"Einstellungen verändern sich, wenn Integration gelebt wird" - Projekt Compassion führt vier Schülerinnen des Siemens Gymnasiums ins Pater-Rupert-Mayer-Zentrum
Es war mehr als nur ein Besuch einer sozialen Einrichtung, was Stefan Kremer, Lehrer am Werner-von-Siemens-Gymnasium, in Kooperation mit Kollegen, Einrichtungen der Caritas, der Katholischen Jugendfürsorge und weiteren Einrichtungsträgern seinen Schülern vor kurzem ermöglichte.
60 Schüler der Jahrgangsstufe 10 des Werner-von-Siemens-Gymnasiums haben eine Woche in sozialen Einrichtungen hospitiert und mitgeholfen. Reinhard Mehringer, Gesamtleiter des Pater-Rupert-Mayer-Zentrums, hat vier Schülerinnen in seiner Einrichtung aufgenommen. Hintergrund ist das seit Anfang der 90er Jahre von der deutschen Bischofskonferenz initiierte Projekt Compassion. Die Schüler gewinnen Erfahrungen, die sie im Alltag so nicht machen würden. Compassion (amerikanisch) meint Mitleidenschaftlichkeit, Empfindsamkeit für das Leid anderer im Sinne einer aktiven Haltung.
„Mit dem Projekt Compassion haben wir jahrelange Erfahrungen“, so Reinhard Mehringer. „Jeweils für eine Woche sind drei oder vier Praktikanten bei uns. Für die meisten von ihnen ist dies der erste konkrete Einblick in die Arbeit mit behinderten Menschen, ein Einblick in eine andere Welt.“ Das Praktikum sei eine Berufshilfe. Manche der Hospitanten waren später Zivis im Förderzentrum und haben Sozialpädagogik studiert. „Uns ist wichtig, dass der behinderte Mensch in die zukünftige Lebensplanung mit hinein gedacht wird. Das ist auch ein Weg zur Integration behinderter Menschen in unsere Gesellschaft.“ Gerade Gymnasiasten, bei denen die Wissensvermittlung im Vordergrund stehe, profitierten von Maßnahmen, wie dem Sozialpraktikum oder etwa einem Freiwilligen Sozialen Jahr, die Werte und Sozialtugenden vermitteln.“ Das sei für die jungen Leute enorm wichtig, stellt Mehringer heraus.
Helfen, handeln, hinsehen
„Unglaublich, wie gut es geklappt hat“, freut sich Stefan Kremer, der Religion, Geschichte, Sozialkunde und Mathematik am Werner-von-Siemens-Gymnsium unterrichtet. Auch die problematischeren Schüler seien im Handeln an anderen Menschen aufgeblüht. Die guten Erfahrungen machen das wett, was an Mühen und organisatorischem Aufwand hinter dem Projekt steht. Dazu gehörten eine intensive Vor- und Nachbereitung, die Verknüpfung mit Themen aus dem Lehrplan, wie aktuellen ethischen Fragestellungen zur Pränataldiagnostik und zur Gentechnik oder der Vergleich sozialen Handelns im Christentum und im Islam. Am wichtigsten sei jedoch, erklärt Kremer weiter, dass die Schüler lernen, nicht nur Mitleid oder Empathie aufzubringen, sondern helfen, handeln und hinsehen. „Sie berichten von ihren Erfahrungen dann auch in ihren Klassen und in den neunten Klassen.“
Die Schüler führen Tagebuch, dokumentieren ihre Erwartungen und Erfahrungen. „Auffällig ist“, berichtet Kremer, „dass die Praktikanten gerade in Behinderteneinrichtungen sehr viel mitgenommen haben und sehr beeindruckt waren. So hatten Verena Allescher, Karolin Pscheidt, Lisa Frank und Stefanie Vogl über ihr Praktikum im Pater-Rupert-Mayer-Zentrum, einem Förderzentrum mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, einiges zu erzählen. Allen gemeinsam war die Erfahrung, dass sie sehr offen und freundlich aufgenommen wurden. Anfängliche Unsicherheiten verschwanden schnell.
Mittendrin im Unterrichtsgeschehen
Die 16-jährige Stefanie Vogl aus Laub arbeitete eine Woche lang in der Diagnoseförderklasse 2/1 mit. Die Kinder der neunköpfigen, sehr lebhaften Gruppe sind zwischen sieben und zehn Jahren alt. Die Klassleiterin Gabi Zeiler und ihre Kolleginnen Patrizia Hofmann (Erzieherin), Ines Hlousek (Kinderpflegerin) sowie Silke Novak (Kinderpflegerin) hatten die Hospitantin voll in die Arbeit mit der Klasse integriert. Sie half beim Masken basteln im Kunstunterricht, begleitete Mathe-, Deutsch-, Heimat- und Sachkundestunden und begleitete die Kinder ins Schwimmbad. „Wir haben hier sehr viele ADHS-Kinder, ein autistisches Kind und zwei schwerbehinderte Kinder“, so Zeiler. Stefanie Vogl erzählt über die Klasse: „Ich wusste ja nicht, welche Kinder mit welchen Behinderungen mir begegnen würden. Ich war total positiv überrascht, wie freundlich ich aufgenommen wurde. Das war echt toll.“
In der unmittelbaren Begegnung mit den Kindern traten deren Einschränkungen und Behinderung völlig in den Hintergrund. Gabi Zeiler und ihre Kolleginnen nahmen sich viel Zeit für die Praktikantin. Sie lernte einige der im Unterricht angewandten Methoden kennen und erlebt die Beziehung der Betreuerinnen zu den Kindern als sehr eng und intensiv. „Die Betreuerinnen sind die direkten Bezugspersonen. Das ist sehr wichtig für die Kinder. Man merkt, wie sie sich jeden Tag weiterentwickeln und das ist schön.“
„Man wächst über sich hinaus“
Der Blick in die Klasse war für Stefanie außergewöhnlich, denn bei Problemen werden die Kinder direkt und individuell unterstützt. Da gehört es dazu, dass eine Betreuerin über einen längeren Zeitraum für nur ein Kind das ist. Und das geht auch, erfuhr Stefanie, denn meistens sind in dieser Gruppe drei Fachkräfte eingesetzt. Auch ihre Hilfe war willkommen. „Ich habe einzelnen Kindern, die sich schwerer tun, geholfen.“ Differenzierungsmaßnahmen sind hier die Regel. Je nach individuellem Leistungsvermögen und Leistungsstand werden die Kinder in kleineren Gruppen, häufig auch einzeln, spezifisch gefördert. Dass alle beieinander sitzen, ist eher die Ausnahme. „Mit manchen habe ich Aufgabenblätter gerechnet, andere bei der Freiarbeit unterstützt. Und Celine, die Probleme mit den Muskeln hat, habe ich geholfen.“
Stefanie schildert die Zeit im Pater-Rupert-Mayer-Zentrum als eine ganz neue Erfahrung. „Ich habe so was in der Art ja noch gar nicht erlebt. Alle sind so freundlich, ich habe viel gelernt. Zum Beispiel, dass man geduldig sein muss, wenn man mit den Kindern spricht und ihnen etwas erklärt. Aber auch, dass man sich durchsetzen muss, damit sie einen ernst nehmen.“ Man lerne viel über sich selbst, die Kinder und deren Gefühlswelt. „Ich war sehr positiv überrascht und empfehle es auf jeden Fall weiter. Man wächst über sich hinaus, wenn man auf sich alleine gestellt ist und irgendwo reingeworfen wird. Es ist echt schön hier. Ich hätte mir das nicht gedacht.“