Person der Woche – Dr. theol. habil. Dietmar Schon O.P.

Ostkirchen: für Europas ökumenische Zukunft unverzichtbar


Regensburg, 5. November 2025

Die Ostkirchen spielen im Europa des 21. Jahrhunderts eine deutlich größere Rolle, als vielen im Westen bewusst ist. Ihre Präsenz eröffnet neue Perspektiven auf Theologie, Kultur und geopolitische Identität und verlangt eine vertiefte Auseinandersetzung auf akademischer wie kirchlicher Ebene. Darüber sprachen wir mit dem Direktor des Ostkircheninstituts der Diözese Regensburg, Dr. theol. habil. Dietmar Schon O.P.

Welche Rolle spielen die Ostkirchen heute für das Verständnis eines nicht nur konfessionell, sondern auch kulturell und geopolitisch erweiterten Europas, und wie verändert dieses Verständnis den ökumenischen Diskurs im Westen?

Leider steht noch nicht im allgemeinen Bewusstsein, welche Bedeutung die Ostkirchen inzwischen auch bei uns im Westen erlangt haben. In Deutschland geht die Zahl orthodoxer und orientalisch-orthodoxer Gläubiger in die Millionen. 2010 wurde eine orthodoxe Bischofskonferenz eingerichtet. Allein in Regensburg gibt es inzwischen mehr als zehn ostkirchliche Gemeinden. Nimmt man den europäischen Kontext in den Blick, gehören mit Griechenland, Rumänien und Bulgarien traditionell orthodox geprägte Länder zur EU; weitere EU-Länder haben eine beträchtliche orthodoxe Minderheit. Eine Reihe orthodoxer Landeskirchen hat eine Vertretung bei den EU-Institutionen in Brüssel eingerichtet. Selbstverständlich bedingt eine starke orthodoxe Präsenz auch den Wunsch, sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen – auf EU-Ebene wie auch in Deutschland. Beim Thema „Ökumene“ kommt vielen Menschen in Deutschland spontan nur die Verständigung zwischen evangelischer und römisch-katholischer Kirche in den Sinn. Das greift zu kurz; die Ostkirchen sind längst zu einem Faktor geworden und erwarten zu Recht, dass sie gehört und einbezogen werden.

Inwiefern kann die Analyse der ostkirchlichen Traditionen – ihrer Theologie, Liturgie, Spiritualität und Kirchenverfassung – dazu beitragen, blinde Flecken im westlichen Kirchenverständnis aufzudecken und neu zu akzentuieren?

Die Beschäftigung mit den ostkirchlichen Traditionen zeigt zweierlei auf: ihre Eigenständigkeit und die Tatsache großer Nähe insbesondere zur römisch-katholischen Kirche. Beide Elemente bedingen sich gegenseitig. Dies vorausgesetzt, geht es nicht um „blinde Flecken“. Es geht vielmehr um Begegnung und Austausch, denn beide Traditionszweige verfügen über wichtige Einsichten, die den jeweils anderen Partner bereichern können. Das Ideal wäre ein wechselseitiges Geben und Nehmen – selbstverständlich aus freiem Entschluss. Ein leicht wahrnehmbares Beispiel sind die ostkirchlichen Ikonen, die in vielen unserer Kirchen einen festen Platz erhalten haben und die westliche Spiritualität um einen ostkirchlichen Schatz bereichern. In ähnlicher Weise gibt es auf beiden Seiten viele Lernprozesse, auch wenn sie wenig spektakulär sind.

Wie verändert der Blick auf die Ostkirchen den Umgang mit gegenwärtigen Krisenräumen, etwa in der Ukraine, im Nahen Osten oder im Kaukasus, in denen Religion, nationale Identität und geopolitische Interessen eng verwoben sind?

Die aktuellen Krisenherde befinden sich in kulturell, religiös, ethnisch und gesellschaftlich sehr unterschiedlich geprägten Regionen. Gemeinsam ist ihnen vor allem, dass sie seit Jahrhunderten Schauplatz wiederkehrender Konflikte sind – unter anderem bedingt durch ihre Lage an kulturellen Schnittpunkten und ihre Grenzsituation zu wechselnden Machtblöcken. Die täglichen Nachrichten lassen nur sehr bedingt erkennen, welche Auswirkungen die genannten Konflikte auf die Zukunft der christlichen Kirchen und ihre Präsenz haben. Daran zu erinnern ist eine wichtige Aufgabe christlicher Solidarität.

Welche spezifischen Aufgaben sieht das Ostkircheninstitut Regensburg heute darin, zwischen Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft zu vermitteln – insbesondere im Spannungsfeld zwischen historischer Forschung, aktueller Politik und seelsorglicher Praxis?

Die Satzung des Ostkircheninstituts verpflichtet es insbesondere auf Bemühungen im ostkirchenkundlichen und ökumenischen Fachbereich, um das Verständnis von Geschichte, Traditionen und Gegenwart der Ostkirchen zu vertiefen. Das geschieht natürlich am besten im direkten Kontakt mit ihnen. Damit verbunden ist die Chance, auch katholische Positionen im ostkirchlichen Kontext bekannt zu machen. Als praktikabler Weg hierzu haben sich Kontakte zu ostkirchlichen theologischen Institutionen und gemeinsam vorbereitete Tagungen theologisch-wissenschaftlichen Zuschnitts erwiesen.

Welche Bedeutung haben ostkirchliche Sozialethiken – etwa die Dokumente zur gesellschaftlichen Verantwortung der Orthodoxie – für eine europäische Werte-Debatte?

Der Bereich Sozialethik ist meines Erachtens in seiner Relevanz für eine ökumenische Annäherung zwischen Ostkirchen und römisch-katholischer Kirche noch nicht hinreichend entdeckt. In den Bänden 6 und 8 der „Schriften des Ostkircheninstituts“ wurden deshalb die Frage ethischer Verantwortung in den Mittelpunkt gestellt. Die betreffenden Untersuchungen haben große inhaltliche Schnittmengen zum sozialethischen Dokument des Ökumenischen Patriarchats aufgezeigt. Die in diesem Bereich bestehende Konvergenz hat bereits gemeinsame orthodox-katholische Stellungnahmen sozialethischen Gehalts ermöglicht. Diesen Weg fortzusetzen wäre ein ökumenisches Desiderat.

Braucht es eine Neudefinition des ökumenischen Dialogs in Zeiten einer „Zeitenwende“?

Kirchen sind trotz ihres geistlichen Grundcharakters keine der Realität enthobenen Größen, sondern immer auch gesellschaftliche Akteure. Als solche sind sie bemüht, ihren christlichen Standpunkt zu Gehör zu bringen. Das gilt für Ost und West gleichermaßen – sowohl aktuell wie historisch. Ökumenischer Dialog bedarf keiner Neudefinition, weil er nicht politisch, sondern theologisch ausgerichtet ist; zudem setzt ökumenischer Dialog voraus, dass beide Partner bereit sind, den jeweils anderen in seiner konkreten Situation wahrzunehmen und zu verstehen.

Welche wissenschaftlichen Defizite bestehen aus Ihrer Sicht in der deutschsprachigen Forschung über Ostkirchen, und welche Beiträge kann ein Institut wie das Regensburger Ostkircheninstitut hier strukturell und methodisch leisten?

Bedingt durch das II. Vatikanische Konzil hatte die katholische Forschung zu den Ostkirchen eine starke Belebung erfahren. Viele der seither entstandenen Institutionen sind mittlerweile von Mittelkürzungen betroffen oder sogar ganz gestrichen worden, wie zum Beispiel der Lehrstuhl für Ostkirchenkunde an der Universität Würzburg. Ein ähnliches Bild ergibt sich hinsichtlich Publikationen ostkirchlicher Ausrichtung, von denen viele in jüngerer Zeit eingestellt wurden. Die öffentliche Aufmerksamkeit – auch in der Politik – hat sich anderen Themen zugewandt. In der Folge gibt es eine wachsende Diskrepanz: Einerseits schrumpft katholischerseits die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ostkirchen, andererseits wächst der Bedarf an fachspezifisch qualifizierten Ansprechpartnern. Das Regensburger Ostkircheninstitut kann natürlich nur bescheidene Beiträge leisten, das Bewusstsein für die Ostkirchen wach zu halten und Kenntnis über ihre aktuelle Entwicklung in den Diskurs einzubringen. Dennoch hat es in seiner 2016 erfolgten Neukonzeption einen gewissen Symbolcharakter „gegen den Trend“, der in orthodoxen Kreisen durchaus wahrgenommen wird.

Viele ostkirchliche Theologien legen einen starken Akzent auf Mystik, Erfahrung und Liturgie. Welche Impulse ergeben sich daraus für westliche Kirchen, die zunehmend mit Säkularisierung und Traditionsabbruch konfrontiert sind?

Diese Frage bedarf einer Vorbemerkung. Zum einen sind Mystik, Erfahrung und Liturgie kein orthodoxes Alleinstellungsmerkmal, sondern gehören genauso zur katholischen Kirche. Zum anderen findet Säkularisierung nicht nur im Westen, sondern auch im Osten statt. Auch insoweit gilt, dass Stereotypen der Feind der Wahrheit sind. Ökumenische Begegnung vermag Einseitigkeiten in der Sicht des jeweils anderen Partners aufzudecken und wechselseitige Lernprozesse zu stimulieren. Darauf fußt zwischenkirchliche Annäherung.

Warum ist es – theologisch, kirchenpolitisch und kulturell – heute dringlicher denn je, Ost- und Westkirche nicht nur zu vergleichen, sondern in ein beständiges Gespräch zu bringen, das die Einheit in der Vielfalt nicht als Ideal, sondern als realen kirchlichen Auftrag versteht?

Das Motto „Einheit in Vielfalt“ ist zwar eine Kurzformel, steht aber von Anfang an nicht bloß für einen frommen Wunsch, sondern für einen kirchlichen Auftrag, den es im Licht der Weisung Christi umzusetzen gilt. Die Dringlichkeit, diesen Auftrag anzunehmen, unterstreicht die jüngste gemeinsame Erklärung von Papst Leo und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios anlässlich des Jubiläums zum Konzil von Nizäa. Darin wird auf die „vielen Herausforderungen unserer Zeit“ Bezug genommen, zu denen insbesondere das Bemühen um Frieden und Verständigung gehört, aber auch der Aufbau einer gerechteren und solidarischeren Welt. Es liegt auf der Hand, dass ein gemeinsames Zeugnis hierfür größere Aussagekraft besitzt und Kräfte bündelt. Das Bemühen um kirchliche Einheit ist deshalb kein Luxus, sondern unverzichtbar.

Fragen und Interview: Stefan Groß

(sig)



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