News Bild Benedikt-Biograf Peter Seewald kritisiert die Attacken gegen den emeritierten Papst in Sachen Missbrauch

Benedikt-Biograf Peter Seewald kritisiert die Attacken gegen den emeritierten Papst in Sachen Missbrauch

„Irgendwas wird schon hängenbleiben“

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Der Benedikt-Biograf Peter Seewald übte in einem Interview mit Dr. Stefan Rammer von der Passauer Neuen Presse Kritik an den Attacken gegen den emeritierten Papst in Sachen Missbrauch und ordnete diese ein:

Der gebürtige Passauer Journalist und Autor Peter Seewald (67) gilt als bester Kenner von Leben und Werk Benedikts XVI. 2020 hat er eine vielbeachtete, umfangreiche Biografie über ihn vorgelegt. Demnächst wird eine Studie über sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising vorgestellt. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete nun, dass es Belege gebe, ein kirchliches „Dekret“, das Benedikt belaste. Wir haben uns mit Seewald darüber unterhalten.

Für nächste Woche wird ein Anwalts-Gutachten über den sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising erwartet. Es betrifft auch die Amtszeit Ratzingers als Bischof. Was erwarten Sie von dem Gutachten?

Peter Seewald: Der Bericht wird bestätigen, was man in dem vieldiskutierten Fall eines schuldig gewordenen Priesters auch jetzt schon wissen kann: Ratzinger hat als Bischof von München weder von der Vorgeschichte dieses Priesters gewusst, noch war er je daran beteiligt, dass der Mann wieder in der Seelsorge eingesetzt wurde.

Die „Zeit“ behauptet das Gegenteil. Auf ihrer Titelseite ist vom „Geheimnis des Papstes“ die Rede.

Seewald: Benedikt XVI. ist nicht nur der erste deutsche Papst seit einem halben Jahrtausend, er hat auch eine Biografie und eine Bedeutung wie kein anderer Deutscher. Als Zeuge des Nazi-Terrors, als der meistgelesene Theologe der Neuzeit, als Gestalter des Konzils und, und und. Als Oberhaupt der größten Religionsgemeinschaft der Welt mit 1,3 Milliarden Mitgliedern wird er wohl das eine oder andere „Geheimnis“ bewahren, Internas, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Der von der „Zeit“ hier aufgeführte Fall aber gehört gewiss nicht dazu.

„Wie viel Schuld trägt Benedikt am Treiben eines Sexualtäters in seinem alten Bistum?“ heißt es auf der Titelseite der „Zeit“. Um was genau geht es darin?

Seewald: Es geht um den Priester Peter H. aus dem Bistum Essen. Als der Kaplan von Eltern mit gutem Grund beschuldigt wurde, sich an einem Ministranten sexuell vergangen zu haben, bat der Generalvikar des Bistums Essen seinen Amtskollegen in München, den Mann in der Diözese für eine begrenzte Zeit zu Therapiezwecken aufzunehmen. Der Münchner Ordinariatsrat entschied sich am 15. Januar 1980, der Bitte nachzukommen. Der damalige Generalvikar Gerhard Gruber erteilte daraufhin die Anweisung, Peter H. in einem bestimmten Pfarrhof der Diözese unterzubringen. Eine Kopie der Anweisung ging wie üblich an den Erzbischof.

 

Unvergesslich: Ratzingers erschütternder Klageruf

 

Wissen Sie mehr darüber?

Seewald: Ich habe Gruber für meine Ratzinger-Biografie interviewt, am 27. März 2014. Der frühere Generalvikar bestätigte, ja, er habe die Anweisung gegeben. Es sei dabei ausschließlich um die Unterbringung zu einer Therapie gegangen. Ein Therapeut stand schon bereit. Gruber wörtlich: „Es war nie die Frage, ihn in der Seelsorge einzusetzen.“ Die genauen Hintergründe für die Therapie wurden aus Essen nicht mitgeteilt. Die beschlussfassende Ordinaratssitzung vom 15. Januar 1980 hat Ratzinger als Bischof weder geleitet, noch hat er überhaupt an ihr teilgenommen.

Über seinen Sekretär Georg Gänswein ließ der emeritierte Papst mitteilen, er habe von den Vorwürfen gegen den Priester keine Kenntnis und mit dessen erneutem Einsatz in der Pfarrgemeinde nichts zu tun gehabt.

Seewald: Tatsächlich war Ratzinger zur fraglichen Zeit längst Präfekt in Rom. Dass es hier ein Gesamtversagen gibt, und dazu gehört auch die mangelnde Achtsamkeit von Bischöfen, wird Ratzinger kaum bestreiten. Wenn es jemanden gab, der den Missbrauch in der Kirche eben nicht verschwieg, dann war er es. Unvergesslich sein erschütternder Klageruf als Kardinal beim Kreuzweg im Jahr 2005: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche, und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?“

Hat Sie der Bericht überrascht?

Seewald: Nicht wirklich. Dass im Vorfeld des Untersuchungsberichtes diese Thematik erneut ausgefahren werden wird, war zu erwarten. Der Zeitpunkt war gewissermaßen die letzte Möglichkeit, um ungeniert spekulieren und den früheren Papst anklagen zu können, unabhängig von Fakten und Untersuchungsergebnissen. Überrascht hat mich die reißerische Aufmachung der Geschichte und die offen manipulative Darstellungsweise. Ich kenne bei der „Zeit“ großartige Kollegen, die ihren Beruf ernst nehmen. Das heißt auch: ihre Verpflichtung zur Wahrheit. In diesem Fall gaben die Autoren klar zu erkennen, dass sie bereit sind, für den „guten Kampf“, den sie führen, die Dinge auch mal zurechtzubiegen. Es geht um die Deutungshoheit über das Vermächtnis des deutschen Papstes. Ratzinger ist ein Mann der Vernunft, ein moderner Denker und Theologe, aber eben auch einer, der nie bereit war, die Grundlagen der katholischen Kirche dem Zeitgeist zu opfern. Insofern ist er für viele Leute unbequem. Mancher hofft, die neuen Attacken werden dem bald 95-jährigen den letzten Stoß geben. Das Kalkül ist: egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht – irgendwas wird schon hängenbleiben

 

„Niemand ist ohne Schuld, auch ein Papst nicht“

 

Die „Zeit“ schreibt: „Selbst wenn Ratzinger nicht Bescheid wusste, ist es seine Pflicht als Chef, davon Kenntnis zu haben“

Seewald: Das klingt dann in einer Anklageschrift schon ein wenig hilflos. Klar, ein Chef bleibt immer in Verantwortung, ob als Chef in der Kirche oder als Chef in einer Zeitungsredaktion. Niemand ist ohne Schuld, auch ein Papst nicht. Es gab damals in München jedoch keine Veranlassung, eine Untersuchung oder ein kirchliches Strafverfahren einzuleiten, wie die „Zeit“ das moniert, denn zuständig bleibt weiterhin H.s Heimatbistum Essen.

Als Zeugen für die Verfehlung Ratzingers werden zwei Professoren für Kirchenrecht aufgeführt.

Seewald: Es gehört zu den leichtesten Übungen von Journalisten, sofort irgendwelche Experten zur Hand zu haben, die das erwünschte Statement liefern. In kirchenpolitischen Fragen ist das zumeist der unvermeidliche Professor Thomas Schüller aus Münster. Er hat die Nachfolge von Hans Küng angetreten. Im „Zeit“-Artikel kritisieren die Angefragten dann das „krasse Versagen mehrerer Hierarchien im Umgang mit Missbrauchstaten“. „Und Benedikt?“, schieben die Zeit-Autoren ungeduldig nach, als ob es zur „Tatzeit“ bereits einen Benedikt XVI. gegeben hätte. Sie formulieren dann gleich selber, dass Verhalten „nicht von einem der Würde des Bischofsamtes angemessenen Verantwortungsbewusstsein“ gezeugt habe. Kirchenrechtsprofessor Bernhard Anuth springt immerhin mit einer Bestätigung bei: Ja, sagt er achselzuckend, „so handelt kein guter Hirte“.

Der „Zeit“-Artikel geht mit keinem Wort auf Ratzingers Verhalten im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch ein.

Seewald: Die Autoren hätten dann die Initiativen und Maßnahmen benennen müssen, die Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst auf den Weg brachte. Der Kampf gegen den Missbrauch in der katholischen Kirche gehört zu seinem wichtigen Vermächtnis. Hätten die Bischöfe seine Anweisungen befolgt, wäre man ein großes Stück weiter. Allein in den Jahren 2011 und 2012 entließ er 384 Priester und hochgestellte Verantwortliche, darunter den irischen Bischof und ehemaligen Sekretär von drei Päpsten, John Magee. Bereits 2008 und 2009 waren 171 Geistliche suspendiert worden. Im Februar 2019 stellte der „Anti-Missbrauchsgipfel“ des Vatikans unter Vorsitz von Papst Franziskus fest, dass sich die Fortschritte im Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche wesentlich der Vorarbeit Ratzingers verdanken. Der Jesuitenpater Hans Zollner, unter Papst Franziskus Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz der Minderjährigen, erklärte: „Benedikt XVI. war für mich ein Held, der den Missbrauch bekämpfte und alles Menschenmögliche tat, um Missbräuche in der Zukunft zu verhindern.“ Der italienische Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi urteilte: „Der Kampf Papst Benedikts XVI. gegen den Missbrauch war entschiedener und härter als der seines Nachfolgers.“ Benedikt XVI. habe „den Mantel des Schweigens weggezogen und seine Kirche gezwungen, den Blick auf die Opfer zu richten“.

Interview: Dr. Stefan Rammer

Quelle: Passauer Neue Presse vom Dienstag, 11. Januar 2021



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