Ende der Leiden
stirbt auch die Hoffnung…“
(aus: „Kreuzweg des Maximilian Kolbe“)
Wie oft mag hier der Ruf der Sterbenden aus dem Psalm 22 erklungen sein: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“ (Ps 22,1)
Und es scheint, als wenn manchmal der Wind noch das Gelächter der Mörder zu uns Lebenden hinüberweht. Auf schreckliche Weise haben sie Nietzsches Wort Realität werden lassen, der schreibt: „Meine Lebensformel lautet: Leben ist Wille zur Macht… Was ist gut? Alles, was das Gefühl Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt, nicht Frieden, sondern Streit und Krieg. Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen! Erster Satz unserer Menschenliebe: Man soll ihnen dazu noch helfen. Was ist schändlicher als irgendein Laster? Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen…“
Der vermeintlich arische Übermensch, die Bestie Mensch, zertritt menschliches Leben, macht Asche daraus. Warum nur? Warum? Geheimnis des Grauens!
In ihrem Gedicht „Das Verhör“ greift die Polin Elzbieta Piotrowska diese Frage auf und findet keine Antwort, als sie die Toten der Konzentrationslager befragt:
„Wer hat Euch ermordet?
- Menschen!
Was waren das für Menschen? Haben sie Gesichter von Gespenstern gehabt? Haben sie tierische Augen gehabt?
- Nein, es waren Menschen, Menschen wie andere.
Vielleicht hat sie ein Vulkan geboren? Vielleicht haben sie keine Mütter gehabt?
- Doch, menschliche Mütter haben diese Menschen geboren.
Haben sie vielleicht keine Kinder gehabt?
- Ja, sie haben Kinder. Sie haben an sie Briefe geschrieben und Geschenke geschickt.
Wie haben die Menschen Euch getötet?
- Sie haben mit Gas erstickt, ins Feuer gesteckt, an der Mauer zerschlagen, mit dem Schuh zertreten; und, wenn sie gut waren, erschossen sie uns.
Und als sie Euch getötet hatten, was haben sie dann gemacht?
- Sie haben sich mit weißen Tüchern den Schweiß von der Stirn gewischt und gesagt:
„Haben wir heute aber viel gearbeitet! Die Arbeit war anstrengend.“
Es ist der Hass! Die schlimmste Geißel der Menschheit sind Menschen, die hassen. Hass ist Verrat am Menschen, Verrat an Gott. Hass macht kalt, tötet das Herz. Hass gebiert Leichenberge. Hass stirbt nicht aus. Er wütet auch heute in der Ukraine, in Europa durch den russischen Angriffskrieg. Lasst uns gegen den Hass angehen! Lasst uns alle Ideologien, die Hass säen, von ganzem Herzen verabscheuen und bekämpfen! Das ist die Aufgabe heute wie damals von Christen, Juden, Moslems und allen Religionen. Das ist die Aufgabe, die alle Menschen guten Willens verbindet. Es ist die Aufgabe der Menschheitsfamilie. Tod dem Hass! Es lebe der Frieden, die Gerechtigkeit! Es lebe das Leben! Das ist das Vermächtnis der Toten von Flossenbürg.
Schützen wir das menschliche Leben vom Anfang bis zum Ende. Es ist heilig. Jedes menschliche Leben ist heilig. Es ist heilig, weil es von Gott kommt.
So heißt es in Psalm 139: „Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken. […] Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoss meiner Mutter. Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen. Deine Augen sahen, wie ich entstand.“ (Ps 139, 1-2; 13.15-16a)
Das ist die Wahrheit jedes menschlichen Lebens: Ihres, meines und jedes Toten von Flossenbürg. Wir sind kein Unfall oder Zufall, sondern jeder Einzelne ist in Liebe von Gott gewollt. Und der, der uns alle gemeinsam geschaffen hat, ist unser aller Vater: Gott. Wenn wir aber gemeinsam alle einen Vater haben, dann sind wir untereinander wirklich Geschwister: Schwestern und Brüder. Wir bilden die eine Menschheitsfamilie Gottes: getragen und berufen zur Liebe unter einander und zu unser aller Vater.
Diese Toten von Flossenbürg – die Geschundenen und Ermordeten – werden vor Gott jene Gerechtigkeit und jenes Leben in Fülle geschenkt bekommen, die ihnen auf Erden von Menschen geraubt worden sind. Es ist unsere feste christliche Überzeugung, dass am Ende der Zeit nicht der Mörder von Flossenbürg triumphiert, sondern allen Opfern Gerechtigkeit zuteilwird. Dadurch verliert dieser Todesacker hier seine beklemmende Endgültigkeit. Er ist eben nicht das immerwährende dunkle Verließ, das die Toten für immer gefangen hält. Das leere Grab Christi ist ihre Hoffnung! Das leere Grab Christi steht für ihr neues Leben, das keine Macht der Welt ihnen mehr nehmen kann.
So heißt es im Buch Ezechiel: „Ich, der Herr, öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk aus euren Gräbern herauf. […] Wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole, dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin. Ich hauche euch meinen Geist ein, dann werdet ihr lebendig und ich bringe euch wieder in euer Land.“ (Ez 37, 12b-14)
Liebe Schwestern und Brüder,
das ist unsere Hoffnung! Möge sie unser Leben erfüllen!
Dazu segne Euch der dreieinige Gott, der Vater aller Menschen:
+ der Vater + der Sohn + der Hl. Geist.
+ Dr. Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg
Das Grußwort zum Download
Titelbild: © KZ-Gedenkstätte Flossenbürg / Foto: Thomas Dashuber