Regensburg, 9. September 2024
Katholische Glaubenspositionen als Provokation: Prof. Josef Kreiml schreibt über einen Lifestyle, in dem erprobte Standpunkte allzu oft zugunsten billiger Trends relativiert werden.
Glaubenspositionen, wie sie von der katholischen Kirche vertreten werden, sind für den heutigen Lifestyle vielfach zu einer ungeheuren Provokation geworden. Wir haben uns angewöhnt, erprobte Standpunkte und Verhaltensweisen als etwas zu betrachten, was man zugunsten billiger Trends ohne weiteres relativieren oder aufgeben kann. Denn wir leben heute in einem Zeitalter des Relativismus, einer Weltanschauung, die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.
Der Glaube schenkt Weite
Für Christen ist es heute wichtig, dass sie geistliche, wirklich glaubende und mutige Menschen sind, die sich „nicht vor dem Diktat der Meinungen beugen“ (Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg 2010, S. 109). Benedikt XVI. bekennt, er habe in seinem ganzen Leben erfahren, dass der Glaube Freude bringt und Weite schenkt. Von Europa allein aus betrachtet habe es heute den Anschein, dass sich die Kirche im Niedergang befindet. In anderen Erdteilen hingegen ist sie voller Dynamik.
Nach der Wahrheit Ausschau halten
Ein Großteil der heutigen Philosophen hält den Menschen – so Benedikt XVI. – für „nicht wahrheitsfähig“. Die Wahrheit aber als unerreichbar abzutun, wirkt zerstörerisch. Es bedarf heute des Wagemuts, nach Wahrheit Ausschau zu halten. Freilich braucht die Wahrheit Kriterien der Bestätigung und der Widerlegung, und sie muss mit Toleranz einhergehen. Die Wahrheit zeigt uns „jene konstanten Werte auf, die die Menschheit groß gemacht haben. Deshalb muss die Demut, Wahrheit anzuerkennen und maßstäblich werden zu lassen, wieder neu gelernt und eingeübt werden“ (ebd., 70). Papst Benedikt hat im Gespräch mit Peter Seewald Anzeichen für eine „neue Intoleranz“ benannt. Auf der Grundlage einer „negativen Toleranz“ (z. B. „Kein Kreuz in öffentlichen Gebäuden!“) darf sich Religion nicht mehr sichtbar ausdrücken. Benedikt XVI. spricht diesbezüglich vom „tyrannischen Maßstab einer abstrakten Negativreligion“. Wir stehen vor der wirklichen Bedrohung, dass „im Namen der Toleranz die Toleranz abgeschafft wird“ (ebd., 72). Benedikt XVI. warnt vor dem freiheitsfeindlichen Totalitätsanspruch einer beschränkten säkularen Vernunft.
Gott an die erste Stelle setzen
Der Mensch sucht unendliche Freude, die es ohne Gott nicht geben kann. Als Christen sind wir deshalb herausgefordert, alle Kräfte der Seele und des Guten zu mobilisieren, um den Kreislauf des Bösen zu durchbrechen. Benedikt XVI. verweist in diesem Zusammenhang auf die Phänomene des Drogenkonsums, mit denen unvorstellbare Prozesse der Zerstörung verbunden sind. Zur heute notwendigen Umkehr gehört es, Gott wieder an die erste Stelle zu setzen. Wir müssen „das Experiment mit Gott wieder wagen“ (ebd., 83). Unsere große Aufgabe besteht heute darin, den Vorrang Gottes neu in den Vordergrund zu rücken. Wenn Gott aus dem Blick gerät, verliert der Mensch seine Würde und seine eigentliche Menschlichkeit. Dann bricht das Wesentliche zusammen. Die Richtigkeit dieser Analyse Benedikts XVI. wird an der heute sich teilweise anbahnenden Unregierbarkeit mancher Länder sichtbar. Heute geht es darum, die Dramatik unserer Zeit zu erfassen, in ihr das Wort Gottes als das entscheidende Wort festzuhalten und zugleich dem Christentum jene Tiefe zu geben, ohne die es nicht wirken kann.
Ökumenisches Zeugnis für die Welt
Den verschiedenen christlichen Konfessionen ist ein gemeinsamer Dienst für die Welt aufgetragen. Die Welt „braucht ein begründetes, geistlich fundiertes … Zeugnis für den einen Gott, der in Christus zu uns spricht“ (ebd., 113). Seine besondere Hinwendung zur orthodoxen Christenheit begründet Benedikt XVI. damit, dass Katholiken und Orthodoxe „die gleiche altkirchliche Grundstruktur“ haben. Schon als Professor in Bonn und Regensburg habe er im orthodoxen Raum viele Freundschaften knüpfen können. „Sehr dankbar“ war Papst Benedikt XVI. für die Freundschaft und Herzlichkeit, die ihm der Ökumenische Patriarch Bartholomaios (geb. 1940) entgegengebracht hat. Im Hinblick auf die Ökumene mit den evangelischen Christen stellt Benedikt XVI. fest, dass der Protestantismus Schritte gesetzt hat (z. B. bestimmte ethische Stellungnahmen, Konformismus mit dem gegenwärtigen Mainstream etc.), die das Gespräch erschweren. Es gebe aber in den protestantischen Gemeinschaften auch Menschen, „die lebhaft zur eigentlichen Substanz des Glaubens hindrängen und diese Haltung ihrer Großkirchen nicht billigen“ (ebd., 119).
Gespräch mit dem Islam
Bei seinem Besuch in der Türkei im Jahr 2006 konnte Benedikt XVI. nach eigener Einschätzung zeigen, dass er den Islam „als eine große religiöse Wirklichkeit anerkenne“ (ebd., 123). Es sei ein intensiver Dialog gewachsen. Der Islam müsse jedoch die Frage seines Verhältnisses zur Gewalt und zur Vernunft klären. „DIE ZEIT“ hat festgestellt, dass Benedikt XVI. „in der islamischen Welt zur wichtigsten Autorität des Westens“ geworden ist. Im christlich-islamischen Dialog geht es nach Ansicht des damaligen Papstes um das Verhältnis von Wahrheit und Toleranz. Gehört zur Toleranz auch das Recht des Religionswechsels? In manchen Teilen Afrikas besteht – so Benedikt XVI. – „ein tolerantes und gutes Miteinander zwischen Islam und Christentum“ (ebd., 126). Wo jedoch der Islam monokulturell herrscht, wird das Wahrheitsbewusstsein vielfach so eng, dass es sich zur Intoleranz verkehrt. Mit allen dialogwilligen islamischen Kräften müsse ein intensiver Kontakt gepflegt werden.
Evangelisierung unter den heutigen Bedingungen
Die neuzeitliche Wissenschaft hat die Grundorientierung des Menschen zur Wirklichkeit massiv verändert. Der Mensch sucht nicht mehr das Geheimnis bzw. das Göttliche. Vielmehr glaubt er zu wissen, dass die Wissenschaft das noch nicht Verstehbare irgendwann enträtseln wird. Andererseits sieht die Wissenschaft auch wieder ihre Grenzen. Viele Wissenschaftler fragen nach dem Woher des Ganzen. Damit wächst ein neues Verstehen des Religiösen aus dem inneren Zusammenhang der schöpferischen Vernunft Gottes heraus. In diesem großen Zusammenhang muss sich Religion heute regenerieren und neue Ausdrucks- und Verstehensformen finden. Wir müssen z. B. wieder neu verstehen, dass das Böse nicht einfach weggeschoben oder vergessen werden kann, sondern von innen her aufgearbeitet werden muss. Insofern ist heute eine neue Evangelisierung dringend notwendig. Dabei verweist Benedikt XVI. auf die Vernünftigkeit des Evangeliums und zugleich auf seine die Rationalität übersteigende Macht. Durch die großen Bedrängnisse unserer Zeit erkennen wir immer mehr, dass wir neben technischem Können auch moralische und menschliche Größe, also geistliches Wachstum, brauchen. Bei vielen Begegnungen mit führenden Politikern hat Benedikt XVI. ein Bewusstsein dafür wahrgenommen, dass „ohne die Kraft der religiösen Autorität die Welt nicht funktionieren kann“ (ebd., 165).
Rettung durch die Begegnung mit Gott
Die Frage Peter Seewalds, warum es in der kirchlichen Verkündigung ein auffallendes Schweigen zu Themen über die „Letzten Dinge“ (Letztes Gericht, Reinigungsort, ewige Gottferne, Himmel) gebe, hält Benedikt XVI. für eine „ganz ernste Frage“. Predigten sind weitgehend auf die Gestaltung einer besseren Welt ausgerichtet, während „die wirklich bessere Welt kaum noch erwähnt wird“ (ebd., 208). Es müssen neue Wege gefunden werden, um dem Menschen den Durchbruch durch die Schallmauer der Endlichkeit zu ermöglichen; es muss auch von Gericht, Gnade und Ewigkeit gesprochen werden. In jeder Eucharistiefeier gehen wir dem kommenden Christus entgegen, „und Er kommt und antizipiert [d. h. nimmt vorweg] diese Stunde, die einmal ihre Endgültigkeit haben wird“ (ebd., 209). Bei unseren Taten sollen wir wissen, dass wir unter dem Gericht Gottes stehen. Wir müssen uns dem Ernst des Bösen radikal stellen. Der Mensch kann nur gerettet werden, wenn in seinem Herzen „die moralischen Kräfte wachsen, Kräfte, die nur aus der Begegnung mit Gott kommen können“ (ebd., 214).
Das Entscheidungschristentum verlebendigen
In der westlichen Welt gehen wir immer mehr auf ein Entscheidungschristentum zu. Heute gilt es, dieses Entscheidungschristentum „zu festigen, zu verlebendigen und auszuweiten, so dass mehr Menschen wieder bewusst ihren Glauben leben und bekennen“ (ebd., 190). Der Glaube hat die Kraft, der jeweiligen Kultur Werte einzuprägen, auch wenn die Christen nicht die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Die Begegnung mit Gott reicht bis ins Innerste des Menschen hinein. Insofern ist Glaube immer ein „Geschehen in Freiheit“. Bei Benedikt XVI. bilden Vernunft und Frömmigkeit eine faszinierende Symbiose. Er beschreibt mit bestechender analytischer Kraft die wesentlichen geistigen Vorgänge unserer Zeit und macht mit großer Eindringlichkeit einsichtig, warum „uns nur Gott retten“ kann. Dieses Wort geht auf den Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) zurück (vgl. „Nur noch ein Gott kann uns retten“. SPIEGEL-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966, in: DER SPIEGEL Nr. 23/1976, 193-219). Benedikt XVI. ermutigt mit überzeugenden Argumenten viele Menschen neu zum Glauben und zur Hoffnung.
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Leiter der Hauptabteilung Orden und Geistliche Gemeinschaften im Bistum Regensburg
(kw)