Person der Woche: Dr. Nicole Ehrmann-Ludwig, FakS Regensburg

Jeder 4. Viertklässler kann nicht richtig lesen


Regensburg, 2. Mai 2025

Dr. Nicole Ehrmann-Ludwig ist die stellvertretende Leiterin der privaten Caritas-Fachakademie für Sozialpädagogik Regensburg (FakS). Anlässlich des Welttages der Bildung hat sie sich über den Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz und Bildungschancen bei Kindern geäußert. Jeder 4. Viertklässler könne laut der aktuellen IGLU-Studie nicht richtig lesen, sagt sie. Wir haben uns zum Interview als Person der Woche mit ihr verabredet.

 

Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Sprachkompetenz von Kindern und ihrem schulischen und oft auch beruflichen Erfolg? Gibt es dazu Untersuchungen?

Ja, vor allem zum Zusammenhang zwischen Sprachkompetenzen und schulischem Erfolg gibt es viele Untersuchungen. Man weiß inzwischen zum Beispiel, dass die Sprachkompetenzen eines Kindes schon bei Schuleintritt eine große Rolle für seinen späteren Schulerfolg spielen können. Wenn Kinder also mit ca. sechs Jahren einen umfangreichen, konkreten Wortschatz haben, sich grammatikalisch richtig ausdrücken können und im Vorschulalter auch eine Bewusstheit für Reime, Silben und Laute aufbauen konnten, dann erzielen sie in den darauffolgenden Schuljahren tendenziell bessere Leistungen im Lesen, Schreiben und sogar in Mathe. Der Zusammenhang bleibt über die ganze Schulzeit hinweg bestehen: Je besser Kinder oder Jugendliche lesen und Texte verstehen können, umso leichter können sie natürlich Inhalte erfassen und Aufgaben bearbeiten. Leider gilt der Zusammenhang auch umgekehrt: Sind die Sprachkompetenzen von Beginn an weniger gut entwickelt, fehlt im Schulalltag oft die Zeit, Rückstände aufzuholen. Kommen dann das Lesen und das Textverständnis hinzu, verlieren manche Kinder leider total den Anschluss. Das Problem verschärft sich dann über die Schuljahre hinweg in den verschiedenen Schulfächern immer mehr. Deshalb ist die frühkindliche Sprachförderung auch so wichtig. 

Spannend finde ich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprachkompetenzen und Persönlichkeitsentwicklung. Für mich zählt dazu, dass sich ein Kind seiner selbst bewusst wird, also eine eigene Identität entdeckt und weiterentwickelt. Es lernt, seine Gefühle wahrzunehmen und sprachlich auszudrücken. Ganz besonders entwickelt sich die Persönlichkeit aber auch in den Interaktionen und Beziehungen mit anderen Menschen. Dabei spielt auch von Beginn die Sprache eine große Rolle: Es gibt Untersuchungen dazu, dass Konflikte unter Drei- bis Vierjährigen unterschiedlich ausgetragen werden, je nachdem wie sprachkompetent die Kinder sind. Kinder, denen noch viele sprachliche Mittel fehlen, tendieren eher dazu, sich körperlich aggressiv zu verhalten und z. B. andere zu beißen, während sprachlich fittere Kinder beim Streiten vornehmlich auf verbale Mittel zurückgreifen. Sprache prägt im Grunde fast jeden zwischenmenschlichen Austausch. Wir brauchen sie, um uns zu begrüßen, zu verabschieden, etwas zu vereinbaren, jemanden zu etwas einzuladen, uns zu bedanken, etwas vorzuschlagen, über gemeinsame Erlebnisse zu sprechen, Pläne zu schmieden oder um Mitgefühl auszudrücken. Kinder und Jugendliche müssen dafür sensibilisiert werden, dass sie mit ihrer Art der Sprachverwendung Verantwortung für sich und andere tragen und dass Worte zutiefst verletzen oder erniedrigen können. Es ist Aufgabe aller, die im Bildungssystem mit Kindern arbeiten oder sie erziehen, ihnen früh bewusst zu machen, wie Sprache auf andere wirkt. Wir müssen sie dabei begleiten, zu lernen, wie man wertschätzend miteinander kommuniziert. 

Wie können Eltern die Sprachkompetenz ihrer Kinder von klein auf fördern?

Es ist echt nicht zu unterschätzen, wieviel es bewirkt, wenn Eltern von klein auf viel mit ihren Kindern sprechen. Dabei spielt es in den ersten Lebensmonaten noch gar keine Rolle, welche Qualität die elterliche Sprache hat. Es ist einfach für die Bindung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen wichtig, dass das Kind ihre Zuwendung erfährt und sich durch ihre vertrauten Stimmen sicher und geborgen fühlen kann. Wenn das Kind ein halbes Jahr alt ist kann man es dadurch fördern, dass man alltägliche Gegenstände und Handlungen benennt. Bis das Kind eineinhalb bis zwei Jahre alt ist wird es nur einzelne Wörter oder ganz kurze Sätze sprechen. Die Eltern können es am besten unterstützen, indem sie selbst einfache, aber korrekte Sätze zu ihrem Kind sagen und nicht unnötig in „Babysprache“ sprechen, also „Hund“ statt „Wau-Wau“ sagen. Auf jeden Fall ist es für die Sprachentwicklung unglaublich förderlich, schon in diesem Alter viel vorzulesen oder Wimmelbücher mit dem Kind anzuschauen. In den folgenden Jahren bis zum Schulbeginn können die Eltern ein Kind am besten unterstützen, indem sie weiterhin viel vorlesen und viel mit dem Kind sprechen und dabei auch selbst sprachliche Vorbilder sind. Jetzt ist auch die Qualität ihrer Sprache wichtig: Wie genau, wie komplex und wie korrekt sich die Eltern untereinander und den Kindern gegenüber ausdrücken. Es ist natürlich so, dass nicht alle Eltern dazu in der Lage sind, weil sie manchmal selbst nicht über die dazu notwendigen Sprachkompetenzen verfügen. Deshalb ist es wichtig, dass diese Kinder in den Kindertageseinrichtungen von den Erzieherinnen und Erziehern zusätzliche Unterstützung bekommen. 

Immer mehr Kinder wachsen zwei- oder mehrsprachig auf. Was gibt es dazu zu sagen? Sind die Herausforderungen an Fachkräfte mehr geworden in den letzten Jahren?

Mehrsprachig aufzuwachsen ist aus meiner Sicht etwas sehr Positives. Wenn ein Kind mehrere Sprachen lernt, dann kann es mit seinen engsten Bezugspersonen genauso wie mit den Menschen in seiner Umgebung oder Bildungseinrichtung über verschiedenste Themen sprechen. Vor allem die emotionale Ebene ist hier wichtig, weil die Eltern zum Beispiel Kosewörter oder Gute-Nacht-Geschichten oft besser in ihren Herkunftssprachen ausdrücken können. Mehrsprachigkeit bedeutet auch nicht automatisch, dass ein Kind mehr Förderbedarf im Deutschen hat als ein Kind mit Deutsch als Erstsprache. Es gibt genauso wie unter den nur deutschsprachig aufwachsenden Kindern große Unterschiede, die nicht zuletzt auch mit dem Bildungsstand der Eltern zu tun haben. Man kann aber sagen, dass die Diversität hinsichtlich der verschiedenen Sprachen und auch der Sprachkompetenzniveaus immer mehr zugenommen hat, was sicher auch mit steigenden Herausforderungen für die pädagogischen Fachkräfte einhergeht. In der Ausbildung versuchen wir, sie bestmöglich darauf vorzubereiten, auch indem wir z. B. Methoden vermitteln, die angesichts der zeitlichen und personellen Ressourcen in den Einrichtungen realistisch und umsetzbar sind. 

Fördern, fordern, kann man Kinder überfordern?

In Bezug auf die Sprachförderung – ja! Es bringt z. B. nichts, wenn man Kindern Vorlesegeschichten ohne Bilder vorliest, wenn sie noch kaum Texte verstehen. Oder wenn man von ihnen verlangt, dass sie wichtige Meilensteine des Spracherwerbs „überspringen“, also dass sie z. B. den korrekten Artikel der, die oder das verwenden, wenn sie noch gar keinen Artikel gebrauchen. Das ist für die Kinder dann eher frustrierend oder zumindest demotivierend. Die Sprachförderung sollte sich immer am aktuellen Sprachstand orientieren. Das, was man mit den Kindern im Rahmen der Sprachförderung erreichen möchte, sollte jeweils eine kleine Stufe über dem liegen, was sie selbst schon können, aber nicht zwei oder mehr Stufen darüber. 

Wie bereiten Sie die Studierenden der FakS darauf vor, die Sprachkompetenz gut fördern zu können?

Wir arbeiten ganz viel mit konkreten Praxisbeispielen, die die Studierenden selbst einbringen und mit echten Ton- und Filmaufnahmen sowie Texten von Kindern und Jugendlichen. Gemeinsam probieren wir Fördermaterialien und -methoden aus und die Studierenden bewerten deren Nutzen für die Praxis. In Verbindung damit vermittele ich den Studierenden fachliches Wissen zum Spracherwerb und zur Sprachförderung im Krippen-, Kindergarten- und Schulalter. Ich versuche außerdem, den Studierenden mit auf den Weg zu geben, wie zentral ihre Rolle dabei ist und wie erfüllend und sinnstiftend es ist, wenn man merkt, dass man bei den Kindern durch gezielte Sprachförderung sehr viel bewirken kann. 

Das riesige Potential, angehenden Erziehern alles Wichtige zur Sprachförderung mitzugeben besteht darin, dass wir möglichst früh ansetzen: Anders als Lehrkräfte im Lehramtsstudium arbeiten sie mit Kindern im Krippen- und Kindergartenalter und können so ganz wichtige Grundsteine legen. 

Sie haben mit dem Staatsinstitut für Frühpädagogik das Fortbildungskonzept für den „Vorkurs Deutsch 240“ entwickelt. Worum geht’s da?

Der Vorkurs Deutsch 240 ist eine Sprachfördermaßnahme in Bayern, die es schon seit vielen Jahren gibt. Dabei erhalten alle Kinder - ob mit oder ohne Migrationshintergrund - von pädagogischen Fachkräften im Kindergarten und Grundschullehrkräften die zusätzliche Unterstützung, die sie im Deutschen brauchen: 240 Stunden zusätzliche Sprachförderung in den eineinhalb Jahren vor Schulbeginn. Seit 2010 bilde ich gemeinsam mit einer Kollegin alle Fachkräfte in der Oberpfalz fort, die diese Vorkurse durchführen. Neben dem Staatsinstitut für Frühpädagogik, dem Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung und anderen habe ich dazu ein praxisbezogenes Fortbildungskonzept mitentwickelt.

Was tut die Politik bereits und was muss sie noch tun, damit mehr Sprachförderung in Krabbelstuben, Kindergärten und Schulen ankommt?

Vor allem in den letzten eineinhalb Jahren ist einiges passiert. Mit der bayerischen PISA-Offensive ist ein Maßnahmenpaket gestartet worden. In dem Rahmen erhalten alle vier Jahrgangsstufen der Grundschule eine zusätzliche Stunde Deutsch. Seit Dezember 2024 gibt es auch eine grundlegende Neuerung beim Vorkurs Deutsch 240: Bis dahin konnten die Kindergärten nur eine Empfehlung für die Teilnahme am Vorkurs Deutsch aussprechen. Die Eltern konnten entscheiden, ob das Kind mitmacht. Ab jetzt werden alle Kinder im vorletzten Kindergartenjahr, die nach einem Sprachtest einen erhöhten Förderbedarf im Deutschen zeigen, zur Teilnahme an einem Vorkurs im letzten Kindergartenjahr verpflichtet. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass es nicht nur im Kindergarten, sondern auch an den Schulen Unterstützungsmaßnahmen für Kinder mit zusätzlichem Sprachförderbedarf gibt und dass hierbei auch die betreffenden Kinder ohne Migrationshintergrund zusätzlich gefördert werden. Es wäre außerdem wichtig, dass alle pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte in Bayern zu Sprachförderung ausgebildet und vor allem auch in ihrer Praxis noch weiter begleitet und unterstützt werden. 

Interview: Silke Schötz

(SSC)

Weitere Infos

Die Fachakademie für Sozialpädagogik der Caritas in Regensburg ist die größte Fachakademie für Sozialpädagogik in Ostbayern. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung wird die Berufsbezeichnung “Staatlich anerkannte Erzieherin / staatlich anerkannter Erzieher (Bachelor Professional im Sozialwesen)” verliehen. Die Ausbildung an der Caritas Fachakademie für Sozialpädagogik ist im Rahmen der Regelausbildung oder der praxisintegrierten Ausbildung möglich.



Nachrichten