Schwarzweißfoto von John Henry Newman als Kardinal

John Henry Newman – Das Gewissen als Stern des Geistes

Von der Wiederkehr eines europäischen Denkens


Regensburg, 5. November 2025

Am Hochfest Allerheiligen, dem 1. November 2025, erhob Papst Leo XIV. den seligen John Henry Newman in den Rang eines Kirchenlehrers. Der englische Kardinal (1801–1890) gilt als einer der großen Wegbereiter eines Katholizismus, der sich den Fragen und Herausforderungen der Moderne mit geistiger Redlichkeit und theologischer Tiefe stellt. Bereits am 19. September 2010 war Newman seliggesprochen und am 13. Oktober 2019 heiliggesprochen worden.

Zwischen Himmel und Geschichte, zwischen Oxford und Rom, schien für einen Augenblick ein Licht aufzuleuchten, das die Zeit überstrahlt: die Erhebung John Henry Newmans zum Kirchenlehrer am Hochfest Allerheiligen des Jahres 2025. Unter dem weiten Himmel Roms sprach Papst Leo XIV. die Worte: „Am heutigen Hochfest Allerheiligen ist es eine große Freude, den heiligen John Henry Newman in den Kreis der Kirchenlehrer aufzunehmen und ihn anlässlich der Heilig-Jahr-Feier des Bildungswesens zusammen mit dem heiligen Thomas von Aquin zum Mit-Patron all jener zu ernennen, die am Bildungsprozess teilhaben. Die beeindruckende kulturelle und geistliche Größe Newmans wird inspirierend sein für kommende Generationen, deren Herzen sich nach Unendlichkeit sehnen und die bereit sind, mittels Forschung und Erkenntnis jene Reise zu unternehmen, die uns – wie die Alten sagten – per aspera ad astra, also durch Mühen zum Erfolg, führt.“ 

Damit ist Newman der achtunddreißigste Kirchenlehrer der katholischen Kirche – ein Titel, den nur jene tragen, deren Denken und Leben eine unzertrennliche Einheit bilden. Seine Seligsprechung durch Papst Benedikt XVI. am 19. September 2010 in Birmingham und seine Heiligsprechung durch Papst Franziskus am 13. Oktober 2019 führten nun zu diesem letzten Schritt: zur Anerkennung einer Lehre, die nicht verblasst, sondern immer tiefer leuchtet. Auf dem Grabstein des neuen Kirchenlehrers stehen die Worte „Ex umbris et imaginibus in veritatem“ – „Aus Schatten und Bildern zur Wahrheit“. Kaum ein Satz fasst Newmans Lebensweg besser, denn er war ein Pilger der Wahrheit. In seiner Person verbinden sich englische Nüchternheit mit mystischer Ernsthaftigkeit.

Das Ringen um die objektive Wahrheit

Newman wuchs in einer durchschnittlich anglikanischen Familie auf – die Mutter fromm, der Vater distanziert. Die Religion war Gegenstand der Achtung, nicht der Leidenschaft. Als Jugendlicher geriet Newman in eine Glaubenskrise, verführt vom Geist der Aufklärung, von jener scheinbaren Vernunft, die sich selbst zum Maß aller Dinge erhebt. Er schrieb später: „Ich erinnere mich, ich wollte tugendhaft sein, aber nicht fromm. Es lag etwas in der Vorstellung des Letzteren, das ich nicht mochte.“ Dann traf ihn die Wahrheit – nicht wie ein Schock, sondern wie eine Erleuchtung. Das Buch The Force of Truth des evangelikalen Pfarrers Thomas Scott führte ihn zurück zum Glauben. Newman bekannte später: „Sie machte mich eigentlich zum Christen.“ Und in seiner Apologia pro Vita Sua formulierte er jenen Satz, der wie eine Signatur über seinem Denken steht: „Von meinem fünfzehnten Lebensjahr an war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion; Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk.“

Newmans Weg war ein Weg des Denkens und des Gehorsams. In Oxford führte er die „Oxford-Bewegung“ an, die den Anglikanismus zu den Wurzeln der Väter zurückführen wollte. Doch sein Forschen führte weiter: zur Erkenntnis, dass die Fülle der Wahrheit nur in der katholischen Kirche bewahrt ist. Vier Jahre nach Beginn seiner inneren Krise legte er alle Ämter nieder und zog sich nach Littlemore zurück. Dort – im Gebet, im Fasten, im Studium – reifte seine Entscheidung. Am 9. Oktober 1845 wurde er durch den Passionistenpater Domenico Barberi CP in die katholische Kirche aufgenommen. Seine zweite Bekehrung war nicht Gefühl, sondern Zustimmung: die Anerkennung der Kirche als Hüterin der objektiven Wahrheit. Von da an galt für ihn, dass der Mensch die Wahrheit nicht erfindet, sondern findet; dass sie nicht vom Subjekt, sondern vom Seienden ausgeht. In Die Idee einer Universität schrieb er: „Wenn wir fragen, was mit Wahrheit gemeint ist, so muss man wohl antworten, dass die Wahrheit Tatsachen und deren Beziehungen meint, die sich ganz ähnlich zueinander verhalten wie Subjekt und Prädikat in der Logik.“ Damit steht Newman in der Tradition des realistischen Wahrheitsbegriffs, erweitert ihn aber um das dynamische Moment: Wahrheit ist nicht statisch, sondern lebendig, eine Beziehung zwischen Geist und Wirklichkeit.

Der Kampf gegen den Liberalismus in der Religion

Als Papst Leo XIII. ihn 1879 zum Kardinal erhob, hielt Newman seine berühmte „Biglietto-Rede“, in der er gegen den „Liberalismus in der Religion“ Stellung bezog: „Liberalismus in der Religion ist die Lehre, dass es keine positive Wahrheit in der Religion gibt; dass vielmehr ein Glaubensbekenntnis so gut ist wie das andere. Er widerspricht der Anerkennung, dass irgendeine Religion wahr ist.“ Dem setzte Newman das „dogmatische Prinzip“ entgegen: „Dass es Wahrheit gibt; dass es nur eine Wahrheit gibt; dass religiöser Irrtum an sich unmoralischer Natur ist … das ist das dogmatische Prinzip, ein Prinzip voller Kraft.“

Das Zentrum seines Denkens war das Gewissen. Für Newman ist es nicht die Stimme des Ich, sondern „der ursprüngliche Statthalter Christi in der Seele“. Gehorsam gegenüber dem Gewissen bedeutet nicht Unterwerfung, sondern Zustimmung. Der Mensch folgt der Wahrheit, weil er sie liebt. Und so heißt es in seinen Briefen und Tagebüchern: „Wenn es einen Weg gibt, religiöse Wahrheit zu finden, so liegt er nicht in Vernunftbetätigungen des Intellekts, sondern nahe bei Pflicht, Gewissen und der Beobachtung des Sittengesetzes.“ Wahrheit ist für ihn damit kein theoretischer Besitz, den man verwaltet, sondern ein moralischer Weg. Der Stolz verschließt den Geist, jedoch die Demut öffnet ihn. Der Mensch, so das Diktum, kann nur dann erkennen, wenn er sich bekehren lässt.

In Über die Entwicklung der christlichen Lehre entwarf Newman ein Verständnis von Tradition, das Reform nicht als Bruch, sondern als Wachstum begreift. Er formulierte es so: „Hier unten heißt leben, sich zu verändern, und vollkommen zu sein heißt, sich oft verändert zu haben.“ (An Essay on the Development of Christian Doctrine, Kap. V, 1). Damit wollte er sagen: In einem lebendigen Wesen bedeutet Wachstum, dass es sich entfaltet, ohne sich selbst zu verlieren. Die Wahrheit bleibt dieselbe, aber der menschliche Geist dringt tiefer in sie ein. So wie die Eiche aus der Eichel wächst, entfaltet sich das Dogma aus dem Samen der Offenbarung. Diese Einsicht wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgenommen, das bekannte, die Kirche wachse „im Verständnis der überlieferten Worte“. Newman hatte gezeigt, dass Treue und Bewegung einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen.

Bildung – der Weg des milden Lichts

„Führe Du, mildes Licht, im Dunkel, das mich umgibt, führe Du mich hinan! Die Nacht ist finster, und ich bin fern der Heimat: Führe Du mich hinan! Leite Du meinen Fuß – sehe ich auch nicht weiter: Wenn ich nur sehe jeden Schritt.

Einst war ich weit zu beten, dass Du mich führtest. Selbst wollt ich wählen. Selbst mir Licht, trotzend dem Abgrund, dachte ich meinen Pfad zu bestimmen, setzte mir stolz das eigene Ziel. Aber jetzt – lass es vergessen sein. Des Mondes mildes Licht über einem Moor.

Du hast so lang mich behütet – wirst mich auch weiter führen: über sumpfiges Moor, über Ströme und lauernde Klippen, bis vorüber die Nacht und im Morgenlicht Engel mir winken. Ach, ich habe sie längst geliebt – nur vergessen für kurze Zeit.“

Dieses Gebet – Lead, Kindly Light – entstand 1833 während einer Krise auf See und wurde zu Newmans geistiger Selbstbeschreibung. In Die Idee einer Universität definierte er Bildung als jenen Zustand des Geistes, in dem man das Ganze in allem und jedes im Ganzen sieht. Wahre Bildung formt nicht nur den Verstand, sondern das Herz; sie lehrt das Denken im Licht des Gewissens.

Papst Leo XIV. griff in seiner Predigt diesen Gedanken auf: „Ich erinnere an das, was mein geschätzter Vorgänger, Papst Franziskus, in seiner Ansprache an die erste Vollversammlung des Dikasteriums für die Kultur und die Bildung betont hat, nämlich dass wir gemeinsam daran arbeiten müssen, die Menschheit aus dem Dunkel des Nihilismus zu befreien, der sie umgibt und vielleicht die gefährlichste Krankheit der gegenwärtigen Kultur ist, da er die Hoffnung ‚auszulöschen‘ droht.“ Und auf Newman bezogen, betonte der Pontifex: „Die Aufgabe christlicher Bildung, so sagte er, bestehe darin, ‚jenes milde Licht zu schenken, das Angst und Pessimismus vertreibt‘. Bildung sei Heiligung durch Erkenntnis.“

Benedikt XVI. – der Leser und Vollender Newmans

Keiner hat Newman tiefer verstanden als Joseph Ratzinger. Schon als junger Theologe sah er in ihm den Bruder im Geist, einen, der die Einheit von Glaube und Vernunft lebte. Als Papst Benedikt XVI. ihn 2010 in Birmingham seligsprach, sagte er: „Newmans Einsicht in die Einheit von Glaube und Vernunft und sein leidenschaftliches Ringen um die Wahrheit haben bleibende Bedeutung.“

Bereits zwanzig Jahre zuvor schrieb Ratzinger: „Das Kennzeichen des großen Lehrers in der Kirche ist, dass er nicht nur mit dem Wort, sondern mit dem Leben lehrt. Wenn das so ist, dann gehört Newman zu den großen Lehrern der Kirche, weil er Herz und Geist zugleich berührt.“ Damit war schon vor langer Zeit ausgesprochen, was 2025 amtlich bestätigt wurde: Denken und Leben sind bei Newman eins – und aus dieser Einheit wächst Lehre.

Europa – die Wiederkehr des Geistes

Dass ein englischer Kardinal zum Kirchenlehrer erhoben wurde, in einer Zeit, in der Europa mehr denn je in der Krise steckt, der Ukraine-Krieg die Menschen ängstigt und Putin mit einem Angriff auf die NATO-Staaten droht, ist mehr als ein Zeichen, das Papst Leo XIV. mit der Ernennung zum Kirchenlehrer sendete – es ist ein starkes Signal für Europa. Newman verkörpert die Versöhnung von Oxford und Rom, von Wissenschaft und Gebet, von Vernunft und Glauben. Und er zeigt einem alten Kontinent, dass seine Mitte nicht in der Macht oder der Technik liegt, sondern in der Fähigkeit, das Wahre zu lieben.

Leo XIV. hat mit seiner Entscheidung eine Linie sichtbar gemacht, die von Augustinus über Thomas von Aquin bis zu Newman reicht – eine Linie der europäischen Seele, in der Glaube und Denken einander tragen. Europa, das seine Seele sucht, findet in Newman einen Lehrer, der zeigt: Denken ohne Glauben ist leer, Glaube ohne Denken blind. Denken ohne Gewissen bleibt kalt, und die Wahrheit ohne die Liebe leer.

Das milde Licht – Nachklang einer Heiligkeit

Newman steht nun in der Reihe der großen Lehrer der Kirche, doch seine Stimme bleibt die eines Suchenden. Das milde Licht, das er besang, führt nicht hinaus aus der Dunkelheit, sondern hindurch. Es ist das Licht Christi, das im Gewissen des Menschen leuchtet – still, klar, unbestechlich.

So bleibt John Henry Newman ein Lehrer des Gewissens, ein Erneuerer der Vernunft, ein Zeuge des Glaubens, der verstanden hat, dass Denken und Lieben zwei Namen derselben Bewegung sind. Mit der Erhebung Newmans durch Papst Leo XIV. hat die Kirche nicht nur einen Denker geehrt, sondern ein Programm ausgesprochen: dass Heiligkeit und Intelligenz, Bildung und Glauben, Herz und Vernunft keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig vollenden. Und so steht der neue Kirchenlehrer am Beginn einer neuen Epoche – einer Epoche, in der Europa, wenn es geistig überleben will, wieder lernt, aus der Wahrheit zu leben.

Oder wie Papst Leo XIV. schreibt: „Zum bleibenden Vermächtnis des heiligen John Henry gehören in diesem Sinne einige sehr bedeutende Beiträge zur Theorie und Praxis der Bildung. So schrieb er: ‚Gott hat mich geschaffen, damit ich ihm einen bestimmten Dienst erweise; er hat mir eine Aufgabe übertragen, die er keinem anderen übertragen hat. Ich habe meinen Auftrag – den ich in diesem Leben möglicherweise nie erfahren werde, aber im nächsten Leben wird er mir offenbart.‘ (Meditations and Devotions, III, I, 2). In diesen Worten kommt auf wunderbare Weise das Geheimnis der Würde eines jeden Menschen und auch das der Vielfalt der von Gott verteilten Gaben zum Ausdruck.“

Text: Stefan Groß

(sig)



Nachrichten