Ukraine: Seelsorge nötiger denn je
Mehr Selbstmorde in den Kampfgebieten
Königstein / Regensburg, 8. Juli 2024.
Der römisch-katholische Bischof der ostukrainischen Stadt Charkiw, Pawlo Hontscharuk, beklagt eine steigende Zahl von Suiziden in den umkämpften Gebieten der Ukraine: „Es gibt viele Selbstmorde, weil die Menschen nicht wissen, wie es weitergeht.“ Auch wenn die Stadt fallen sollte, will er bleiben, solange es irgend geht. Denn Verteilung von Hilfsgütern durch das Hilfswerk Kirche in Not, die unvermindert weitergeht, muss zunehmend durch geistliche Unterstützung ergänzt werden.
„Der Luftalarm in Charkiw geht fast rund um die Uhr“, sagte Hontscharuk dem Hilfswerk Kirche in Not (ACN). Von Russland aus abgefeuerte Raketen würden nach nicht einmal einer Minute in Charkiw einschlagen, das reiche nicht aus, um den Luftalarm in Gang zu setzen. ; die Stadt liegt nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. In der zweitgrößten Stadt der Ukraine seien Schulen und Kindergärten geschlossen; Unterricht finde bisweilen in U-Bahn-Stationen statt.
Wie der Bischof berichtete, sei sein Diözesangebiet, das eines der größten in Europa und mehr als halb so groß wie Deutschland ist, zu einem Viertel russisch besetzt. Unter den Bedingungen der Besatzung könnten keine Priester eingesetzt werden. Deren Präsenz habe jedoch für die Bevölkerung eine große Bedeutung: „Die Menschen sagen: ,Wenn ein Priester da ist, dann kann ich auch bleiben.’ Sie brauchen unsere Anwesenheit. Die Einsamkeit ist schwer zu ertragen – vor allem, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat.“
Bischof Hontscharuk besucht Frontsoldaten. © Kirche in Not – Archivbild vom Oktober 2022
Fronteinsatz: Lebensgefährlich, aber umso wichtiger
Immer wichtiger werde deshalb neben der humanitären auch die psychologische Hilfe für die Bevölkerung. Viele Menschen vertrauten keinen Psychologen, und es gebe auch zu wenige davon. „Wir haben wenige Spezialisten und Fachleute, und das ist ein Problem. Kirche in Not unterstützt psychologische Schulungen für Priester, Ordensleute und weitere Helfer. Das ist so wichtig, und wir sind sehr dankbar dafür“, erklärte Hontscharuk. Neben den psychologischen Schulungen hat „Kirche in Not“ in der Diözese Charkiw-Saporischschja in den vergangenen Monaten Wärmepumpen und Öfen finanziert, um im Winter Pfarrheime und Klöster heizen zu können, in denen Menschen Zuflucht suchen.
Priester und Ordensfrauen, die an der Front tätig sind, wurden zudem mit Erste-Hilfe-Ausrüstung ausgestattet. Lebensgefährlich, aber umso wichtiger sei der Einsatz von 46 Militärkaplänen, die oft die einzigen Ansprechpartner für die Frontsoldaten seien, sagte Hontscharuk: „Was diese Menschen in ihrer Seele erleben, ist ein Albtraum. Deshalb ist ein Militärkaplan so wichtig. Er hört sich das an, was die Menschen auf der Seele haben.“
„Der Krieg fängt in den Herzen an, und er endet dort“
Der Bischof wird Charkiw nicht verlassen: „Die Menschen brauchen mich. Sollte ich Charkiw ganz verlassen, dann mit dem allerletzten Auto.“ Immer wieder erlebe er, dass die seelsorgerische Begleitung der Menschen auch Aggressionen heilen könne. So sei eines seiner prägendsten Erlebnisse in jüngster Zeit eine Beerdigung nahe der Frontlinie gewesen, erzählte Hontscharuk. Die Menschen in dem Dorf seien prorussisch eingestellt und ihm gegenüber sehr abweisend bis feindlich eingestellt gewesen.
Der Bischof begann diese Beerdigung mit einem Gebet für die Anwesenden. Das änderte die Stimmung. Nach der Trauerfeier, so berichtet Hontscharuk, seien die Menschen auf ihn zugekommen und hätten ihn aufgefordert, nochmals für sie zu beten. „Ich fragte sie, warum. Sie meinten: ,Als Sie gebetet haben, wurde uns leicht ums Herz.’ Bei diesen Menschen ist der Krieg zu Ende. Denn der Krieg fängt in den Herzen an, und er endet dort.“ In solchen Momenten zeigt sich die einzigartige Möglichkeit der kirchlichen Seelsorge, gerade in der Ukraine.
Text: Kirche in Not
(sig)