Regensburg, 30. Dezember 2024
In pluralistischen Gesellschaften wird die Frage, ob der Mensch ein religiöses Wesen ist, kontrovers diskutiert. Weltweit gibt es heute viel gelebte Religiosität. Andererseits sind besonders in Europa Gleichgültigkeit und sogar Ablehnung gegenüber der Religion, zumal gegenüber dem Christentum festzustellen. Im Panorama der Wissenschaften und der Kunst kommt aber nach längerem Verschweigen das Thema Religion heute wieder öfter zur Sprache. Der Schriftsteller Martin Walser hat gesagt: „Wenn ich von einem Atheisten … höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“
Europa steht heute im globalen Kontext vor gewaltigen Herausforderungen. Diese betreffen die Bereiche von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, auch die Bereiche von Kultur und Religionen. Was die katholische Kirche angeht, so trägt sie in den Ländern Europas sehr viel dazu bei, die Zivilgesellschaft mitzutragen und zu beseelen, nicht zuletzt auch durch den oft verborgenen Dienst der Fußwaschung als Konsequenz von Empathie und Sehnsucht nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Jesus wollte die Taubheit des menschlichen Herzens heilen (vgl. Mk 7,31-37). Erstaunlicherweise hat auch Bert Brecht, der kein Christ war, sondern sich als Agnostiker oder Atheist verstanden, aber die Bibel als sein wichtigstes Buch bezeichnet hat, in seinem Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ in einem ebenso poetischen wie hochmoralischen Text zum Ausdruck gebracht, dass die Taubheit des Herzens einen „hohen humanen Preis“ hat.
Der österreichische Bischof Egon Kapellari berichtet, dass er es als Neunjähriger Anfang April 1945 in seiner Heimatstadt Leoben erleben musste, wie ungarische Juden auf ihrem Todesmarsch nach Mauthausen durch die Stadt getrieben wurden. „Dieses Erlebnis kurz vor Kriegsende habe ich nie mehr vergessen. Es war vielleicht der früheste massive Impuls zu Mitleid, zu Empathie in meinem Leben und dabei unverwechselbar ein Impuls zu einem Mitleiden mit dem Leiden Israels“ (zitiert nach: J. Kreiml, Christlicher Humanismus. Überlegungen von Bischof Egon Kapellari, in: Susanne Biber / Veit Neumann [Hg.], Christlicher Humanismus, Regensburg 2019, S. 195).
Die ethosformende Kraft des Christentums
Gerade in Europa sollte die ethosformende Kraft des Christentums nicht unterschätzt werden. Die christlichen Kirchen beseelen und tragen einen großen Teil des Lebens der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang hat der Philosoph Peter Strasser auf die Bedeutung der jüdisch-christlichen Kategorie der Geschöpflichkeit hingewiesen. „Man hört Dostojewskijs Regel nur ungern, aber wahr ist sie trotzdem: Wenn wir uns nicht als Teil der Schöpfung begreifen können oder wollen, sondern bloß als Teil einer moralindifferenten Entfaltung des Lebens in einem wertindifferenten Universum, dann ist uns im Grunde alles erlaubt. Wir müssen nur mächtig genug sein, um das, was wir wollen, auch durchzusetzen“ (zit. nach: ebd., S. 196).
Humanität im Horizont Gottes
Die Entwicklung Europas lässt sich ohne den humanisierenden Beitrag des Christentums nicht angemessen beschreiben. Für das heutige europäische Denken ist die Unantastbarkeit und Würde der menschlichen Person, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) als deren Fundament zum Ausdruck gebracht wird, trotz vielfacher Missachtungen dieser Rechte konstitutiv. In christlicher Sicht ist die Würde des Menschen in Gott, seinem Schöpfer, begründet. Für das christliche Verständnis von Humanität, das einer europäischen Identität eingeschrieben ist, ist Folgendes wesentlich: Der Mensch ist ausgespannt über Himmel und Erde. Aus biblischer Sicht ist er auf einen offenen Himmel hin bezogen und damit relativiert. „Das stellt eine heillose Absolutsetzung des Irdischen immer wieder in Frage und öffnet sie auf das Absolute Gottes hin. Humanität gedeiht im offenen Horizont Gottes“ (Egon Kapellari; ebd., S. 198). Gott begründet in seiner Menschwerdung eine unüberbietbare Würde des Menschen und offenbart sich in der von Jesus Christus gelebten Hinwendung zu leidenden und bedürftigen Menschen als Liebe. Der christliche Glaube bleibt eine lebendige Quelle für Europa, von der viele heilende Kräfte für die Zivilgesellschaft ausgehen.
Christliche Kräfte tragen die Gesellschaft
Mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung Europas sind getaufte Christen. Freilich ziehen viele Getaufte daraus kaum lebenspraktische Konsequenzen; aber die Zahl der wirklich lebendigen Christen ist viel größer, als dies in der öffentlichen bzw. medial veröffentlichten Meinung bekannt ist. Die verschiedenen christlichen Konfessionen haben gegenüber der Zivilgesellschaft einen moralischen Anspruch darauf, dass ihre auch die Gesellschaft im Ganzen tragenden Kräfte und Dienste nicht übersehen, sondern respektiert werden. Seit einiger Zeit gibt es eine neue Melodie im Reden über Religion und Kirche. Religionen erleben weltweit eine Renaissance, und dies aus Gründen, die tief gehen. Die Religiösen werden immer mehr und immer jünger. Dieser noch labilen Rückwendung zum Christentum sollte die Kirche weder zu hart noch zu weich begegnen: weder durch Refundamentalisierung noch durch Weichspülung des Glaubens. Die Kirche ist in erster Linie dazu da, auf Gott hinzuweisen und „ihm in Gebet und Liturgie eine lobende, dankende und bittende Antwort zu geben auf das Wort, das er durch Schöpfung und Erlösung gesprochen hat und immer neu spricht“ (Egon Kapellari; ebd., S. 201). In dem Maß, in dem die Kirche Gott wirklich liebt, bleibt sie auch eine Quelle der Liebe zu den Menschen. Heilige wie Franz von Assisi und Mutter Teresa waren Ikonen Jesu Christi und werden deshalb weltweit von vielen Menschen verehrt.
Tiefe Einwurzelung im Glauben
Religion befindet sich heute weltweit keineswegs auf dem Rückzug, im Gegenteil. Als kirchlich verfasstes Christentum ist Religion in Europa freilich vielerorts in einem starken Wandel begriffen. Viele Menschen trauen der katholischen Kirche auch für die Zukunft eine große Kraft zu, wenn sie abseits der Extreme von Lauheit und fundamentalistischer Verschlossenheit ein markantes Profil ausprägen kann. Dazu bedarf es einer tiefen Einwurzelung im Glauben und einer großen Herzenskraft. Bewusste Christen und ihre Gemeinschaften im heutigen Europa sollten selbstbewusster sein und sich nicht einschüchtern lassen. „Europa hat keinen Grund, sich des Christentums zu schämen und es zu verstecken. Obwohl sich dieses Europa in seiner heutigen Gestalt auch vielen anderen positiv prägenden Kräften verdankt, hatte und hat das Christentum daran einen besonders großen Anteil“ (Egon Kapellari; ebd., S. 202). Die Europäische Union wäre sehr viel schwächer, wenn ihr die christliche Inspiration und Praxis in einem weiter voranschreitenden Maß entzogen würden.
Gelebtes Christentum als Bollwerk gegen totalitaristische Kräfte
Der vielfach unternommene Versuch, das Christentum zurückzudrängen und zur Privatsache zu erklären, wäre ein Rezept, das den Westen und Norden unseres Globus sehr beschädigen würde. Es würde ein Vakuum entstehen, wenn sich das Christentum als gestaltende Kraft in Europa zurückzöge. Die Folge wäre, dass größere Hohlräume entstünden, die in absehbarer Zeit einbrechen würden. In dieses Vakuum würden dann „totalitaristische Kräfte einfließen, seien sie religiös oder auch anarchistisch“ (Egon Kapellari; ebd., S. 203).
Gott als lebensprägende Wirklichkeit
Heiner Koch, der Erzbischof von Berlin, hat einmal von einer Begegnung mit einem Bürger der ehemaligen DDR am Ende einer Zugfahrt erzählt. Dieser Mann hat den Bischof nach dem Aussteigen am Bahnhof angesprochen und gesagt: „Sie sind ein Geistlicher, erlauben Sie mir zwei Fragen: Glauben Sie wirklich an Gott? Und glauben Sie, dass nach dem Tod noch etwas ist?“ Der Bischof hat dies klarerweise bejaht; der Mann antwortete darauf: „Darum beneide ich Sie.“ Solche Fragen richten sich an alle Christen, von denen man annimmt, dass sie wirklich das glauben, was zentral zum christlichen Glaubensgut gehört.
Weltweit ist Gott heute für unzählige Menschen eine zutiefst lebensprägende Wirklichkeit. In der westlichen Welt leben freilich auch viele Menschen so, als ob es Gott nicht gäbe. Vor diesem Hintergrund stellen Philosophen wie Jürgen Habermas und Schriftsteller wie Martin Walser die eindringliche Frage: „Was fehlt, wenn Gott fehlt?“ Wer Gott wirklich gefunden hat, wird versuchen, ihn auch anderen Menschen einladend zu zeigen. „Die stärkste Kraft dafür ist ein glaubhaftes Leben als Mensch und Christ mit viel Solidarität und Empathie innerhalb der Kirche und über alle ihre Grenzen hinaus. Erst auf dieser Basis werden Argumente wirksam, die suchende Menschen zu Gott führen und Kirche als Heimat erschließen wollen“ (Egon Kapellari; ebd., S. 207). Die weltweite Christenheit ist eine Großmacht der Barmherzigkeit. Andererseits ist sie vor allem im Westen angefochten durch Lauheit, durch mangelndes Wissen über den Glauben und ein Übermaß von Individualisierung auf Kosten von gemeinsamem Gebet und Gottesdienst. Die Christenheit ist heute weltweit auch eine Gemeinschaft der Märtyrer, zumal in der Auseinandersetzung mit einem fundamentalistischen Islam. Das Blut dieser Märtyrer wird zum Samen für neue Christen werden.
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Leiter der Hauptabteilung Orden und Geistliche Gemeinschaften im Bistum Regensburg
(chb)