Regensburg, 3. April 2024
Prof. Josef Kreiml befasst sich mit dem Vertrauen zum Glauben: Ist das „Glauben“ eine Einstellung, die eines modernen und mündigen Menschen würdig ist?
Im Gegensatz zum Wissen erscheint uns „Glauben“ als eine provisorische, vorläufige Haltung, über die man eigentlich hinauskommen sollte, auch wenn „Glauben“ häufig unvermeidlich ist.
Alltagsglaube als menschliche Grunderfahrung
Niemand kann all das, worauf sich in unserer technischen Zivilisation unser Leben gründet, wirklich wissen und aus eigenem wissenden Verstehen beherrschen. Wir alle benutzen von früh bis spät Produkte der Technik, deren genaue Funktionsweise wir nicht kennen. Wer kann die Statik des Hochhauses, das Funktionieren des Aufzugs, den ganzen Bereich des Elektronischen, die Zusammensetzung eines Medikamentes nachrechnen und sich ihrer vergewissern? Wir leben in einem Netz des Nicht-Gewussten, auf das wir uns aufgrund unserer meist positiven Erfahrungen verlassen. Wir „glauben“, dass es mit alldem seine Richtigkeit hat, und stützen uns durch ein solches „Glauben“ auf das Wissen anderer Menschen (vgl. zum Folgenden Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Auf Christus schauen. Einübung in Glaube, Hoffnung, Liebe, Freiburg 2006, 9-46).
Was ist das für ein „Glaube“, den wir unbewusst laufend praktizieren, der die Grundlage unseres täglichen Zusammenlebens bildet? Zwei gegensätzliche Seiten dieser Art von „Glaube“ springen in die Augen: Zunächst ist eine solche Art von Glaube für unser Leben unerlässlich. Andernfalls würde nichts mehr funktionieren. Jeder müsste immer wieder von vorne anfangen. Unser menschliches Leben würde unmöglich, wenn wir anderen nicht mehr vertrauen könnten und uns auf ihre Erfahrung, ihre Kenntnis, auf das uns Vorgegebene nicht mehr verlassen dürften. Das ist die eine, positive Seite dieses „Glaubens“.
Vertrauen als Grundvoraussetzung des Lebens
Andererseits ist unser „Glaube“ Ausdruck einer Unkenntnis. Wissen wäre besser. Wir können uns nur deshalb auf den ganzen Mechanismus der technischen Welt verlassen, weil es einige Menschen gibt, die die jeweilige Sache erforscht haben und sie „wissen“. Insofern ist der Wunsch, so weit wie möglich vom Glauben zum Wissen zu kommen – jedenfalls im Bereich unseres alltäglichen Lebens –, richtig und sinnvoll. Mit diesen Überlegungen aus dem Raum der rein innerweltlichen, alltäglichen Lebensbewältigung gewinnen wir Einsichten, die auch für den religiösen Glauben wichtig sind. Dem Alltagsglauben haftet zunächst der Charakter des Ungenügenden und Provisorischen an. Er ist eine Vorstufe des Wissens, über die man nach Möglichkeit hinauszukommen sucht. Daneben gilt auch Folgendes: Solcher „Glaube“ ist gegenseitiges Vertrauen, gemeinsame Teilhabe am Verstehen und Bewältigen der Welt. Dieser Aspekt ist wesentlich für die Gestaltung menschlichen Lebens überhaupt. Ohne Vertrauen könnten die Menschen in einer Gesellschaft nicht zusammenleben.
Auf das Wissen anderer Menschen vertrauen
Damit haben wir die grundlegende Form unseres Alltagsglaubens erkannt: Solcher Glaube enthält einerseits einen Minder-Wert gegenüber dem „Wissen“, andererseits aber einen Grund-Wert menschlicher Existenz, ohne den keine Gesellschaft bestehen würde. Wir können drei Elemente unseres Alltagsglaubens benennen: Er bezieht sich immer auf jemanden, der um die in Frage kommende Sache „weiß“. Der Alltagsglaube setzt die wirkliche Sachkenntnis qualifizierter und glaubwürdiger Personen voraus. Dazu kommt als Zweites das Vertrauen der vielen Menschen, die in ihrem täglichen Gebrauch der Dinge auf die Solidität des dahinterstehenden Wissens von Spezialisten bauen. Als drittes Element ist eine gewisse Bestätigung des Wissens anderer in meiner Alltagserfahrung notwendig. Dass das mit dem elektrischen Strom seine Richtigkeit hat, kann ich zwar nicht wissenschaftlich beweisen, aber das tägliche Funktionieren meiner Geräte zeigt mir, dass ich, obwohl ich diesbezüglich kein Wissender bin, mit gutem Grund dem Wissen anderer vertraue.
Kann man sich in Glaubensfragen neutral verhalten?
Wenn wir nun den Übergang zum religiösen Glauben versuchen, stellt sich sofort ein schwerwiegender Einwand in den Weg: Es mag sein, dass im menschlichen Miteinander unmöglich jeder Mensch alles Lebensnotwendige und Nützliche „wissen“ kann; es mag sein, dass unser Handeln darauf beruht, dass wir durch „Glauben“ am „Wissen“ anderer Menschen beteiligt sind. Wir bleiben dabei aber immer im Bereich menschlichen Wissens, das grundsätzlich alle erwerben können. Mit dem Glauben an Gott und seine Offenbarung überschreiten wir jedoch die Grenze menschlichen Wissens. Selbst wenn die Existenz Gottes vielleicht noch zu „Wissen“ werden könnte – die Inhalte unseres christlichen Glaubens können von jedem Menschen für immer nur „geglaubt“ werden. Hier gibt es keinen Rückbezug auf das Fachwissen einiger, auf die wir uns verlassen können, weil sie die Dinge aus eigenem Erforschen unmittelbar kennen.
So stehen wir vor der Frage: Ist der Glaube an Gott mit modernem kritischem Bewusstsein vereinbar? Wäre es nicht dem mündigen Menschen unserer Zeit gemäßer, sich des Urteils über derlei unsichere Dinge zu enthalten? Der Versuch, sich in Glaubensfragen neutral zu verhalten, entspricht zweifellos dem durchschnittlichen Bewusstsein von heute. Die Redlichkeit des Denkens scheint den Agnostizismus (= die Überzeugung, dass die Frage, ob Gott existiert und sich den Menschen mitgeteilt hat oder nicht, prinzipiell nicht entscheidbar ist) zu empfehlen – gleichsam als Eingeständnis, dass unser Zugriff und unser Blickfeld an einem bestimmten Punkt enden, und als Ehrfurcht vor dem, was uns unzugänglich ist.
Gibt es eine „maßgebliche Wirklichkeit“?
Gegenüber dieser Weise von geistiger Demut drängt sich jedoch folgender Einwand auf: Der Durst nach dem Unendlichen gehört nun einmal zum Wesen des Menschen, ja er macht geradezu sein Wesen aus. Die Grenzen der Wissenschaft dürfen nicht mit den Grenzen unserer menschlichen Existenz überhaupt verwechselt werden. Können wir als Menschen die Frage nach Gott – die Frage nach unserem Woher, unserem Wohin und nach dem Maßstab unserer Existenz – einfach beiseiteschieben? Können wir einfach leben, „als ob es Gott nicht gäbe“, wenn es ihn vielleicht doch gibt? Die Frage nach Gott wirkt sich auf alle Bereiche unseres Lebens aus. Ich muss mich in der Praxis zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: leben, als ob es Gott nicht gäbe, oder leben, als gäbe es Gott und als sei er die maßgebliche Wirklichkeit für mein Leben. Vor Gott kann ich nicht neutral bleiben. Ich kann nur ja oder nein sagen und dies mit allen Konsequenzen bis in die kleinsten Dinge meines Lebens hinein.
Die Torheit der Gescheiten
Jesus erzählt die Geschichte von der guten Ernte des reichen Mannes (Lk 12,16-21): Der reiche Mann dieses Gleichnisses ist ohne Zweifel intelligent. Er versteht sich auf sein Geschäft. Seine Überlegungen sind wohlbedacht, der Erfolg gibt ihm Recht. Mit so unsicheren Dingen wie der Existenz Gottes beschäftigt er sich nicht. Er geht mit dem Sicheren und Berechenbaren um. Deshalb ist sein Lebensziel sehr innerweltlich und handgreiflich: der Wohlstand und das Glück des Wohlergehens. Dann geschieht genau das, was er nicht in seine Rechnung einbezogen hatte. Gott spricht zu ihm über eine Angelegenheit, die dieser Mann als zu unsicher und zu unwichtig aus seinem Kalkül ausgeklammert hatte: davon, was mit seiner Seele geschieht, wenn sie nackt vor Gott steht, jenseits von Besitz und Erfolg. „Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern“ (Lk 12,20). Der intelligente und erfolgreiche Mann ist in den Augen Gottes ein Dummkopf.
Dieser törichte Intelligente verkörpert unser modernes Durchschnittsverhalten. Unsere technischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten sind ins Unvorstellbare gewachsen. Trotz aller Schrecklichkeiten unserer Zeit verstärkt sich bei vielen immer noch die Meinung, wir seien daran, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen herbeiführen zu können. Aber gerade in dieser scheinbaren Annäherung an die Selbsterlösung der Menschheit wird die ungesättigte menschliche Seele sichtbar: ihr unstillbarer Durst, ihr Verlangen nach Gott.
Das Geheimnis Gottes entdecken
Das Ziel unseres Lebens besteht darin, den Anruf Gottes zu hören, den Ruf unserer Seele zu vernehmen und das Geheimnis Gottes wiederzuentdecken. Das Sich-Ausstrecken des Menschen auf Gott hin ist etwas anderes als unkritisches Denken. Im Gegenteil, die Weigerung, sich mit Gott zu beschäftigen, der Verzicht auf diese höchste Offenheit des Menschen ist ein Akt des Sich-Verschließens. Der Mensch, der sich selbst zum Herrn der Wahrheit macht, täuscht sich. Dem Selbstherrlichen entzieht sich Gott. Er zeigt sich nur dem Menschen, der vor seinem Schöpfer in der Haltung der Ehrfurcht, der verehrenden Demut steht. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,52). In diesen Worten der Gottesmutter geht es nicht um die Idee des Klassenkampfes. Vielmehr drückt sich in ihnen das Staunen eines von Gott berührten Menschen über die Wege Gottes aus. Einer „kritischen“ Gesinnung, in der der Mensch alles kritisiert, nur sich selber nicht, steht hier im „Magnifikat“ die Offenheit aufs Unendliche gegenüber, die Demut des Denkens, das bereit ist, sich der Majestät Gottes zu beugen, vor dem wir nicht Richter, sondern Bettler sind. Nur dem wachen und demütigen Herzen zeigt sich Gott. Eine solche Offenheit für Gott hat nichts mit Leichtgläubigkeit zu tun. Sie verlangt im Gegenteil wache Selbstkritik.
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml
(kw)