Göttingen / Regensburg, 13. Januar 2025.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warnt nicht nur vor drohender Gewalt gegen Christen, sondern auch gegen Angehörige der alawitischen Glaubensgemeinschaft in Syrien. Die neuen sunnitisch-islamischen Machthaber führen Razzien in alawitischen Ortschaften im Westen des Landes durch. Die eher schiitisch orientierten Alawiten, zu denen auch der gestürzte Diktator Assad gehörte, bilden in einem Landstreifen im Westen Syriens rund um die Stadt Latakia die Bevölkerungsmehrheit. Dort sind sie seit Jahrhunderten ansässig, und kurzzeitig, vor etwa 100 Jahren, hatten sie dort sogar einen eigenen Staat. Alawiten gibt es seit dem 9. Jahrhundert.
Nach Angaben der in Großbritannien ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (SOHR) sollen sunnitische Moslems, etwas irreführend als „Islamisten“ bezeichnet, seit Assads Sturz am 8. Dezember 2024 mindestens 157 Menschen erschossen haben, die meisten davon Alawiten. Mehr als 9.000 Alawiten sollen in einem Gefängnis im zentralsyrischen Hama und in einem weiteren bei Damaskus inhaftiert sein. „Diese Alawiten sind Angehörige der syrischen Armee, die ohne konkreten Grund festgehalten werden. Es besteht die Gefahr, dass die Islamisten sie foltern“, berichtete GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido, „Racheakte der neuen islamistischen Machthaber beänstigen die alawitische Gemeinschaft. Sie können zu einem bewaffneten Aufstand führen, der das Land weiter destabilisieren würde.“
Wegen Racheakten sunnitischer Moslems, die vom NATO-Mitglied Türkei unterstützt werden, wollen Kurden, Drusen und Angehörige anderer Volksgruppen ihre Waffen nicht abgeben. Viele Kommandeure der Milizen, die jetzt in Syrien an der Macht sind, kämpften jahrelang in den Reihen des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS). „Deshalb ist es gefährlich, die Aufarbeitung der Verbrechen an der syrischen Bevölkerung unter Assad in die Hände dieser Islamisten zu legen“, erklärte Sido, „Kriegsverbrecher können keine Kriegsverbrechen aufklären. Sie können sich nur rächen. Erfahrungen aus anderen Teilen der Welt zeigen, dass solche Racheakte in schlimmste Verbrechen bis hin zum Völkermord münden können. Nur eine unabhängige Justiz kann eine Aufarbeitung leisten, die auch die zahlreichen Kriegsverbrechen der Islamisten an Kurden, Armeniern, Assyrern/Aramäern, Alawiten, Drusen, Christen und Yeziden berücksichtigt.“
Die deutsche Bundesregierung, die seit Jahren gute bis sehr gute Kontakte zu den dogmatisch-sunnitischen Moslems in Syrien pflegt, dürfte die regierenden Islamisten nicht verharmlosen und müsste sich für ein Ende ihrer Racheaktionen einsetzen, so warnen Menschenrechtler nun. Genügend Hinweise von außen könnten vielleicht dazu beitragen, dass die alawitische Gemeinschaft ihren Platz auch in einem zukünftigen Syrien haben wird. Denn gemeinsam mit Kurden, Drusen und andere Minderheiten bildet diese Bevölkerungsgruppe ein Gegengewicht zu dogmatischen Sunniten, deren Führung ein islamisches Kalifat anstrebt.
Die syrischen Alawiten halten sich dagegen an die universellen Werte der Allgemeinen Menschenrechte, der Glaubensfreiheit und teils auch der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die mit ihnen verwandten Aleviten in der Türkei sind aus westlicher Sicht nicht so fortschrittlich. Auch wenn es also deutlich Unterschiede in den Traditionen gibt, verbindet die Alawiten in Syrien mit den Aleviten in der Türkei eine lange Leidensgeschichte. Immer wieder wurden sie von ihren sunnitischen Nachbarn verfolgt und massenhaft ermordet. Wenn sich das in Syrien jetzt fortsetzen sollte, droht der Konflikt auch auf Deutschland überzugreifen. Mindestens 800.000 Aleviten leben hierzulande. Die meisten stammen aus der Türkei, wo es im übrigen etwa 20 Millionen ihrer Glaubensgeschwister gibt.
Text: Kamal Sido
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