Seminarist Noah Walczuch über sein Auslandsjahr in Jerusalem und Rom
Nach kurzer Zeit ins Exil
Regensburg, 3. Dezember 2024
Als Teilnehmer des Theologischen Studienjahrs Jerusalem teilt Noah Walczuch, Seminarist des Bistums Regensburg, seine Erfahrungen aus dem bisherigen Auslandsjahr. Zwischen den Herausforderungen der politischen Situation in Jerusalem, der unerwarteten Ausreise und dem Neuanfang in Rom berichtet er von Erlebnissen in zwei Städten, die unterschiedlicher kaum sein könnten und dennoch in ihrer Vielfalt faszinieren.
Wir wussten, dass die politische Lage angespannt war. Dass ein Raketenangriff auf Jerusalem möglich sein könnte. Doch nichts hätte uns auf den 1. Oktober vorbereiten können. Was zunächst wie ein normaler Abend im „Beth Josef“, unserem Studienhaus in Jerusalem, begann, verwandelte sich binnen Minuten in eine surreale Wirklichkeit: Sirenen, Warnmeldungen, ein greifbares Gefühl von Bedrohung. Ohne Hektik, aber mit klopfenden Herzen begaben wir uns in den Luftschutzbunker – genau wie wir es in den wenigen Wochen zuvor gelernt hatten. Während man bei einem Feueralarm das Gebäude verlassen soll, heißt es bei einem Raketenalarm: ins tiefste Innere. Die schwere Tür fiel ins Schloss, die schrillen Warnungen unserer Smartphones hallten durch den Raum, bis einige begannen, ihre Geräte auszuschalten. Stille. Dann die ersten dumpfen Explosionen – Raketen, die auf Jerusalem zusteuerten und vom Iron Dome, Israels Raketenabwehrsystem, abgefangen wurden. In diesem Moment wurde uns klar, dass unser Traum von neun Monaten in Israel abrupt zu Ende gehen würde. Stattdessen lag Rom als neuer Studienort vor uns. Doch an diesem Abend im Bunker begannen wir zu beten, zu singen, einander zu trösten. Fast eine Stunde später kam die Entwarnung, doch die Angst saß tief. Einige von uns entschieden sich, im Bunker zu übernachten.
Jerusalem: Eine Stadt voller Gegensätze
Am nächsten Morgen wirkte Jerusalem komplett unverändert: Händler öffneten ihre Geschäfte, Familien flanierten durch die Parks, Gebete erklangen an Straßenecken. Aber eine Sache war für uns anders: Die Zeit in Israel war vorbei. Aus verbleibenden sieben Monaten im Heiligen Land waren noch sieben Tage geworden. Trotzdem: Ich blicke zurück mit einem Herzen voller Dankbarkeit. Dankbar für die Erlebnisse, die Begegnungen und die Lektionen, die mir diese kurze, aber intensive Zeit in Jerusalem geschenkt haben.
Überwältigt vom ersten Moment
Es war der 17. August, als ich in Tel Aviv landete und voller Vorfreude meinen ersten Blick auf Jerusalem warf. Die Stadt überwältigte mich vom ersten Moment an. Der warme Sandstein der Häuser schimmerte in der Abendsonne, die tiefen Grüntöne der Pflanzen verliehen der Umgebung eine fast meditative Ruhe, und die sommerliche Wärme legte sich wie ein sanfter Schleier auf mein Gesicht. Vom Krieg war nichts zu spüren, obwohl ich wusste, dass der Gaza-Streifen nur etwa 70 Kilometer entfernt lag. Tausende Tote.
Das „Beth Josef“, mein Zuhause für die kommenden Monate, liegt direkt neben der majestätischen Dormitio-Abtei auf dem Berg Zion. Dieser Ort mit seinen gepflegten Gärten wirkt wie ein Paradies – ein Ort der Ruhe und Besinnung inmitten einer Stadt voller Gegensätze. Schon am ersten Abend meiner Ankunft wurde ich von einer besonderen Atmosphäre empfangen: Das Ende des Schabbats wurde beim Davidsgrab, das nur wenige Schritte entfernt liegt, ausgelassen gefeiert. Orthodoxe Juden tanzten im Kreis, sangen traditionelle Lieder und die Klänge ihrer Instrumente erfüllten die Nacht. Diese Feierlichkeit, die Freude und die Selbstverständlichkeit des jüdischen Lebens auf den Straßen beeindruckten mich tief. Doch auch die Schattenseiten dieses religiösen Alltags blieben mir nicht verborgen. Man spürte manchmal, dass gerade im Heiligen Land, wo die Wiege des Christentums liegt, Christen oft nur eine kleine und nicht selten angefeindete Minderheit sind. Diese Erfahrung hat meinen Glauben und meinen Blick auf die letzten Jahre im katholischen Bayern geprägt. Sie hat mir gezeigt, wie wertvoll es für mich als Christ ist, in einer Gesellschaft zu leben, in der der Sonntag statt dem Samstag als Ruhetag selbstverständlich ist und ich überall in den katholischen Gottesdienst gehen kann. Gleichzeitig fiel mir auf, mit welcher Selbstverständlichkeit ich all dem begegne.
Unvergessliche Eindrücke von Grabeskirche und Felsendom
Die nächsten Wochen waren geprägt von intensiven Begegnungen. Meine Studiengruppe, bestehend aus acht katholischen und acht evangelischen Theologiestudenten und -studentinnen, erwies sich als ein wahres Geschenk. Trotz lebhafter theologischer Diskussionen und oft unterschiedlicher Ansichten verstanden wir uns außerordentlich gut. Ebenso lernte ich die Benediktinermönche der Dormitio-Abtei besser kennen – Abt Nikodemus und Pater Matthias, dem ich Grüße von vielen aus dem Bistum Regensburg überbrachte. Unser Studienprogramm ließ kaum eine freie Minute zu. Stadtführungen, Vorlesungen und Exkursionen füllten unsere Tage. Theologiedozenten aus Deutschland, Israel und Palästina eröffneten uns neue Perspektiven. Gleichzeit bewegten wir uns in Jerusalem auf den Spuren Jesu. Jetzt verstand ich die Aussage, dass das Heilige Land ein „Fünftes Evangelium“ darstellt. Die Geschichte und die Geografie des Heils treffen hier aufeinander und ermöglichen uns eine völlig neue Lesart der biblischen Texte.
Einige Momente werden mir für immer in Erinnerung bleiben: die bewegende Nacht in der Grabeskirche, mehrere Stunden direkt am Heiligen Grab, die Gespräche über die dramatischen Lebensbedingungen im annektierten Ostjerusalem und die Führung über den Tempelberg mit einem exklusiven Blick in den Felsendom – ermöglicht durch unseren Hausmeister Amschat. Ein Höhepunkt, auf den ich mich besonders gefreut hatte, war die legendäre siebentägige Wüstenwanderung. Doch mit der plötzlichen Umsiedlung nach Rom war klar: All das würde nicht wie geplant stattfinden. Zumindest vorerst.
Neuanfang in der Ewigen Stadt
Kaum hatte ich Rom erreicht, fiel mir der Kontrast sofort auf: Die Luft fühlte sich anders an, die Grüntöne der Landschaft leuchteten wieder in satten Farben, und statt 29 erwarteten uns angenehme 19 Grad. Unser neues Zuhause war das Mutterkloster der Benediktiner, Sant’Anselmo – ein Ort, der uns mit einer beeindruckenden Gastfreundschaft empfing. Doch in den ersten Tagen war die Trauer über das abrupte Ende unserer Zeit in Jerusalem noch präsenter als die Freude über das, was vor uns lag. Von der Heiligen Stadt in die Ewige Stadt – allmählich begann ich zu begreifen, welche Chancen dieser Neuanfang bot. Statt die Vielfalt der Religionen in Jerusalem weiter zu erkunden, durften wir hier die Vielfalt der katholischen Weltkirche erleben, die in Rom auf besondere Weise zusammenkommt.
Ein erster Höhepunkt war die Weltsynode, die genau in den ersten Wochen unserer Ankunft tagte. Es war eine außergewöhnliche Gelegenheit, Synodenväter und -mütter persönlich zu treffen und mit ihnen über die Gegenwart und Zukunft der Kirche zu sprechen. Darüber hinaus führten wir Gespräche mit dem Jerusalemer Patriarchen Pierbattista Pizzaballa über seinen Blick auf die Lage im Nahen Osten, Kardinal Kurt Koch über die Ökumenische Dimension der Christen auf der Welt oder Kardinal Fernando Filoni, den Großmeister der Grabesritter. In Rom bot sich zudem die einzigartige Chance, Heiligenfeste direkt an ihren Gräbern oder das Jubiläum von 1700 Jahren Lateranbasilika in der Basilika selbst zu feiern. Rom ermöglichte neben dem studentischen Alltag noch ganz neue Möglichkeiten.
Rückkehr ins Heilige Land scheint greifbar
Während Weihnachten näher rückt, scheint die Zeit in Rom wie im Flug zu vergehen. Doch dann erreichte uns eine Nachricht, die uns alle in Aufbruchsstimmung versetzte: Die Hisbollah und Israel stimmen einem Waffenstillstand zu. Die Wahrscheinlichkeit, nach Jerusalem zurückzukehren, steigt. Weihnachten in Bethlehem scheint möglich. Diesmal wird das Packen der Koffer von Freude begleitet – und doch schwingt ein Hauch von Wehmut mit. Rom hat uns in kurzer Zeit viel gegeben, und ich werde diese Stadt mit ihren besonderen Begegnungen, ihrer Geschichte und ihrem pulsierenden Leben vermissen. Ganz sicher. Aber nun heißt es: zurück ins Heilige Land, zurück nach Hause – für einen Neuanfang im vertrauten Jerusalem.
Text und Fotos: Noah Walczuch
(kw)