Niederländische Delegation lernt vom Kinderzentrum St. Vincent
Oft holt sich Deutschland zur Lösung seiner Probleme Anreize bei ausländischen Modellen. Im Bereich der Jugendhilfe kann unser Land für den Nachbarn Niederlande nun möglicherweise zu einem gewissen Grade Pate stehen. Denn im Nachbarland steckt das Jugendhilfesystem in einer Umbruchphase. Was bislang unterschiedliche Ministerien regelten, soll zentral zusammengefasst werden. Mitarbeiterinnen des Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt unternahmen aus diesem Grund eine Studienreise nach Bayern und besichtigten dabei die Clearingstelle am Kinderzentrum St. Vincent. In dieser Einrichtung der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) erhalten derzeit sieben Kinder eine geschlossene therapeutische Betreuung mit dem Ziel, sie nach einem halben Jahr in eine offene Jugendhilfemaßnahme zurückführen zu können.
Es ist der Tag des deutschen Viertelfinales gegen Argentinien. Während die Nation ungeduldig dem Anpfiff am Nachmittag entgegenfiebert, erwartet man im Regensburger Kinderzentrum St. Vincent eine niederländische Delegation, die die Örtlichkeit besichtigen möchte. „Wir haben uns darauf verständigt, keine „Ohne Holland fahren wir nach Berlin“-Gesänge anzustimmen“, scherzt Einrichtungsleiter Wolfgang Berg im Vorfeld. Und tatsächlich ist Fußball auch Nebensache, als Marga Drewes, Sanne van Muyden, Carline Carati und Carolien Konyn eintreffen. Für die vier Mitarbeiterinnen des niederländischen Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt in den Abteilungen Prävention/Erziehungshilfe sowie Jugendhilfe steht die Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche im Vordergrund, für die sich die Lage in Holland verbessern soll. Für die verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe waren bislang verschiedene Ministerien und Instanzen zuständig, ein neues Gesetz soll nun eine neue zentrale Stelle schaffen und damit Übersicht von Seiten der Behörden sowie leichteren Zugang zu Angeboten für die Hilfesuchenden.
„Holland will mehr Jugendhilfe und weniger Bestrafung“
Zu Studienzwecken sind die vier Frauen nach Bayern gereist – sehen, wie man es machen könnte. Ihr Interesse gilt dabei vor allem den freiheitsentziehenden Maßnahmen. „In Holland gibt es meiner Meinung nach zuviel geschlossene Hilfe für Jugendliche. Diese Fälle unterliegen alle dem Justizministerium“, sagt Marga Drewes. Man wünsche sich etwas mehr Jugendhilfe und weniger Bestrafung und gefängnisartiges Dasein. Sie möchte vor allem wissen, was in Deutschland in geschlossenen Bereichen vom pädagogischen Aspekt her geschieht.
Anschauungsobjekt ist dabei eine Einrichtung der KJF, die so genannte „Clearingstelle“ am Kinderzentrum St. Vincent, in der derzeit sieben Jungen und Mädchen bis maximal 15 Jahre geschlossen therapeutisch betreut werden. Die Kinder weisen alle eine „Negativkarriere“ im Lebenslauf auf, wie es im Fachjargon heißt: Kriminalität, Aggressivität, Drogen, Prostitution – die Liste ist lang. „Vorher gab es nur heilpädagogische und therapeutische Ansätze. Aber für minderjährige intensiv-straffällige Täter, wie diese Kinder in den Nachwehen des Falls „Mehmet“ genannt wurden, reichte dieses Angebot nicht aus. So sind die Clearingstellen entstanden“, erklärt Direktor Helmut Heiserer den vier Niederländerinnen.
Durch Eingreifen soll das Kind zur Ruhe kommen
Seine gesamte Praxiserfahrung stellt Xaver Waitzhofer zur Verfügung. Ihm obliegt die Leitung der Clearingstelle in Regensburg. Er sieht sich an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe, Psychiatrie und Justiz. „Klar wäre es schöner, wenn man alle Jugendlichen offen betreuen könnte“, sagt er, „aber in manchen Fällen geht es leider nicht anders.“ Jeden Abend müssen er und seine Mitarbeiter ihre Schützlinge in ihren Zimmern einschließen. Was im ersten Moment drastisch klingt, ist aber nichts anderes als eine erste Krisenintervention, ein Schützen des Kindes vor seinem bisherigen Umfeld. Das Kind soll zur Ruhe kommen. Auch aus diesem Grund sind die Räumlichkeiten der Clearingstelle nicht steril, aber bewusst klar und reizarm gehalten, wie auch der niederländische Besuch bei einem Rundgang feststellt.
Sechs Monate verweilen die Kinder im Schnitt in der Clearingstelle. Anschließend ist meist eine Überführung in eine offene Jugendhilfemaßnahme möglich. Es wurde eigens eine Nachfolgegruppe in St. Vincent geschaffen, um den Kindern gerade bei der schwierigen Übergangsphase weiter zur Seite stehen zu können.
Die Kinder wollen jemanden zum Reden haben
Waitzhofer verschweigt den Holländerinnen nicht, dass es sich bei der Clearingstelle um eine recht kostspielige Maßnahme handelt, schließlich betreuen dreizehn Mitarbeiter sieben Jugendliche. „Andererseits zeigt das auch, dass es hier nicht um Verwahrung und eine Art Strafvollzug für Minderjährige geht, sondern dass hier pädagogisch wirklich was passiert“, ergänzt er die reinen Zahlen. Die Aussagen der Kinder geben ihm Recht. Mehrfach haben sie berichtet, dass es für sie das Wichtigste sei, einen Ansprechpartner zu haben, zu wissen, dass da immer jemand mit einem offenen Ohr ist.
Die Besucherinnen notieren alles, fragen wissbegierig nach. Gerade erst ist ihre Regierung in den Niederlanden abgetreten. Bis man eine neue gebildet habe und wieder Projekte vorwärts bringen könne, dauere unter Umständen bis zum Herbst, aber dann wolle man mit neu gesammeltem Wissen loslegen und die Umstrukturierung vorantreiben – dann wohl mit deutschen Einflüssen.