Gruppenfoto auf der 22. Abensberger Fachtagung des B.B.W. St. Franziskus: Gesamtleiter des B.B.W. St. Franziskus Frank Baumgartner (2.v.li.), KJF-Direktor Michael Eibl (2.v.li. vorne) mit Keynote-Speakerin Angelina Boerger (4. v.li. vorne) und den Referenten und Moderatoren.

22. Abensberger Fachtagung des B.B.W. St. Franziskus

AD(H)S im Blick


Regensburg / Abensberg, 7. April 2025

Keynote-Speakerin Angelina Boerger: „ADHS ist nicht nur eine Bürde. Es kann mich genauso herausfordern wie weiterbringen. Es geht darum, beides zu sehen – nicht nur das Defizit, sondern auch das Potenzial“. Die 22. Fachtagung des B.B.W. St. Franziskus der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e. V. erreichte in diesem Jahr mit dem Thema „AD(H)S – vergessen, verborgen, verwechselt?“ 200 Gäste in Präsenz und weitere 280 im Livestream.

Dies spiegelt das enorme fachliche Interesse wider und auch, dass das B.B.W. anerkannt und gut nachgefragt ist für seine fachlichen Impulse und hochkarätig besetzten Veranstaltungen. „Der Fachtag stößt auf unglaublich große Resonanz“, bestätigt der Gesamtleiter des Berufsbildungswerks Frank Baumgartner. „Das deutet darauf hin, dass wir ein Thema aufgegriffen haben, das die Fachwelt und viele Betroffene anspricht und beschäftigt. ADHS war schon präsenter – in der Öffentlichkeit und in der Fachdiskussion. Ich bin überzeugt, dass wir gut daran tun, uns wieder daran zu erinnern, um Angebote und Hilfen für Menschen mit ADHS partizipativ weiterzuentwickeln“, stellt Baumgartner heraus.

In seiner Eröffnungsrede ging KJF-Direktor Michael Eibl auf die Rolle und Verantwortung von Fachkräften ein, die seelisch und psychisch belasteten jungen Menschen zur Seite stehen: „Sie tun dies mit zeitgemäßen Impulsen und auf Grundlage fachlich fundierter Ansätze. Und dabei bleibt die Individualität jedes Einzelnen im Blick“, stellte er heraus. „In einer Welt, die sich zurecht Fragen zur Sicherheit und zum Weltfrieden stellt, ist es unsere Aufgabe Sicherheit herzustellen, für unsere wichtigsten nachwachsenden Rohstoffe – die jungen Menschen“, so Eibl weiter.

„ADHS ist für mich keine Krankheit, aber ADHS kann verdammt krank machen“

Mit fast 30 Jahren bekommt Angelina Boerger die Diagnose „ADHS“. Das öffentlich wenig bekannte Thema ADHS im Erwachsenenalter und bei Frauen macht sie seitdem zu ihrem Lebensthema: als Influencerin auf Instagram, als Autorin, als gefragte Gesprächspartnerin und Referentin. So auch bei der 22. Abensberger Fachtagung. Sie zeigte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass Gehirne unterschiedlich funktionieren können und dass dies anerkannt und respektiert werden müsse. Ein defizitärer Blick bringe nicht weiter. Es gehe nicht um das Geradebiegen und Reparieren von Menschen, damit sie in das System reinpassen, sondern darum, die „Vielfalt von Gehirnen“ als normal anzunehmen. Boergers Ansatz ist der der Neurodiversität. „Das ist mein Normal“, sagt sie von ihrem Leben mit ADHS und fordert damit, Unterschiede im Verhalten und Anderssein als normal anzunehmen. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung allerdings werden betroffene Menschen häufig stigmatisiert. „ADHS ist für mich keine Krankheit, aber ADHS kann verdammt krank machen“, sagte Angelina Boerger.

„Die Aufmerksamkeitsstörung gibt es eigentlich gar nicht …“

„… es gibt nur eine unterschiedliche Aufmerksamkeitslenkung“, so stellte es Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der KJF in Regensburg, aus Sicht der Entwicklungspsychopathologie am Beginn seines Fachvortrags heraus. Der Blickwinkel auf die Welt gestalte sich aufgrund biologischer, genetischer, psychosozialer Aspekte oder einer Deprivation (Mangel an sozialer Interaktion) unterschiedlich. Manche Menschen hätten die Fähigkeit sehr gut zu fokussieren und Reize auszufiltern. Man spricht von einer aufmerksamkeitsfokussierten Lenkung. Andere wiederum haben eine aufmerksamkeitsgestreute Lenkung – neurotypisch und neurodivergent sind die Fachbegriffe dafür. „Gehirne sind wie Schneeflocken, sie sind absolut einzigartig. Mit jedem dieser Gehirne kann ich eben nicht anders, das ist mein Instrument, mein sensibelstes Organ in meinem Körper“, erklärte Meier. Als ein Erklärungsmodell für eine ADHS-Diagnose zeigte er den Zusammenhang zwischen Bindungsunsicherheit, besonders in den ersten Lebensjahren, und einer ADHS-Diagnose auf, und lieferte weitere Zahlen und Fakten: Hochgerechnet leiden ca. 4 % der Weltbevölkerung (ca. 320 Millionen) unter einer ADHS. Sie beginnt sich ab dem Kindergartenalter zu zeigen. Kinder mit ADHS haben eine um 50 bis 300 % erhöhte Wahrscheinlichkeit in ihrem Entwicklungsverlauf an weiteren schweren seelischen Erkrankungen zu leiden, z. B. Substanzabusus, Depression, Psychose, Angststörungen. 47 % der Kinder und Jugendlichen mit einer ADHS-Diagnose erlebten in ihrer Kindheit moderate bis schwere körperliche Misshandlung bzw. erlebtes Maltreatment im Kindesalter erhöht die Wahrscheinlich an ADHS zu erkranken um das 7,63-fache.

Fach- und Praxisthemen der 22. Abensberger Fachtagung

Online zugeschaltet, betrachtete Dr. Markus Kölle, Oberarzt in der ADHS-Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, AD(H)S aus entwicklungspsychologischer Sicht. Frank Baumgartner, Gesamtleiter des B.B.W. St. Franziskus, lenkte den Blick auf die aktuelle fachliche Diskussion bevor die Gäste aus folgenden Praxisthemen auswählen und in kleineren Gruppen diskutieren konnten: „AD(H)S in der beruflichen Förderung junger Menschen“, moderiert von Ausbildern, pädagogischen Fachkräften und Fachdiensten aus dem B.B.W., „Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Therapieprogramms THOP für junge Erwachsene mit ADHS“ mit Prof. Dr. Johannes Bach von der Technischen Hochschule Nürnberg, „Bewegung: Das "Bewegte Klassenzimmer" als Best Practice-Beispiel“ mit Harald Wolf, Schulleitungsmitglied und Koordinator Leistungssport, Sportbetonte Schule Bremen, und seinem Kollegen Dirk Baumgartner, Sportlehrer und Sonderpädagoge, „Lernen mit AD(H)S – Praktische Ideen für Struktur und Abwechslung“ mit Teresa Gruber und Ann-Marie Dietl aus dem Fachdienst Lernförderung des B.B.W., „Bio-/Neurofeedback in der Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen“ mit Christian Breit und Rob Thomassen aus dem Fachdienst Bio-/Neurofeedback des B.B.W., B.B.W. St. Franziskus Abensberg.

Text und Foto: Christine Allgeyer

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Weitere Infos

Das Berufsbildungswerk in Abensberg ist eine der führenden Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation in Deutschland. Rund 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern und unterstützten auf Basis einer ganzheitlichen Sichtweise junge benachteiligte Menschen. Berufliche Diagnostik, Berufsvorbereitung, Ausbildung und Beschulung, differenzierte Wohnformen gehören zu den Leistungen der Einrichtung. Sie fördern die Persönlichkeitsbildung und ermöglichen die Betreuung auch komplexer Störungsbilder im Rahmen der Erziehungshilfe. Weitere Infos unter www.bbw-abensberg.de.



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