Statt globaler Immunschwäche für einen neuen Geist der Ökologie des Menschen
Was Johann Wolfgang Goethe und Joseph Ratzinger verbindet
Regensburg, 16. Januar 2023
Die Welt ein großes Hospital. Zu dieser geradezu postmodern anmutenden These kommt bereits der Weimarer Dichterfürst Johann Wolfgang Goethe und fordert Mäßigung. Auch Joseph Ratzinger, Papst emeritus Benedikt XVI. sprach immer wieder von den Herausforderungen der Zukunft und wie man diese bändigen könne.
So unterschiedlich der Frankfurter Jurist und Dichter Johann Wolfgang Goethe und der aus Bayern stammende Joseph Ratzinger, der spätere und nun verstorbene Papst emeritus Benedikt XVI., in ihrem Zugang zur Welt und ihrem Denkansatz auch sein mögen, vor einer ausufernden Moderne warnten beide. Goethe hatte bereits im Jahr 1787 ein düsteres Zukunftsmodell der globalen Gesellschaft gezeichnet. Der bekennende Spinozist und Pantheist entwarf ein Schreckensszenario von einer Gesellschaft, die nichts anderes als ein großes Hospital sein könne. Damit kippte er nicht nur die positive Zukunftsvision wie sie Johann Gottfried Herder vorschwebte, sondern zeichnete mit seiner Prophetie der Zukunft zugleich einen pathologischen Befund, der für ihn in einer globalen Immunschwäche der Gesellschaft mündet.
Das „Veloziferische“, ein Neologismus Goethes, der für die mit der Moderne einsetzende unaufhaltsame Beschleunigung von Verkehr, Ökonomie und Nachrichtenwesen stand, bezeichnete er als das „größte Unheil unserer Zeit“. Dieses entwickele im Zeitalter rasanter Beschleunigung und eines ausufernden Kapitalismus eine Evolutions-Dynamik, die nicht zu Heil, sondern zu Unheil führe. Zeichen für das exponentielle Wachstum sind auch pandemische Katastrophen globalen Umfangs. Gründe für die „große Krankheit“ als Welthospital sieht Goethe einerseits in der subjektiven Selbstüberschreitung der Menschen, der mit seinem Machbarkeitswahn die Schleusen der Pandora geöffnet habe, andererseits in einem zivilisatorischen Prozess, der die große panthetisch-geordnete Natur ihrer Heiligkeit beraubt habe. Indem der Mensch die Natur zum „Spaße“ missbrauche, beschwört er indirekt ihre exponentiellen negativen Kräfte heraus, die sowohl in Form von Pandemien oder Umweltkatastrophen auf die große Kränkung antworten. Die Natur, dies weiß der Wissenschaftler Goethe, versteht keinen Spaß, „sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen“. Es sind und bleiben damit die großen Späße mit der Natur, die die Welt zunehmend zu jenem großen Hospital machen und letztendlich zu jener großen Immunschwäche führen. Doch so sehr auch die Diagnose Goethes beunruhigt, gibt er doch ein Krisenmanagement an die Hand. Nicht nur, dass er fordert, dass ein jeder ein „humaner Krankenwärter“ des anderen sein sollte, eine Idee des Humanen in der weltzeitlichen Katastrophe, sondern er bestärkt den Einzelnen darin, die Kräfte des Immunsystems einerseits „durch einen entschiedenen Willen“ zu stärken und verordnet andererseits ein Maßhalten und eine Entschleunigung. Dem großen Weltenbrand als Hospital stellt Goethe dann auch sein Programm der großen Gesundheit gegenüber. Er plädiert für eine Ökologie des Humanen und formuliert eine Art kategorischen Imperativ, der zu einem sorgenden Umgang mit der Natur aufruft. Dieser gebietet die Reinhaltung der Elemente wie Luft, Wasser und Erde. Und nur durch dieses „heilige Vermächtnis“ als ein globales „brüderliches Wollen“ vermag es gelingen, katastrophale klimatische und pandemische Hospitalisierungsfolgen für den Planeten Erde und seine Bewohner, wenn nicht endgültig zu beseitigen, so doch zu lindern.
Bereits in seinem Buch „Werte in Zeiten des Umbruchs“, Die Herausforderungen der Zukunft bestehen“ hatte Joseph Ratzinger nach dem Scheitern des real-existierenden Sozialismus einen Pragmatismus kritisiert, der „das Maximum an jetzt möglicher Befriedigung aus der Welt herausholen will“. Der säkulare Messianismus des Marxismus hat letztendlich nicht nur die Evolution an die Stelle Gottes treten lassen, sondern die ganze geschöpfliche Natur ihrer Transzendenz entkleidet. Damit, so die kritische Diagnose, sei das Gegründetsein von Natur und Vernunft als Sphären der schöpferischen Vernunft Gottes, wie es in der Rede im Deutschen Bundestag am 22. September 2011 heißt, ihrer onto-theologischen Begründung verlustig gegangen. Und dass diese säkulare Vernunft des Menschen die Natur zu ihren Zwecken missbraucht, darin sah Ratzinger den Grund der Entfremdung ihr gegenüber. Die Verkürzung der Natur auf eine rein materialistische Ebene macht diese letztendlich zum Spielball purer rationaler Erwägungen und beraubt sie damit ihres eigentlichen So-Seins als Bild der göttlichen Ordnung. Waren es für Goethe die „Späße“, die die Vernunft mit der Natur treibt, ist es für Ratzinger eben jener „positivistische Naturbegriff, der die Natur zu einer rein funktionalen diskreditiert. Und während für Goethe der Mensch amputiert ist, wenn sich die Zivilisation gegenüber der Natur entfremdet und „die menschliche Natur so angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt“ werden, „teils so außer Wirkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen“ vermag, bleibt es für Ratzinger die „positivistische Vernunft“, die „über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann und die Betonbauten ohne Fenster gleicht, „in denen wir uns Klima und Licht selber geben. Doch beides „nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen.“ Während der Naturwissenschaftler Goethe für ein aristotelisches Maßhalten im Umgang mit der Natur plädiert, fordert Ratzinger, sich wieder auf die Vorräte Gottes zu besinnen. „Wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.“ Dazu aber bedarf es einer objektiven Vernunft, die sich in der Natur zeigt und einen Creator Spiritus voraussetzt. Die Natur, so warnte der Papst, sei eben nicht nur Materie, „nur Material für unser Machen, sondern die Erde trägt selbst ihre Würde in sich – und darum gebietet es sich auf diese zu hören. „Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten.“
Wie einst Goethe ein ökologisches Bewusstsein forderte, um dem großen Hospital der Welt zu entkommen, die sich sowohl auf eine Ökologie der geschaffenen Welt als auch auf eine Ökologie des Menschen wieder berufen müsse, so warnte Ratzinger vor einer Manipulation durch die pragmatische Vernunft, die die Natur nicht als Zweck an sich selbst begreift. Während für den katholischen Theologen aus Markl am Inn eine Erneuerung des ökologischen Bewusstseins nur durch eine Erneuerung des Glaubens vollziehen kann, wo der Mensch „auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat, bleibt die Heilung der Erde bei Goethe eine Aufgabe des tätigen Menschen, der sich aus dem selbstgemachten Schlamassel seiner globalen Immunschwäche nur selbst erlösen kann.
Text: Dr. Stefan Groß, Foto: altrofoto/jas