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"Gesellschaft ohne Gott" - Auszug aus dem neuen Buch von Andreas Püttmann

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Lesen Sie hier einen Auszug aus dem neuen Buch von Andreas Püttmann: "Gesellschaft ohne Gott" erschienen im Gerth Medien Verlag, ISBN-13: 978-3865915658

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Verspätete Entgiftung:
Der sexuelle Missbrauch – und sein Missbrauch
Zu einer zweiten Medienkampagne mit Politiker-Beteiligung gegen die katholische Kirche binnen eines Jahres kam es, als im Januar 2010 zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen – zumeist nicht Kinder, sondern männliche Jugendliche – durch katholische Geistliche auch in Deutschland bekannt wurden. Die Fälle liegen fast alle schon Jahrzehnte zurück und müssten in Art und Schwere mehr unterschieden werden, als dies allgemein unter dem Schlagwort „Missbrauch“ geschah: von den früher in weiten Teilen der Gesellschaft üblichen Formen körperlicher Züchtigung (Ohrfeigen, Schläge, Stockhiebe) und psychisch belastenden Schikanen über grenzverletzende Zärtlichkeiten und sexuelle Annäherungsversuche bis hin zu handfester genitaler Manipulation oder gar Vergewaltigung gleichkommendem Sexualverkehr.

Differenzierter zu beurteilen als in der aufgeregten Debatte ist auch der Schaden. Manche im Überbietungswettbewerb der Betroffenheitsbekundung angemaßte Pauschaldiagnose wie „Seelentötung“ oder „zerstörtes Leben“ erscheint sogar geeignet, das Selbstwertgefühl der Opfer abermals zu verletzen.

Skandalös ist tatsächlich, dass etliche Täter aufgrund eines irrigen Läuterungs- und Therapie-Optimismus nur versetzt und an anderer Stelle wieder in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt wurden, und dass mancher kirchliche Vorgesetzte auf Hinweise unzureichend reagierte oder den Opfern nicht adäquat begegnete. Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Jesuitenpater Hans Langendörfer, fand treffende Worte: „Die Enthüllungen zeigen ein dunkles Gesicht der Kirche, das mich erschreckt.“ Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für Fälle sexuellen Missbrauchs, fand, während von Island aus eine Aschewolke über den europäischen Kontinent zog, im Blick auf die lange Zeit tabuisierten Übergriffe das Bild: „Eine giftige, stinkende Wolke entlädt sich.“

Darauf mit plumper Apologie zu reagieren, indem man – wie der Sprecher „engagierter Katholiken“ (AEK) in der CDU in der FAZ vom 6.2.2010 – Schuld bloß „einzelnen Menschen“, die „schwer gesündigt“ hätten, zuschreibt und zugleich die „lustfreundliche Sexuallehre“ der Kirche preist, wäre verfehlt und der Glaubwürdigkeit der Kirche noch abträglicher. Anders als der Autor weiszumachen versuchte, stellt die Kirche nicht nur eine „mit Jesus Christus verbundene Heilsgemeinschaft“ dar; gemäß wissenschaftlichen Definitionskriterien ist sie durchaus ein System. Dafür spricht schon ihre eigene Rede von „systematischer Theologie“. Zwar kann man im Blick auf die verfügbaren Daten, die auf etwa ein Prozent Betroffener im Klerus schließen lassen – und, nach Angaben des Kriminologen Christian Pfeiffer, auf einen Anteil katholischer Kirchenmitarbeiter an der Gesamtzahl der Fälle von 0,1 Prozent –, den Missbrauch selbst nicht „systemisch“ nennen. Doch hätten viele „Einzelfälle“ so nicht passieren können, wenn in der Kirche über lange Zeit nicht ein systemischer Ungeist von Verdrängung und Verleugnung geherrscht hätte, dem der Schutz der – übrigens ebenfalls von den Tätern missbrauchten – Institution und das Ansehen des Priesterstandes wichtiger war als der Schutz der Opfer. Dieses Denken vom Vorrang des kirchlichen Kollektivs vor dem Individuum, der „heiligen“ Institution vor der (fast immer) „unheiligen“ Person kann man auch in anderen Zusammenhängen bis heute vor allem im konservativen Kirchenmilieu antreffen.
Auf ganz anderem Niveau argumentierte der Jesuit Klaus Mertes, Leiter des betroffenen Berliner Canisius-Kollegs, in einem Interview der „Zeit online“ (15.4.2010): „Wenn ich die Kirche als Ganzes verstehe, kann ich mich nicht von einem Teil distanzieren. Der Hinweis auf ,die da‘ und ,damals‘ funktioniert nicht – weder technisch noch theologisch. Ich kann mich nicht von den Tätern distanzieren, denn sie sind meine Brüder.“ Den Einwurf: „Das sagen die Vertuscher aber auch!“ parierte Mertes mit der Bekräftigung: „Die sind auch meine Brüder. Um mit einem praktischen Argument zu antworteten: Ich kann den Opfern doch nur signalisieren, dass ich der richtige Ansprechpartner bin, weil ich mit der Tat etwas zu tun habe. Es gibt die stellvertretende Übernahme von Schuld. Dass sich jemand als schuldig bekennt, ist doch die entscheidende Voraussetzung für einen Versöhnungsprozess! Wie könnte ich sonst eine Entschuldigung aussprechen?“

Auch Kardinal Lehmann sah in seinem überzeugend differenzierten FAZ-Essay: „Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen“ (1.4.2010) Zusammenhänge, der „die gesamte Institution in die Verantwortung bringt“. Dazu gehörten einerseits Versuche, „durch schnelles Abwehren und Verdecken eines Verdachts oder gar einer Verfehlung die Institution Kirche und gerade auch Amtspersonen unter allen Umständen vor einem Makel zu bewahren. Gewiss gab es da auch eine Kumpanei, wie sie in manchen ,geschlossenen Systemen‘ möglich ist“; andererseits Fehlentwicklungen in der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils: Im Bemühen um eine „erneuerte Zuwendung zur modernen Welt“ habe man „die Sogwirkung dieser Welt wohl vielfach unterschätzt. Hemmungen entfielen, eine falsche Toleranz konnte sich ausbreiten. Die ,Welt‘ erwies sich als mächtiger. Die für die Zuwendung zur Welt noch wichtiger gewordene Spiritualität, innere Stärke und Selbstbehauptung hingegen schrumpften.“ Abstand und Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern seien durch „gewisse Zweige der modernen Pädagogik“ vernebelt worden, während „die Pädophilenbewegung zu einem unverantwortlichen Umgang mit Kindern zu verführen suchte“, sodass schönfärberische Entschuldigungen für Übergriffe zur Verfügung standen. „Bei manchem, der eine starke Neigung dazu in sich verspüren konnte, wurden die Widerstandskräfte durch solche Entschuldigungen geschwächt.“ Selbst wenn insofern zahlreiche außerkirchliche Faktoren beteiligt seien, mache es für die Kirche aber „keinen Sinn, mit dem Finger zuerst auf andere zu zeigen“. Auch dürfe man sich „nicht wundern, wenn wir streng – gewiss auch manchmal mit Schadenfreude und Häme – an jenen Kriterien gemessen werden, mit denen die Kirche sonst ihre sittlichen Überzeugungen vertritt, besonders hinsichtlich der Sexualität. Die aufgedeckten Missbrauchsfälle wirken hier wie ein Bumerang.“ Freilich dürfe „man sich auch nicht den Mund verbieten lassen und muss deutlich sagen, dass es sich offenbar um einen gesellschaftlichen Missstand handelt, den die meisten in dieser Größenordnung nicht vermutet haben“.

So muss es in sozialwissenschaftlicher Perspektive auf die Entchristlichung auch möglich sein, die Reaktion der Öffentlichkeit kritisch zu hinterfragen: Obwohl sich der hauptsächlich betroffene Jesuitenorden und die Bischöfe in aller Form bei den Opfern entschuldigten und mit professioneller Hilfe eine konsequente Aufklärung einleiteten, nahmen einige Leitmedien und ausgerechnet die liberale Bundesministerin der Justiz die Affäre zum Anlass, die Kirche anzuprangern, ihr mangelnden Aufklärungswillen zu unterstellen, den Volkszorn zu schüren und den Eindruck zu erwecken, es handele sich um ein spezifisches Problem des katholischen Klerus. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz verwahrte sich in ungewohnter, durchaus angemessener Schärfe gegen den von Frau Leutheusser-Schnarrenberger „undifferenziert und emotional“ erweckten Eindruck, die Kirche verweigere sich konstruktiver Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden, und die bis dahin bekannt gewordenen rund 120 Missbrauchsfälle stammten aus der jüngsten Vergangenheit. In der Tat hat es noch nie in der Politik der Bundesrepublik Deutschland eine „ähnlich schwerwiegende Attacke auf die katholische Kirche gegeben“ (Zollitsch).

Die sichtlich affektgeladene und interessegeleitete Forderung der im neuen Bundeskabinett bis dahin medial nicht sonderlich wahrgenommenen FDP-Politikerin – Mitglied im Beirat der kirchenfeindlichen „Humanistischen Union“ –, die katholische Kirche habe sich einem „runden Tisch“ zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen allein in ihren Einrichtungen zu stellen, durchkreuzte ausgerechnet Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Ihr hatte der AEK in einer Presseerklärung vom 30.11.2009 vorgehalten, die (damals erst verlobte) neue Ministerin habe „sich selbst weder politisch noch persönlich mit Ehe und Familie befasst“ – was dann auch auf katholische Kleriker zuträfe, aber selbstverständlich Unsinn ist, da jeder Mensch persönliche Erfahrungen mit der eigenen oder fremden Ehen und Familien macht und diese reflektiert. Nun nahm ausgerechnet die von den „engagierten Katholiken“ gleich zu ihrem Amtsantritt dumm angerempelte evangelische Ministerin die katholische Konfession in Schutz: „Ich finde es falsch, jetzt nur die katholische Kirche an den Pranger zu stellen. Probleme mit Kindesmissbrauch gibt es in unterschiedlichen Bereichen. Etwa in Internaten – egal, ob kirchliche Einrichtungen oder säkulare –, in Sportvereinen oder in Familien“ (FAZ-Interview 3.3.2010). Zusammen mit Bundesbildungsministerin Schavan schlug sie einen runden Tisch aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen vor, bei dem die Vorbeugung und Hilfe für die Opfer im Vordergrund stehen sollten.

Roms deutsch-katholische Daueropposition – insbesondere von einer „antikirchlichen Sektierergruppe, die sich seltsamerweise ,Wir sind Kirche‘ nennt“ und „im Medienspiel die ,Basis‘ vertritt, obwohl sie mit dem Kirchenvolk so wenig zu tun hat wie Heiner Geißler mit der Glaubenskongregation“ (Peter Seewald) –, aber auch manche Vertreter des organisierten Laienkatholizismus nutzten die prekäre Lage, um im Schulterschluss mit Gegnern der Kirche ihre alten Steckenpferde von der repressiven Sexualmoral und dem inhumanen „Zwangszölibat“ wieder zu reiten. Freilich ohne empirisch oder logisch plausibel machen zu können, dass permissivere Sexualnormen und verheiratete Priester den Prozentsatz Pädophiler im Klerus zu senken vermöchten. Dass das Zölibatsgesetz für solche Männer ein geringeres Hindernis zum Priesterberuf darstellen mag, die ohnehin kein Leben in Ehe und Familie anstreben, könnte zwar zu einem überproportionalen Anteil Homosexueller beitragen. Doch die unausgesprochene Verknüpfung dieser plausiblen und wohl auch realistischen Annahme mit dem Problem Kindesmissbrauch überraschte aus der Ecke jener, die der Kirche sonst gern „Homophobie“ vorwerfen und den vom Vatikan verfügten Ausschluss Homosexueller vom Priesteramt kritisierten. Nun machten sie sich selbst um die diskriminierende Nebenwirkung ihres Arguments wenig Sorgen und leisteten dem Ressentiment Vorschub, jeder Homosexuelle sei ein potenzieller Kinderschänder. Unterdessen meinten Apologeten auf der kirchlichen Rechten, mit dem Pädophilen- auch gleich einen erhöhten Homosexuellenanteil im Klerus abstreiten zu müssen. Es gebe auch diesbezüglich, so der AEK-Sprecher in der FAZ, gar „kein Spezifikum der katholischen Kirche“. Was sollte Rom dann aber im Jahr 2005 sogar zu einer speziellen Instruktion über Homosexualität und Weiheamt veranlasst haben? Die Devise „Was nicht sein darf, das nicht sein kann“ hat sich noch immer als schlechter Ratgeber erwiesen. Auch die in gewissen katholischen Online-Foren gesuchte Ausflucht: Das waren nicht wir Katholiken, sondern die „Homos“, und vor denen haben wir ja schon immer gewarnt – also sind wir, statt rechtfertigungspflichtig, im Grunde wieder mal im Recht“, wäre zu billig und brächte die Öffentlichkeit nur noch mehr gegen die Kirche auf. Am besten hielte man beide Themen auseinander, solange eine Kausalität wissenschaftlich nicht erwiesen ist.

Kriminalstatistische Daten, die eine überproportionale Betroffenheit katholischer Geistlicher beim Missbrauch belegen würden, blieben die Ankläger der Kirche schuldig. Im Gegenteil: Professor Hans-Ludwig Kröber, einer der bekanntesten Kriminalpsychiater Deutschlands, sprach in einem „Cicero“-Interview (31.3.2010) im Blick auf jährlich etwa 15.000 polizeilich gemeldete Fälle von Kindesmissbrauch, rund 600.000 Bedienstete der Kirche und 94 Tatverdächtige (s. u.) in 15 Jahren von einer „verblüffend geringen Zahl. Das hieße, dass das aktuelle Risiko des sexuellen Missbrauchs in Einrichtungen der katholischen Kirche noch viel geringer ist, als ich das zuerst vermutet hätte“. In der Debatte habe man zudem „sexuellen Missbrauch und Prügelpädagogik, die es damals unstreitig an allen Schulen gab, so oft vermischt, dass man das Gefühl hatte, man will die Zahlen strecken“. Hinsichtlich des Klerus erklärte der bekennende „nicht gottgläubige“ Lutheraner: „In jedem Fall werden Menschen in ihrer Entwicklungsphase zu Pädosexuellen, und nicht erst, nachdem sie lange Zeit auf Sex verzichten mussten. Man wird, nebenbei bemerkt und rein statistisch gesehen, eher vom Küssen schwanger, als vom Zölibat pädophil.“ Insofern sei er „verwundert“ über die „momentane Aufregung“; zwar seien „auch immer wieder zum Beispiel Priester verurteilt worden. Aber heute schaffen es zwei Priester der Regensburger Domspatzen auf die Titelseite, die verstorben sind und davor rechtskräftig abgeurteilt wurden. Lange nach ihrem Tod. Warum? Weil Georg Ratzinger auch bei den Domspatzen war, und man hoffte, man wäre jetzt endlich beim Papst.“ Insgesamt habe er den Eindruck, „dass die Leute sich ein holzschnittartiges Bild der Kirche machen, auch wenn sie kaum je eine Kirche von innen gesehen haben, ein Bild, was sich ideal als Pappkamerad und Prügelknabe eignet“. Seine Erfahrung sei eine ganz andere: „Ich habe viele Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Institutionen, auch weil ich mich mit anderen Wissenschaftlern und Forschungsgruppen austausche, und die Bischöfe im Vatikan, die sich mit diesem Thema beschäftigten, waren die klügste und aufmerksamste Gruppe, vor der ich zum Thema sexueller Missbrauch jemals gesprochen habe.“
Sogar Alice Schwarzer widersprach bei „Maybrit Illner“ (11.3.2010) der Vorstellung, sexuelle Enthaltsamkeit sei eine nicht lebbare Zumutung: „Ich glaube, es gibt Menschen, Männer oder Frauen, die sich in der Tat nicht für Sexualität interessieren. In unserer völlig hochgeheizten Gesellschaft kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Ich respektiere das durchaus. Ich glaube ganz ehrlich gesagt auch nicht an den Zusammenhang von Zölibat und Missbrauch, überhaupt nicht.“ Während die Moderatorin insinuierte, dass Missbrauch „vermehrt in der katholischen Kirche geschieht“, hob die Feministin hervor, dass drei von vier Fällen in Familien passieren. Gegen die Erklärung des Missbrauchsopfers Miguel Abrantes Ostrowski, der „ganz verklemmte Menschen“ im Klerus für das Übel verantwortlich machte, setzte Frau Schwarzer das Beispiel der edel-linken Odenwald-Schule, an der es geradezu „eine institutionalisierte Überschreitung der Schamgrenzen“ und „spätestens seit 1971 regelmäßig sexuellen Missbrauch“ (FAZ vom 15.3.2010) gab: „Sie sprechen von einem autoritären System, das Geist und Körper getrennt hat. Das Prinzip der Reformschule Odenwald ist genau das Gegenteil: Lerne zu sein, der du bist. Wir sind gleichberechtigt. Und was war das Problem? Das ist sozusagen das andere Extrem: In der Odenwald-Schule haben Erwachsene so getan, als seien sie gleichberechtigt mit Kindern, und haben ihre Art von Sexualität den Kindern unterstellt, haben gesagt: ,Das wollen doch die Kinder.‘“ Zugleich warnte Schwarzer vor einer einseitigen Psychologisierung: „Sonst verengen wir das Spektrum. Das Massenproblem sind die 95 Prozent, die übergreifen, weil sie grad Bock drauf haben, weil sie’s können, weil sie’s dürfen, weil die Verhältnisse so sind. Wir müssen das darin eingebettet sehen“; die Tätermehrheit brauche keine Pädophilie-Therapie, sondern: „Da müsste man eine Haltung in der Gesellschaft haben und eine Moral.“
Mit dieser Analyse und diesem Plädoyer war Alice Schwarzer weniger von der Position Bischof Walter Mixas entfernt, als ihr bewusst und recht sein dürfte. Der Augsburger Oberhirte, der später mehr aus anderen Gründen als „der einen oder anderen Watschen“ zurücktreten musste, hielt der säkularen Gesellschaft den Spiegel vor: „Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig.“ In den vergangenen Jahrzehnten habe es besonders durch die Medien eine zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit gegeben. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sei „leider ein verbreitetes gesellschaftliches Übel, das in vielfältigen Erscheinungsformen von der Familie bis zur Schule oder zum Sportverein auftritt“. Er gestand ein, „dass auch in der Kirche mancher Verantwortliche in der Vergangenheit gegenüber Sexualdelikten an Kindern und Jugendlichen zu blauäugig war und unberechtigterweise auf eine Besserung des Täters in einem anderen Aufgabenfeld gesetzt hat. Da sind kirchliche Verantwortungsträger möglicherweise auch einem Zeitgeist aufgesessen, der selbst im Bereich des staatlichen Strafrechts Resozialisierung statt Strafe propagierte.“

Selbstverständlich rief der Bischof mit diesem „Entlastungsangriff“ Empörung hervor. Aber war diese Äußerung wirklich, wie die ARD „Tagesthemen“ (22.4.2010) meinten, ein „verbaler Ausrutscher“? Bestätigt fühlen konnte sich Mixa zum Beispiel durch den Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit von den „Grünen“. Der besuchte zwischen 1958 und 1965 die Odenwald-Schule und hatte in den Siebzigerjahren in einem Frankfurter Kindergarten pädophile Erlebnisse, über die er 1975 sogar unter dem Titel „Der große Basar“ schrieb: „Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an. Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen“; „Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Wenn die Kinder darauf bestanden, hab ich sie auch gestreichelt.“ Cohn-Bendit gestand nun gegenüber der „Zeit“ ein, ihn bewege, „dass eine libertäre Sexualmoral, die auf Emanzipation angelegt ist, für sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung benutzt wurde. (...) Wir haben im Überschwang auch Fehler gemacht, die man korrigieren muss.“ Übrigens hatte ein Gesetzentwurf der „Grünen“-Bundestagsfraktion noch im Februar 1985 die Entkriminalisierung „einvernehmlicher sexueller Kontakte“ mit Minderjährigen gefordert, weil die einschlägigen Strafrechtsbestimmungen „die freie Entfaltung der Persönlichkeit“ behinderten. Ähnliche Anträge gab es auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.

Auf diese noch lange nicht aufgearbeiteten Sündenfälle – von den sonst gern geforderten „Entschuldigungen“ ganz zu schweigen – wies der Psychiater Manfred Lütz in der FAZ und im katholischen Magazin „Theo“ (1/2010) hin: Linke hätten „die Pädophilen gehätschelt“ und „die katholische Sexualmoral als repressives Hemmnis für die ,Emanzipation der kindlichen Sexualität‘ bekämpft“; selbst ein 1989 im Deutschen Ärzteverlag publiziertes Buch habe offen für die Erlaubnis pädophiler Kontakte geworben. Heute aber werde „die katholische Kirche isoliert als Sündenbock für all die abseitigen und skandalösen Träume vom Kindersex gebrandmarkt, die in alternativen Kreisen vor vierzig Jahren geträumt wurden“. Dass der falsche Zusammenhang zwischen Missbrauch und kirchlicher Sexualmoral die Täter entlaste, werde dabei übersehen.
In den meisten Leitmedien kam die gesellschaftskritische Einordnung des Themas aber schon deshalb nicht vor, weil es den „kritischen Journalisten“ in der Missbrauchsfrage um etwas ganz anderes ging: „Jedenfalls hilft das, die katholische Kirche nach und nach kaputt zu machen“, verplapperte sich eine Talkshow-Redakteurin auf einer Feier am Abend des 2. März 2010 in Berlin gegenüber einem katholischen Kollegen. Entlarvend für den maßlosen inquisitorischen Eifer war zum Beispiel auch, wie Frank Plasberg in seinem Talk „Hart aber fair“ (24.2.2010) gegen den Widerspruch selbst des Kirchenkritikers Heiner Geißler hartnäckig versuchte, Erzbischof Zollitsch einen Vorwurf daraus zu machen, dass er die Entschuldigungserklärung der Deutschen Bischöfe nach ihrer Konferenz in Freiburg teilweise vom Blatt abgelesen habe. Zu den im Fernsehen hauptsächlich gefragten guten Haltungsnoten in „Betroffenheit“ (am besten: bebende Stimme und Tränen) passte das sorgsam formulierte Statement des Vorsitzenden der Bischofskonferenz natürlich nicht; doch am Inhalt ließ sich auch von demjenigen nichts aussetzen, der eine „freie Rede“ wohl schon wegen ihres höheren Risikos sprachlicher Missgriffe bevorzugt hätte, um das Rad der Skandalierung weiterdrehen zu können. Der Titel der Sendung: „Die Priester und der Sex“ eröffnete die ganze Bandbreite der Nebenschauplätze und suggerierte dieselbe besondere Betroffenheit des zölibatären Klerus bei der Pädophilie, die auch Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gern mit ihrer Sonderbehandlung der katholischen Kirche durchgesetzt hätte – unbekümmert davon, dass damit auch zwei Klassen von Opfern geschaffen worden wären: die von katholischen Geistlichen Missbrauchten gleichsam als „Opferklasse eins“ und alle anderen als Opfer zweiter Klasse, die weniger staatlichen und medialen Aufarbeitungsaufwand verdienten. „Was ist mit allen anderen Opfern anderer als katholischer Täter?“, fragte der Salzburger Weihbischof und Professor für Moraltheologie, Andreas Laun, in einem Artikel für die „Tagespost“ (27.2.2010): „Über Heuchelei in der Missbrauchs-Diskussion“. Er berichtete: „Vor Jahren entdeckte die Polizei drei Täter, die sich Kinderpornografie aus dem Internet heruntergeladen hatten: Einer davon war ein Priester, einer war Richter, der dritte Angestellter einer Behörde. In den Zeitungen genannt wurde nur der Priester. Warum wohl?“

Heuchelei wurde in der Tat ein herausragendes Merkmal der ganzen Debatte: Ausgerechnet diejenigen, die sonst immer auf die Selbstständigkeit der Diözesen und der deutschen Kirche pochten, gaben sich plötzlich ganz Rom-fixiert und verlangten ein Wort des Papstes speziell zu Deutschland, obwohl der sich schon mehrfach deutlich, demütig und einfühlsam zum Missbrauchsproblem geäußert und mit Opfern getroffen hatte. Kirchenträumer, die seit Jahrzehnten alles daran setzten, das Besondere und Herausgehobene des priesterlichen Amtes in der Kirche zu relativieren, betonten es nun eifrig, um einen besonders strengen Maßstab anlegen zu können. Sonst glühend Psychotherapiegläubige und Resozialisierungsoptimisten schüttelten den Kopf darüber, wie man bloß so naiv sein konnte anzunehmen, dass pädophil auffällig gewordene Priester nach einer Therapie wieder in der Seelsorge einzusetzen seien. Renate Künast und Claudia Roth als Chefinnen der ehedem Pädophilen-lobbyistischen „Grünen“ kehrten, statt vor der eigenen Türe, die Richterrolle über die Vergangenheit der Kirche heraus. Mit diesen beiden vereint in der „Humanistischen Union“ – die bis in die jüngste Vergangenheit „staatliche Überreaktionen“ in Sachen Kinderpornografie beklagte und im Jahr 2000 nur mit knappster Mehrheit die Entfernung von Links zu einem „Pädo-Portal“ auf ihrer Homepage beschloss – schwang sich die Bundesjustizministerin zur Jeanne d’Arc des Kinderschutzes in der Kirche auf. Soziale Gewissensdarsteller, die sonst verfochten, die Kirche dürfte mit ihren Mitarbeitern nicht so kalt und rücksichtslos umgehen wie ein weltlicher Betrieb, wollten straffällig gewordene Priester nun gleich „rausgeworfen“ sehen – ohne zu bedenken, dass die Gefahr für Kinder durch solche Personen damit nicht aus der Welt geschafft wäre. Abtreibungsbefürworter empörten sich über Gewalt gegen Kinder, Gegner strafrechtlichen Lebensschutzes forderten schon bei Missbrauchsverdacht einen Meldeautomatismus gegenüber der Staatsanwaltschaft – ohne sich um den Willen der Opfer zu kümmern, die doch angeblich im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen sollten.
Kurzum: Solche Exzesse öffentlicher Heuchelei und Volksverhetzung wie im Frühjahr 2010 hat die Republik wahrscheinlich noch nicht gesehen. „Gemessen an Umfang und Penetranz dieser Kampagne war die Klimakonferenz von Kopenhagen, bei der es um die Rettung der Erde ging, ein Ereignis von nachrangiger Bedeutung“ (Peter Seewald). Das liberal-konservative Magazin „Eigentümlich frei“ kommentierte in seiner Online-Ausgabe (29.3.10): „Es geht überhaupt nicht um die missbrauchten Kinder. Es geht darum, die letzte Bastion zu schleifen, die sich aus wohlerwogenen theologischen Gründen weigert, um goldene Kälber des Zeitgeistes zu tanzen.“ Also eine Wiederkehr des alten „Écrasez l’infâme!“.
Über die hässlichen Früchte der Hetze am Beispiel Regensburg berichtete Othmar Elgner unter der Überschrift: „Der mediale Schlaghagel wirkt“ in der „Tagespost“ (3.4.2010): „Untadelige Geistliche wurden telefonisch terrorisiert, Domspatzen – Kinder und Jugendliche wohlgemerkt – wurden öffentlich angepöbelt und mit ordinärsten Ausdrücken beleidigt, und Eltern von Reportern vor dem Gymnasium persönlich attackiert, weil sie ihre Kinder noch nicht , aus dem Sumpf von sexueller Gewalt und systematischer Demütigung‘ abgemeldet hatten.“ Ein TV-Sender scheute sich nicht, in seiner Straßenumfrage auch einen Passanten zu Wort kommen zu lassen, der die Täter „an die Wand gestellt“ oder ihre „Rübe ab“ sehen will. Die Decke der Zivilisation ist eben doch dünner, als allgemein angenommen. Die FAZ (31.3.2010) meldete im Vergleich zum März 2009 „eine qualitative wie quantitative Steigerung“ von Angriffen auf Kirchengebäude, die sich „deutlicher als noch vor einem Jahr gegen die Symbole des Glaubens richteten“, auch wenn nur die Besprühung der Außenwand der Abtei St. Matthias in Trier direkt „Zusammenhänge zwischen den Schriftzeichen und den Missbrauchsskandalen“ erkennen ließ. Andernorts wurden einer Christusfigur Arme und Beine abgeschlagen, Reliquien gestohlen und Gebeine beschädigt, Gebetbücher und eine Altardecke angezündet, Kirchenfenster eingeschlagen, Orgelpfeifen herausgebrochen, Exkremente hinterlassen und in Beichtstühle uriniert. „Man mag nicht mehr glauben, dass frustrierte Einbrecher, die auf Geld aus gewesen waren, nur einfach ihr Mütchen kühlen wollten“, kommentierte der Autor die neue Art und Häufigkeit der für gewöhnlich nur die Aufmerksamkeitsschwelle von Lokalzeitungen überschreitenden Vorfälle.

Unter den im „Spiegel“ vom 8. Februar addierten 94 „Verdächtigen“ aus der katholischen Kirche waren auch Laienmitarbeiter wie Küster, Chorleiter, Caritas-Angestellte oder ehrenamtliche Helfer in der Jugendarbeit, die üblicherweise nicht im Zölibat leben. Von den 23 „Fällen“ in der angeblich am stärksten betroffenen Diözese Rottenburg-Stuttgart konnten zudem mehr als ein Viertel „gleich am Anfang entkräftet“ werden; von den verbleibenden elf noch lebenden „Verdächtigen“ waren schließlich nur vier vor staatlichen Gerichten verurteilt worden. In sechs Fällen wurden Verdächtige, die keine strafbaren Handlungen im Sinne des Strafgesetzbuches begangen hatten, mit zum Teil drastischen Strafen aus dem parallelen kirchenrechtlichen Verfahren belegt. Der SPD-Politiker und frühere Bundestagsabgeordnete Robert Antretter, Vorsitzender der 2002 eingerichteten „Kommission Sexueller Missbrauch“ der Diözese Rottenburg-Stuttgart, setzte diese Zahlen in einem Artikel der „Tagespost“ (6.3.2010) ins Verhältnis zu den etwa 2000 hauptamtlichen Mitarbeitern in der Pastoral der Diözese, von denen rund 700 Priester im aktiven Dienst und etwa 300 Pensionäre seien: „Kann man hier von Massenhaftigkeit sprechen?“ Dennoch hätten „viele Medien die Kirche als Brutstätte der Pädophilie ausgemacht“. Antretter mahnte, mehr „zu differenzieren und zu versachlichen, anstatt zu verallgemeinern und öffentliche Emotionen zu bedienen“. Es sei „beispielhaft und modellbildend, wie die Diözese Rottenburg-Stuttgart seit acht Jahren mit dieser schwierigen Problematik verfährt“.
Die Aufmachung der „Spiegel“-Titelgeschichte sprach schon im Untertitel von „fast hundert Kirchenmännern“ und brachte die Story durch ein riesiges Foto mit Benedikt XVI. in Verbindung, in dessen „papierener Welt aus Studium und Gebet das Thema Missbrauch durch Priester keinen Ort“ habe. Dabei war er der erste Pontifex, der sich mit Missbrauchsopfern traf (USA, Australien, Malta), das Problem schon vor dem ausführlichen Brief an die irischen Bischöfe mehrfach öffentlich angesprochen und als Leiter der Glaubenskongregation an sich gezogen und gegen Widerstände entschlossen in Angriff genommen hatte. Der „Spiegel“ aber unterstellte: „Sowenig sich der deutsche Papst mit dem verbotenen Sex befassen will, sowenig wollen es in Wahrheit seine deutschen Bischöfe.“ Die Autoren bemängelten, zur Maßregelung der Täter werde von der Kirche „auch das sechste Gebot (,Du sollst nicht ehebrechen‘) zurate gezogen – dabei sind die Täter nie und ihre Opfer in der Regel nicht verheiratet“. Zu wissen, dass der Bedeutungsgehalt dieses Gebotes nicht nur das Verhalten von Verheirateten betrifft, setzt eben eine religiöse Minimalerziehung voraus, die von „Spiegel“-Redakteuren nicht erwartet werden kann. Ebenso ignorant brachte der Artikel Küngs und Drewermanns Kritik an Zölibat und Sexualmoral mit dem Entzug der Lehrerlaubnis für die beiden Theologen in Verbindung, wobei die schwammige Formulierung: „wegen solcher und ähnlicher Ansichten“ schon darauf hindeutet, dass den Autoren die mangelnde Redlichkeit ihrer falschen Verknüpfung doch bewusst gewesen sein könnte. Aber sie passte zu gut ins klischeehafte Szenario. Als Ersatz für Belege wurden apodiktisch Pseudoevidenzen suggeriert: „Inzwischen steht außer Zweifel, dass dieses Klima der unterdrückten Sexualität Übergriffe auf Kinder in Schulen, Heimen und Pfarrgemeinden befördert.“ Und damit der hermeneutische Schlüssel auch passte und der Entlarvungsaffekt sich einstellte, zeigte das „Spiegel“-Deckblatt unter dem Titel: „Die Scheinheiligen“ einen Kleriker im Kardinalspurpur, der sich im Halbschatten finsterer Kirchenräume lüstern in den Schritt fasst.

Auch viele andere Medienbeiträge, etwa eine Diskussionsrunde bei Anne Will mit Rosa von Praunheim und Hans-Ulrich Jörges, in der zum Beispiel von einer „Anbetung“ des Papstes gefaselt wurde („Niemals habe ich eine dümmere Talkshow im Fernsehen gesehen“, kommentierte Franz Josef Wagner in der „Bild“), illustrierten ein verwahrlostes journalistisches Selbstverständnis, wonach „erst das Vorurteil kommt und dann vielleicht die Recherche“ (Rudolf Zewell). Wohl ziemlich vergeblich war der flammende Appell Peter Seewalds (kath.net, 15.3.2010) an seinen Berufsstand: „Liebe Kollegen: Hört auf damit! Denkt nach! Hört auf mit der Instrumentalisierung. Hört auf mit billigen Analysen und einer Küchenpsychologie, die dem Problem nicht gerecht wird. Hört auf damit, es euch so bequem zu machen. Hört auf damit, Nachrichten zu unterdrücken, falsche Zusammenhänge herzustellen. Besinnt euch auf Sachlichkeit, Nüchternheit und Augenmaß. Kehrt zurück zu einem Journalismus, der dem Berufsstand wieder Ehre macht.“ Wenn aus Enthüllungsjournalismus „Vernichtungsjournalismus“ werde, sei es Zeit, dagegen aufzustehen. „Denn niemand sollte sich freuen, dass hier eine Institution Schaden nimmt, auf die eine Gesellschaft im Grunde nicht verzichten kann.“

Den Vogel bei den Printmedien schoss die „Frankfurter Rundschau“ ab, in deren Online-Ausgabe (7.3.10) kurzzeitig die Überschrift: „Papst soll zu Odenwald Stellung beziehen“ und die Bildunterzeile: „Was wusste Papst Ratzinger von Odenwald?“ zu lesen waren. Für andere Zeugnisse von Journalistenignoranz hatte Alexander Kissler in einem Kommentar für „Cicero-online“ (12.3.2010) nur noch Spott übrig: „Eine Zeitung titelte: ,Kirche in ihrer schwersten Krise‘. Ergo waren die Kirchenspaltungen von 1054 und 1517 heitere Randnotizen, ergo sorgten auch Kreuzzug und Dreißigjähriger Krieg für Kriselchen, allerhöchstens. Eine andere Zeitung forderte, überführte Priester dürften keine Priester mehr sein – als ließe sich das Weihesakrament, das eben mehr ist als ein unverbindlicher Berufseinstieg, abwaschen. Der neckischste Witz aber gelang jener Agentur, die eine Meldung mit der Zeile überschrieb: ,Wir sind Kirche setzt Papst Benedikt unter Druck‘. Bekanntlich handelt es sich bei dem als ,Basisbewegung‘ titulierten Verein um einen Seniorenlesezirkel, der sich an den Stellungnahmen seines Sprechers Christian Weisner und dessen politischer Theologie erfreut. Ähnlich ernsthaft wäre eine Schlagzeile der Art: ,Gemeinderat von Neutraubling fordert Barack Obama zum Rücktritt auf.‘“

Insgesamt vermittelte der Medientenor die Auffassung, die Sexualdelikte seien „die naturnotwendigen Folgen eines widernatürlichen Systems“, wie es schon der „Völkische Beobachter“ behauptet hatte. Seinerzeit wütete Joseph Goebbels in der Berliner Deutschlandhalle am 28. Mai 1937 vor 20.000 Zuhörern und mittels Liveübertragung auf allen Rundfunksendern vor der ganzen Nation gegen „Schweinereien“, „herdenmäßige Unzucht“ und den Missbrauch von Abhängigen, die im Klerus um sich gegriffen hätten. „Natürlich übertrieb er maßlos bei den Zahlen (,Tausende und Abertausende Fälle‘) und schwieg sich aus über die teils höchst manipulativen Ermittlungsmethoden, wobei etwa Pfleglinge und Insassen kirchlicher Heime mit Schokolade und Zigaretten zur Bezichtigung des Personals überredet worden waren“, stellte Jan Ross in einem Artikel der „Zeit“ (20/2002) klar. Zwei Monate zuvor hatte Papst Pius XI. die Nationalsozialisten schwer verärgert, weil er in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ die kirchenfeindlichen Schikanen angeprangert und den ideologischen Totalitätsanspruch des Regimes bestritten hatte. Das Fazit des „Zeit“-Artikels „Kabale und Triebe“, der historisch auch weit ins 19. Jahrhundert, in die französische Aufklärung und auf Luthers Polemik gegen die „Hure Babylon“ zurückgriff: „Die Verderbtheitskritik ist über weite Strecken ein Recyclingunternehmen, in dem Beispiele, Motive und Argumente von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergereicht werden“; jedenfalls seien „Kirchenkritik 1937 und Kirchenkritik 2002 sich im Grunde sehr ähnlich“.
Ebenso und noch weiter in die Geschichte zurück griff ein FAZ-Feuilleton-Aufmacher (13.4.10) anlässlich der Forderung Geoffrey Robertsons im „Guardian“ (2.4.10), Benedikt XVI. bei dessen Visite Großbritanniens im September zu verhaften. Dabei hatte der bekannte Menschenrechtsanwalt auf die Anklage des sudanesischen Präsidenten Baschir vor dem internationalen Strafgerichtshof verwiesen. Es sei, so Patrick Bahners, „ein bedeutsames Faktum in der Geschichte der Weltmeinung, dass einer der angesehensten Juristen Großbritanniens, einer der Schutzmächte der weltweiten rule of law, in der klassischen Zeitung des englischen Liberalismus die Forderung erhebt, dem Papst solle der Prozess gemacht werden, und ihn auf eine Stufe mit einem Diktator und Völkermörder stellt“. Bahners erinnerte dieser „Akt der moralischen Aggression“ an die Absetzung Papst Gregors VII. durch Kaiser Heinrich IV. sowie den Anschlag der Ritter König Heinrichs II. auf Erzbischof Thomas Becket im Dom von Canterbury sowie an Hitlers angeblichen Plan, Papst Pius XII. zu entführen. Auch einen geschmacklosen Kommentar Christopher Hitchens – der eine Verbindung herstellte zwischen dem Bad Tölzer Missbrauchsfall aus der Münchener Amtszeit Ratzingers und seiner erzbischöflichen Weisung, dass Kinder im Jahr der Erstkommunion auch zur ersten Beichte gehen sollten („Er war sehr streng in einem Punkt der Lehre: ,Nehmt sie euch, wenn sie noch jung sind!‘) – wusste Bahners historisch einzuordnen: „Solche pornografischen Fantasien, von denen die Nationalsozialisten in den Sittlichkeitsprozessen gegen Priester Gebrauch machten, stammen aus den antiklerikalen Flugschriften der Reformationszeit.“ In der erregten Missbrauchsdebatte kehrten „Tonfälle der finstersten kulturkämpferischen Vergangenheit“ wieder. Die Kirche werde „als globaler Kinderschänderring hingestellt, alle pastoralen und kriminologischen Fehleinschätzungen werden aus einer römischen Verschwörung zum Schutz der Ehre des Klerus erklärt“. Erst vor dem historischen Hintergrund begreife man „das Dramatische der Lage“. Sollte die „moralische Aggression“ sich eines Tages wieder zu einer staatlich-repressiven und physischen entwickeln, kann niemand sagen, es hätte nicht frühzeitig genug klarsichtige und eindringliche publizistische Warnungen gegeben.

Wie historische Untersuchungen (Hockerts, 1971) zeigen, entsprachen die Vorwürfe der Nazis gegen die katholische Kirche durchaus teilweise der Wahrheit, wie heute. Unser hier anderer, auf Reaktionen der Öffentlichkeit gelegter Fokus ergibt sich aus der Themenperspektive von Entchristlichung, Entkirchlichung und „Christophobie“. Er soll und darf das Skandalon von Missbrauch und Misshandlung durch kirchliche Amtsträger und Mitarbeiter keineswegs relativieren. Die Kirche hat auch angesichts von verzerrenden, ungerechten, maßlosen, heuchlerischen und hämischen Kommentaren weit mehr Grund zur Demut und Scham als zum Selbstmitleid. Sie hat einen Prozess der Selbstreinigung, der „Entgiftung“ von Haltungen und Verhaltensweisen anzunehmen, die sie verderben und ihre Frohe Botschaft der Unglaubwürdigkeit aussetzen. In diesem Prozess liegt durchaus auch eine Chance, wieder Christus-gleicher zu werden. Sogar das christliche Menschenbild und die mit ihm verbundene Sexualmoral könnten durch ehrliche, differenzierte und mutige Beiträge zur Aufarbeitung von Vergehen neu buchstabiert und besser verstanden werden.

Dass jetzt sexuelle Tabubrüche in ihrer zerstörerischen Wirkung auf breiter Front zutage treten und kritisch debattiert werden, könnte am Ende bei vielen Menschen sogar die Einsicht wachsen lassen: „Was wir brauchen, ist nicht weniger katholische Sexualmoral, sondern mehr“ (Andreas Laun). Ähnlich FAZ-Leitartikler Georg Paul Hefty: „Wer hingegen etwas grundsätzlich verbessern will, der muss sich den moralischen Normen der Kirche wieder annähern“ (6.4.2010). „Hätte nicht ein festeres Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit, eine stabilere Sexualmoral manchen Kleriker vor Abirrungen bewahren können?“, fragt auch Alexander Kissler und entlarvt, worum es in der Kampagne gegen Kirche und Zölibat eigentlich geht: „Eine Gesellschaft, die jede Hoffnung auf Lauterkeit aufgegeben hat, weil sie selbst sie nicht durchhält, will die einzig verbliebene Gegengesellschaft auf den Pfad der eigenen moralischen Anspruchslosigkeit zwingen. Die Wegweiser sollen fallen, weil man selbst gerne querfeldein unterwegs ist, die Ampeln und Stoppschilder verschwinden, weil man selbst gerne tüchtig auf die Tube drückt. Da soll nichts mehr sein, was das Ich hemmen könnte in seinem Drange.“

Diese demaskierende Deutung gab auch Ed Koch, jüdischen Bekenntnisses und langjähriger Bürgermeister von New York, in der „Jerusalem Post“: Es gebe in den USA eine Medienkampagne gegen die Kirche, deren Ziel offensichtlich nicht mehr die Information der Öffentlichkeit, sondern eine Geißelung („castigate“) des Katholizismus sei. Man spüre in vielen Artikeln – etwa der „New York Times“ – den Genuss („delight“) und bösen Willen („malice“). Der wahre Grund der fortgesetzten Angriffe vonseiten der Medien und einiger Katholiken sei die Haltung der Kirche zu Abtreibung, Verhütungsmitteln, Homosexualität, Ehescheidung, Zölibat und Frauenpriestertum. In allen diesen Fragen sei er persönlich anderer Meinung als die Kirche. Dennoch habe sie alles Recht, ja vielleicht die Pflicht, auf ihrer Haltung zu beharren. Die römisch-katholische Kirche sei eine Kraft für das Gute in der Welt; die 1,13 Milliarden Katholiken seien wichtig für den Frieden und die Wohlfahrt des Planeten. Es sei nun genug mit der Kampagne: „Enough is enough.“

Auf der konservativen Seite, jedenfalls bei jenen realitätsresistenten Kirchenapologeten, die es sich in Sexualfragen auf „ihrem hohen moralischen Ross“ (Heiner Geißler) zu bequem gemacht haben, könnte eine heilsame Verunsicherung zu der Erkenntnis beitragen, dass die menschliche Wirklichkeit immer komplizierter ist als das Gesetz, dass die Unterscheidung von Guten und Bösen weder am geistlichen Gewand noch an Kirchlichkeit und Rechtgläubigkeit ablesbar ist und dass Moralvorschriften und Bußverfahren allein nicht ausreichen, um sachgerecht mit sexuellen Dispositionen umzugehen. So könnte die Kirche schließlich aus ihrer öffentlichen Demütigung am Ende zugleich gesünder und dialogfähiger hervorgehen. Vor allem aber dürften die hasserfüllten, maßlosen Angriffe gegen sie indirekt dazu beigetragen haben, manch künftiges Leid von Missbrauchsopfern abzuwenden durch die nun größere moralische Sensibilisierung der Gesellschaft insgesamt und die Restauration eines notwendigen Tabus. Bedenkt man dies, so offenbarte sich in dem „selbstgerechten Kesseltreiben“ (Jon Juaristi) gegen die katholische Kirche das Wirken „jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.


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