Regensburg, 8. Dezember 2023
Die katholische Kirche feiert am 8. Dezember – neun Monate vor dem Fest „Mariä Geburt“ am 8. September – das Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria. Für viele Gläubige ist der theologische Sinngehalt dieses Hochfestes nicht ganz einfach zu verstehen. Was hat es also mit diesem Marienfest auf sich?
Zentrale Glaubenslehren der Kirche
In ihrem Roman „Gottesdiener“ hat Petra Morsbach die Lebensgeschichte des Priesters Isidor Rattenhuber erzählt. Schelmisch, aber liebevoll schildert die Autorin dabei „die wirre Logik, die Isidor anwenden muss, um Lehren der Kirche zu verteidigen, an die er selbst nicht glaubt, wie etwa die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau“ (P. Morsbach, Gottesdiener, Frankfurt a. M. 2004). Ist Isidor Rattenhuber im Hinblick darauf, dass er an zentrale Glaubensaussagen der Kirche nicht mehr glaubt, eine Ausnahmeerscheinung? Oder steht er als repräsentative Figur für viele andere in der Kirche? Ist es tatsächlich um die zentralen Glaubenslehren der katholischen Kirche, speziell um die Mariendogmen (Dogma = zentrale Glaubenslehre), so bestellt, dass wir sie nur mit „wirrer Logik“ verteidigen können? Wäre das tatsächlich der Fall, dann müssten Theologen und andere Gläubige höchst alarmiert sein. Auch wenn die Lage diesbezüglich nicht so dramatisch ist, wie es Petra Morsbach suggeriert, scheint es doch notwendig zu sein, die Mariendogmen der Kirche in der Reflexion des Glaubens immer wieder neu in den Blick zu nehmen.
Maria und das Geheimnis Christi
Leo Kardinal Scheffczyk (1920-2005) weist mit Recht darauf hin, dass die Marienlehre primär als Entfaltung der Christuswahrheit anzusehen ist. Dies hat auch Karl Barth (1886-1968) erkannt. Dieser protestantische Theologe kommt zu der Einsicht, dass die katholische Marienlehre „untrennbar mit der gesamten übrigen katholischen Theologie zusammenhängt“ (K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I, 2, 157). Da das Verhältnis der Gottesmutter zum Christusgeheimnis von der Gnade Gottes und vom freien Willen des Menschen bestimmt war, leuchten an der Gestalt Marias auch andere wesentliche Glaubensgeheimnisse auf: das Geheimnis der Mitverantwortung des Menschen bei der Erlösung, das Geheimnis der in jungfräulicher Mütterlichkeit empfangenden Kirche, das Geheimnis der Erlösung und der Gnade, das Geheimnis der Vollendung, die auch das Leibliche umfasst. All diese Glaubenswahrheiten laufen in der Person Marias „wie in einer lebendigen Spitze“ (L. Scheffczyk, Katholische Glaubenswelt, Aschaffenburg 1978, 272) zusammen.
Maria und das Geheimnis der Kirche
In diesem Zusammenhang ist auch der kirchliche Aspekt aller Mariengeheimnisse zu unterstreichen: Die „Unbefleckte Empfängnis“ (ein anderer Ausdruck für „ohne Erbsünde empfangen“) der Gottesmutter ist ein reales Bild der wesentlichen Heiligkeit der Kirche, die auch durch die Sündigkeit ihrer Glieder nicht angetastet werden kann. Die Glaubenslehre von der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria ist „Ausdruck der Gewissheit des Glaubens, dass es die heilige Kirche wirklich gibt – als Person und in Person. Sie ist in diesem Sinn Ausdruck für die Heilsgewissheit der Kirche“ (Joseph Ratzinger, Die Tochter Zion. Betrachtungen über den Marienglauben der Kirche, Einsiedeln1977, 70).
Die ohne Erbsünde empfangene Jungfrau und Gottesmutter
Angesichts der Erwählung Marias zur Gottesmutterschaft stellt sich die theologische Frage nach dem Anfang ihres Lebens. Die darauf antwortende Glaubenslehre, nämlich das Dogma von der Bewahrung Marias vor dem Makel der Erbsünde vom ersten Augenblick ihres Daseins an („Maria Immaculata“, d. h. Maria, die Makellose) ergibt sich aus einem theologischen Folgerungssinn im Glaubensbewusstsein der vom Heiligen Geist geleiteten Kirche. Es handelt sich dabei nicht um eine quantitative Vermehrung einzelner Glaubensinhalte, sondern um die ausdrückliche Erfassung der inneren Voraussetzungen der Tatsache der jungfräulichen Gottesmutterschaft. Maria konnte ihr freies Ja zu ihrer Berufung nur sprechen unter der Voraussetzung der ihr verheißenen Gnadenfülle (vgl. Lk 1,28). Sie war in ihrer menschlichen Existenz von Anfang an von der Gnade Jesu Christi so umfangen, dass sie von der Erbsünde nicht befreit werden musste, sondern vor ihr bewahrt blieb. Dennoch ist es nicht die Gnade des paradiesischen Anfangs, sondern die Erlösungsgnade Christi, die den Willen und das Handeln Marias trug.
Die Heilige Schrift und die Lehre von der Erbsündenfreiheit Marias
Zur biblischen Begründung des Dogmas von der Erbsündenfreiheit Marias können keine direkten Zeugnisse der Heiligen Schrift angeführt werden. Es lassen sich nur Texte nennen, die diese verbindliche Glaubenslehre unentfaltet einschließen. Von Bedeutung sind dabei jene Zeugnisse, die alles Geschehen in der Welt im erwählenden Ratschluss Gottes verankert sehen, wie etwa die im Mutterleib anhebende Berufung der Propheten (Jer 1,5; Jes 49,1). Ähnliches gilt aus neutestamentlicher Sicht für die Kirche. Sie ist vor aller Zeit dazu bestimmt, im Wirkbereich Christi gerecht und heilig zu leben (Eph 1,3-14). Paulus spricht vom „Maß des Glaubens“ (Röm 12,3), das Gott jedem Menschen zugeteilt hat. Maria wurde von Gott zur Mutter des Erlösers erwählt. Nicht nur diese Berufung, sondern auch die Bereitschaft, ihr zu entsprechen, beruht auf einer von Gott geschenkten Gnade. Die Jungfrau bedarf der inneren Zurüstung, um die Messias-Mutterschaft glaubend annehmen und bestehen zu können.
Maria – als Tempel Gottes geheiligt
Mit Bezug auf die Menschwerdung Christi begegnet schon sehr früh die Einsicht, dass die Mutter des Messias als Tempel Gottes geheiligt und von der Sünde gereinigt werden musste. So finden wir beim Bischof und Kirchenvater Irenäus von Lyon (+ um 200) die Vorstellung, dass Maria bei der „Verkündigung des Herrn“ von der Sünde gereinigt wurde. Erwähnt sei auch Patriarch Sophronius von Jerusalem (560-638), der in der Kirche des Ostens einer der bedeutendsten Zeugen für die Entwicklung der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis ist. Als bedeutender Theologe des Westens, der die Sündenfreiheit Marias vertreten hat, ist der heilige Augustinus (354-430) zu nennen. Er verweist um der Heiligkeit Christi willen auf die Heiligkeit seiner Mutter.
Erlösungsbedürftigkeit und Heiligung Marias
Treffender als Augustinus sieht Anselm von Canterbury (um 1033-1109) den Kern des von Adam herkommenden Erbes in der fehlenden Gnade des paradiesischen Anfangs vor dem Sündenfall. Mit dieser Sicht lässt sich die Heiligung der Gottesmutter als eine ursprüngliche Begnadung begreifen. Wie die ursprüngliche Begnadung und Heiligung Marias mit ihrer grundsätzlichen Erlösungsbedürftigkeit zu verbinden sei, bildet die große Streitfrage der mittelalterlichen Theologie. Sie wurde von den Dominikanern, die besonders die Erlösungsbedürftigkeit Marias betonten, und den Franziskanern, die vor allem ihre ursprüngliche Heiligung herausstellten, intensiv erörtert. Thomas von Aquin (1225-1274) geht in diesen theologischen Fragestellungen davon aus, dass Maria vor ihrer Geburt im Schoß ihrer Mutter geheiligt wurde. Thomas vermag diese Begnadung allerdings noch nicht mit dem Augenblick ihres Lebensbeginns („ohne Erbsünde empfangen“) zu verbinden und hält somit an einem zeitlichen Unterschied zwischen Empfängnis und Heiligung fest.
Maria – in die ursprüngliche Gottesgemeinschaft hinein empfangen
Einen theologischen Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Frage nach der inneren Beziehung zwischen der Erlösungsbedürftigkeit und der Heiligung Marias erzielt der Franziskaner Johannes Duns Scotus (um 1266-1308). Wie für Thomas von Aquin besteht auch für ihn das Wesen der Erbsünde im Fehlen der dem Menschen eigentlich geschuldeten Gnade des Anfangs. Aufgrund seines besonderen theologischen Ansatzes gelangt Duns Scotus zu seiner Sichtweise von der „vorausgreifenden Erlösung und Heiligung Marias“. Die Erlösung Marias muss – so der Franziskanertheologe – nicht in dem Sinne gedacht werden, dass sie nachträglich von der Erbsünde gereinigt wurde. Erlösung kann im Falle der Gottesmutter auch als gnadenhafte Bewahrung vor der Sünde Adams verstanden werden. Die der erlösungsbedürftigen Menschheit angehörende Mutter Jesu wurde – so Duns Scotus – um der Ehre ihres Sohnes willen durch sein Erlösungsverdienst vor dem zerstörerischen Einfluss der Erbsünde bewahrt und in die ursprüngliche Gottesgemeinschaft hinein empfangen. Erst nach längerer Zeit fand diese Sichtweise die allgemeine Zustimmung der Theologen.
Aussagen des päpstlichen Lehramtes
Mit Blick auf die große Marianische Bewegung des 19. Jahrhunderts ließ Papst Pius IX. 1849 bezüglich der Erbsündenfreiheit der Gottesmutter eine Umfrage unter den Bischöfen in der ganzen Welt durchführen. Von den 603 Bischöfen, die geantwortet haben, sprachen sich 546 für eine Dogmatisierung der Immaculata-Lehre aus. Bemerkenswert war dabei die Zurückhaltung im deutschsprachigen Raum. Am 8. Dezember 1854 verkündete Papst Pius IX. in seinem Schreiben „Ineffabilis Deus“ („Der unaussprechliche Gott“) Folgendes: „Die Lehre, dass die allerseligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis aufgrund einer besonderen Gnade und Auszeichnung von seiten des allmächtigen Gottes, im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt blieb, ist von Gott geoffenbart und muss deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft geglaubt werden“. Damit hat Papst Pius IX. unter breiter Zustimmung der Bischöfe und der Gläubigen die Entwicklung dieser Glaubenslehre zum Abschluss gebracht und für die gesamte Kirche eine verbindliche Glaubensaussage vorgelegt. Bedeutsam ist diese Glaubenslehre auch für das Verständnis der Erwählung und der Gnade für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Die von Gott geschaffene Freiheit wird durch die gnadenhafte Vorherbestimmung zum Heil nicht eingeschränkt, sondern zu ihrem eigenen Vollzug motiviert.
Marias einzigartige Heiligkeit
Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt die Glaubenslehre von 1854 auf und sieht Maria „vom ersten Augenblick ihrer Empfängnis an im Glanz einer einzigartigen Heiligkeit“ (Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ [1964], Nr. 56). Neben dem Bezug zum ersten Menschenpaar unterstreichen die Konzilsväter auch die Verbindung der Gottesmutter mit Christus und der Kirche: Maria ist „mit allen erlösungsbedürftigen Menschen in der Nachkommenschaft Adams verbunden“. Aber sie ist „im Hinblick auf die Verdienste ihres Sohnes auf erhabenere Weise erlöst und mit ihm in enger und unauflöslicher Verbindung geeint“. Wurde sie doch mit der „höchsten Aufgabe und Würde beschenkt, die Mutter des Sohnes Gottes und daher die bevorzugt geliebte Tochter des Vaters und das Heiligtum des Heiligen Geistes zu sein.“ Maria wird „auch als überragendes und völlig einzigartiges Glied der Kirche wie auch als ihr Typus und klarstes Urbild“ (Lumen Gentium, Nr. 53) gesehen.
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml
(mk)