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Prof. Sigmund Bonk zum 750. Todesjahr des heiligen Thomas von Aquin

Welche Rolle der Wille bei der Herausformung des Glaubens spielt

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Regensburg, 22. März 2024

Am 7. März 1274, vor 750 Jahren, ist Thomas von Aquin gestorben. Mit einem kleinen Teil des gewaltigen Werks des Heiligen – der Rolle des Willens bei der Erlangung des Glaubens – befasst sich Prof. Sigmund Bonk.

Der hl. Thomas von Aquin, „engelsgleicher Lehrer“ sowie „Fürst der Scholastik“ genannt, verstarb vor 750 Jahren im Kloster Fossanovo, das etwa 90 km südöstlich von Rom gelegen ist. Obwohl er noch nicht einmal 50 Jahre alt wurde, hinterließ er ein gewaltiges Werk – immens an Größe und geradezu überreich an Inhalt. Im Folgenden wird lediglich ein winziger Aspekt eines kleinen Teils seiner eine kleine Bibliothek füllenden philosophisch-theologischen Systematik herausgegriffen. Die Wahl ist aus einem doppelten Grund auf dieses Bruchstück gefallen: Es ist kaum bekannt und es hat einen engen Bezug zu unserem je eigenen Glaubensleben.

Thomas rechnet den persönlichen Glauben an Gott den Tugenden zu – womit er die Lehre von der Entstehung bzw. „Formung“ des Glaubens in die Schnittmenge von Glaubenslehre und Moral verortet. Der Grundzug der thomistischen Moral könnte nun in einer gewaltigen Bewegung des Menschen hin zu Gott gesehen werden („motus rationalis creaturae ad deum“). In der Summa Theologiae, Prima Secundae, geht es zunächst und mehr im Allgemeinen um das Ziel dieser Bewegung, die Seligkeit der ewigen Anschauung („visio“) Gottes im Himmel oder Neuen Jerusalem (S.th., I-II, q. 1-5). (Da diese „visio“ zugleich die Vollendung der Sittlichkeit umfasst, kann die thomanische Ethik allenfalls mit Einschränkungen eine „eudämonistische“ Ethik genannt werden.) Die besagte große  Bewegung hin zu Gott ist bereits in der menschlichen Natur grundgelegt; sie fließt sozusagen aus in eine Hoffnung über den Tod hinaus. [1]

Zustimmung beinhaltet immer Willen

Infolge der grundlegenden Vernunftnatur des Menschen kann die Bewegung hin zu Gott nicht ohne freie Zustimmung („assensio“) an ihr Ziel gelangen. Dieses besteht in der glückseligen Anschauung „visio beatifica“, deren erste Ansätze bereits im Glauben ahnungsvoll zu verspüren sind. Zustimmung aber beinhaltet immer einen Beitrag des Willens. Hierzu bemerkte bereits der Altmeister der bayerischen Thomasforschung Martin Grabmann:

„Vor allem wird [von Thomas] der Anteil des Willens am sittlichen Handeln festgestellt und dabei eine feinsinnige psychologische Erklärung und Beschreibung der verschiedenen Formen und Stufen menschlicher Willensbetätigung gegeben. Namentlich wird hier die Willensfreiheit, dieser Nerv der Sittlichkeit betont. Die Wurzel der Wahlfreiheit ist die Vernunft, die dem Willen Objekte des Strebens und Motive des Handelns vorlegt. Die Idee des Guten zieht den Willen unwiderstehlich an. Der menschliche Wille erstrebt alles unter dem Gesichtspunkt des Guten. Während das bonum universale, der Gesichtspunkt der Glückseligkeit, den Willen naturhaft bewegt und ihn gleichsam zwingt, ist der Mensch den einzelnen Gütern gegenüber frei, er kann wählen oder nicht wählen, so oder anders wählen.“ [2]

Das innerste Wesen des Menschen

Nochmals: Die große Richtung sehnsuchtsvollen geistigen Begehrens – diejenige hin zu Gott, dem höchsten Gut, dem „Urguten“ – steht anthropologisch-naturhaft fest. Das innerste Wesen des Menschen fühlt sich dorthin gezogen, vergleichbar dem Eisenfeilicht mit dem Magneten. Wenn ein Mensch von der christlichen Offenbarung unter geeigneten Umständen Kenntnis erlangt, so spricht ihn das in seinem Wesen (nämlich als Abbild Gottes, vgl. Gen 1,27) an. Das „desiderium naturale“ wird durch den Glauben teilweise gestillt, so ganz aber erst durch die glückselige Anschauung des Höchsten.

Die Qual der Wahl

Doch können und werden sich in der Regel auch gewisse Einwände des Verstandes bemerkbar machen. Von der göttlichen Gnade in den Raum der Freiheit erhoben, ist es dann der Wille, der dem schwankenden Verstand zu Hilfe zu kommen vermag.[3] Zu Beginn von Quaestio 14 aus „De veritate“ schildert uns Thomas einen allen wohlvertrauten Zusammenhang im Vorfeld anstehender Entscheidungen. Dabei gibt er sich (wie so oft!) als etwas zu erkennen, das man gemeinhin bei einem „Scholastiker“ nicht zu finden vermutet haben würde, nämlich als ein intimer Seelenkenner. Die sog. Qual der Wahl könne auf drei verschiedene Weisen zu einer Entscheidung führen:

„So verhält sich unser erkenntnisfähiger Verstand zu widersprechenden Sachverhalten (respectu partium contradictionis) auf verschiedene Weise. Bisweilen nämlich neigt er nicht mehr zum einen als zum andern […] und das ist der Zustand (dispositio) des Zweifelnden, der zwischen zwei widersprechenden Sachverhalten schwankt. Bisweilen jedoch neigt der Verstand mehr zum einen als zum anderen; indessen das Bestimmende macht nicht genügend Eindruck auf den Verstand, um ihn gänzlich zur Entscheidung für die eine Seite zu bewegen […] und das ist der Zustand dessen, der eine Meinung hat (opinantis) […] Bisweilen aber wird der Verstand dahin gebracht, dass er sich ganz auf die eine Seite festlegt; das kommt bisweilen durch einen Erkenntnisgrund (ab intelligibili), bisweilen durch den Willen zustande.“

Der Wille ist die Feder auf der Waage

Ein Beispiel für das eindeutige und feste Bestimmt-Werden des Verstandes durch den Erkenntnisgrund wäre etwa die Einsicht in erste Prinzipien wie das Nichtwiderspruchsprinzip, ein anderes der aus klar formulierten Prämissen logisch korrekt abgeleitete und sich dann zwingend ergebende Schluss.  Der Akt des religiösen Glaubens gleiche – so Thomas, der hier wohl an den Glauben der Heiligen denkt – in seiner keinen Schwankungen unterworfenen Gewissheit diesen Beispielen. Allerdings erzielt er diese innere Sicherheit – und das ist bemerkenswert, denkt man bei Thomas doch sofort an seine Gottesbeweise bzw. „(fünf) Wege“ – nicht durch den Verstand, sondern durch den Willen. Der Wille spielt die Rolle der Feder auf der Waage, die sie auf eine Seite sinken lässt:

„Er [der urteilende Verstand] wird aber durch den Willen bestimmt, der die Wahl trifft, der einen Seite bestimmt und entschieden [determinate et praecise] beizustimmen, um eines Moments willen, das ausreichend ist, den Willen zu bewegen, sofern es nämlich gut oder angemessen erscheint, dieser Seite beizustimmen; und das ist der Zustand des Glaubenden, z. B. wenn jemand den Worten eines Menschen glaubt, weil es geziemend oder nützlich scheint."[4]

Einige Glaubenssätze stehen für den Gläubigen sogar dann unverrückbar fest, wenn Erfahrung und Erfahrungswissen im Gegensatz dazu stehen. (Hierbei wäre etwa an die Wandlung in der Eucharistiefeier oder auch an die Auferstehung der Toten zu denken.) Und gerade darum könne der Glaube auch als verdienstlich gelten – an welchem Nachweis Thomas einiges gelegen ist, will er den Glauben doch, wie oben angesprochen, den Tugenden zurechnen.[5]

Der Glaube an Gott und die ihn präludierende entschlossene Zustimmung hierzu bilden für den klassischen Kirchenlehrer eine feste Einheit. Das bedeutet im Umkehrschluss erstens, dass das Zweifeln und bloße Meinen mit dem echten Glauben nicht vereinbar sind und zweitens, dass ein ausschließlich auf rationale Argumente gestützter Glaube aus theoretischer Vernunft noch gar kein vollwertiger (Thomas würde sagen: „durchgeformter“) Glaube ist; drittens aber auch: Die bloß intellektuelle Einsicht, etwa darein, dass im Bedenken des Weltganzen ein erster Beweger angenommen werden müsse, kann per se nicht als heilswirksam angenommen werden. Praeambula fidei sind noch nicht fides.

Wille und Verstand sind voneinander abhängig

Hier fügt Thomas indessen noch einige Bemerkungen hinzu, die vor Missverständnissen bewahren sollen. Die Sache sei nicht so zu verstehen, als wären Wille und Verstand zwei Wesen, die sich möglicherweise auch noch gegenüberstünden. Es handele sich dabei vielmehr um zwei Vermögen des einen menschlichen Geistes, die noch dazu voneinander abhängig sind. In vielen Entscheidungssituationen der Wille von Verstand und Vernunft – aber manchmal eben auch umgekehrt. Der Wille sei grundsätzlich „in“ der Vernunft (voluntas est in ratione); wenn er in Tätigkeit träte, so deshalb, weil die Vernunft im Grunde auch bereits zugestimmt habe. In dem letzten Augenblick, in dem es sich darum handele, verantwortungsvoll und gottgefällig zu handeln, seien sich Vernunft und Wille so gut wie immer einig. Daraus folge nun: „Wenn nämlich der Mensch einen entschiedenen Willen zum Glauben besitzt, so liebt er die im Glauben erfasste Wahrheit, denkt darüber nach und greift nach allen Gründen, die er dazu nur auffinden kann.“[6]

Ein bloßer Willensentschluss?

Fazit: Auch gemäß Thomas kann man nicht so einfach auf einen bloßen Willensentschluss hin glauben. Der Glaube ist im Bereich der Vernunft und damit nahe bei der Wahrheit zu verorten. Somit ist es etwa ausgeschlossen wirklich zu glauben, dass Zwei und Zwei Fünf ergeben… Dergleichen steht außer Zweifel und es wäre auch viel zu „billig“, auf diese Weise zum Glauben zu gelangen. (In der Anthropologie des Duns Scotus kommt dem Willen ein viel größeres Gewicht zu als bei Thomas, aber auch hier wird diese Grundüberzeugung nirgendwo in Zweifel gezogen.) Nur, dass uns diese Einsicht nicht vorschnell zu der Annahme verleiten sollte, es komme dem Willen für die Erlangung des Glaubens gar keine Rolle zu. Echtem und starkem Glauben geht Thomas zufolge ein Gnadenakt voraus. Wird der Wille durch Gottes Gnade aus seinen üblichen Verstrickungen in diverse Gemengelagen von Begierden und Interessen befreit (den „Gnade“ ist bei Thomas nie als eine Bestimmung des Willens von Gott her zu verstehen, sondern als eine Hilfestellung zur Freiheit), so eignet ihm in diesen Augenblicken sogar das entscheidende Gewicht. Das läuft auf keinen versteckten Voluntarismus Thomas‘ hinaus; es unterstreicht aber das, was mit einer neueren Vokabel sein „ganzheitliches Menschenbild“ genannt werden könnte. Da es der ganze Mensch ist, der glaubt, ist es auch der ganze Mensch, der sich für den Glauben entschieden hat – oder noch entscheiden kann.

Thomas könnte uns den etwas komplizierten Akt einer solchen Entscheidung, auch 750 Jahre nach seinem Tod, nicht nur ausgezeichnet erklären – er könnte sie uns auch ein Stück weit erleichtern. Da er ja ein großer Heiliger ist: Was hindert uns daran, ihn um seine Fürsprache zu bitten?

Text: Sigmund Bonk

(kw)

 


[1] „Da der Glaube den Verstand angeht, sofern dieser unter dem Befehl des Willens steht, so muss er auf die Gegenstände jener Tugenden, durch welche sich der Wille vollendet als auf sein Ziel hin geordnet sein. Zu ihnen gehört die Hoffnung. Daher wird bei der Begriffsbestimmung des Glaubens der Gegenstand der Hoffnung eingesetzt.“ (S.th., II-II, q. 4, a. 1).

[2] Martin Grabmann, Thomas von Aquin. Persönlichkeit und Gedankenwelt. Eine Einführung, München 1949, S. 153 f.

[3] Vgl. hierzu einen sehr klar argumentierenden Aufsatz, darin die Rolle der Gnade für den Glauben betont wird: Benjamin M. Block, „The Balance of Faith and Reason: The Role of Confirmation in the Thought of St. Thomas Aqinas“, in: Studia Gilsoniana, 4-3 (July / September 2015), S. 209-228.

[4] De veritate, q. 14, a. 1: Thomas räumt somit dem Willen als oberem Begehrungsvermögen, das auf das Gute aus ist, in bestimmten Situationen einen Primat gegenüber dem Verstand ein – was durchaus an die Position Augustins, Duns Scotus‘ und sogar Kants erinnert: vgl. zu Kant etwa Kritik der praktischen Vernunft A 218f. Gegen die Einbeziehung Duns Scotus‘ erhebt allerdings Sertillanges den Einwand: „Wenn wir [mit Thomas] behaupten, dass bei einer wahrscheinlichen Sache der Wille der Zustimmung des Verstandes zu Hilfe kommt, so heißt das nicht, dass der Wille hier zur Vernunft wird, und urteilt. Diese ‚skotistische Vorstellung‘, wie sich ein Kommentator ausdrückt, kommt uns nicht in den Sinn. Wenn der Wille der Zustimmung der Vernunft zu Hilfe kommt, so tut er es durch die Vernunft; nur ist diese Vernunft nicht mehr von der gleichen Art wie die erste. Die erste ist ganz nur Vernunft, wenn man so sagen darf; die zweite ist dagegen getränkt mit Wollen, und da die Vernunft weiß, dass es in einem solchen Fall für den Menschen vernünftig ist, nicht auf die Vernunft allein zu hören, so opfert sie ein Stück ihrer Selbstherrlichkeit und rettet dadurch sich selbst; sie findet sich, indem sie sich verliert.“ (A. D. Sertillanges, Der heilige Thomas von Aquin, a.a.O., S. 561f.)

[5] De veritate, q. 14, a. 3.

[6] Sth. II-II. q. 2 a. 10.

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