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Wissenschaftliche Marginalistik: Kleidsames aus der Theologie

Neue Sittsamkeit

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München / Rom / Regensburg, 4. Mai 2023

Nicht nur hat Papst Franziskus dazu aufgefordert, an die Ränder („nelle periferie del mondo“) zu gehen. Prof. Dr. Walter Hömberg hat sich seit Jahren mit einer wissenschaftlichen Disziplin namens Marginalistik – etwa: Lehre vom Randständigen, Abseitigen – befasst und dazu vier Jahrbücher und nun bereits Band II eines Almanachs herausgegeben. Darin heißt es: „Die Marginalistik ist ein inter- und transdisziplinäres Forschungsfeld, das immer mehr Aufmerksamkeit findet. Sie betrachtet die Welt von den Rändern her.“ Nicht nur Titel mit religiösem Bezug lassen sich hier finden („Im Anfang war das Vorwort“, oder: „Das Ende ist nahe. Der Abgabetermin“), sondern auch ein wissenschaftlicher Beitrag zur „theologischen Fingerübung“ des Konvertiten und Theologen Erik Peterson, die den schlichten Titel „Theologie des Kleides“ trägt. Prof. Dr. Veit Neumann, Redakteur der Presse- und Medienabteilung der Diözese Regensburg, beschreibt darin, welche Bedeutung dem „Kleid“ und dem Wissen um seine Bedeutung in Zeiten wiederholt angezeigter Übergriffigkeiten (auch) innerhalb der Kirche zuzukommen vermag:

Theologen beschäftigten und beschäftigen sich mit vielerlei: mit der Vermessung der Hölle und ihren Unterteufeln (Eschatologie), mit dem Himmel und Zahl und Beschaffenheit der Engel dort (Angelologie), mit dem Klimawandel (Christliche Gesellschaftslehre), mit Redakteuren in Schreibstuben von Qualitätszeitungen (Praktische Theologie) und mit der Kleidung, die Adam und Eva zunächst getragen oder eben nicht getragen haben (Historische Theologie, Systematische Theologie). Was Menschen, auch die ersten, angezogen haben bzw. bis heute anziehen, warum sie dies tun und was dahinter steckt, das hat Erik Peterson (1890-1960) erforscht, ein evangelischer Theologe, der zur katholischen Kirche konvertierte, in der sein Werk derzeit noch keine öffentliche Debatte bestimmt. Es wird jedoch als Geheimtipp weitergereicht, nicht zuletzt wegen einer theologischen Fingerübung, seines Aufsatzes mit dem vielsagenden Titel „Theologie des Kleides“, der ein Klassiker am Rande ist (Peterson, Erik, Benediktinische Monatsschrift 16 (1934), 347-356.).

Der Jesuit Andreas Batlogg hat Erik Peterson als „Grenzgänger“ bezeichnet (Batlogg, Andreas R., Erik Peterson (1890-1960), www.herder.de/stz/online/erik-peterson-1890-1960-ein-outsider). Vor Jahren nannte eine Tagung in Rom Peterson einen „Außenseiter“. Das sind Hinweise, dass mit Überraschungen zu rechnen ist. Seine protestantisch grundgelegte Gelehrsamkeit hat der Hamburger Peterson in die katholische Kirche mitgenommen. Tatsächlich verdichtet, ja kristallisiert sich sein umfassendes Wissen in der Theologie des Kleides. Peterson trat 1930 über. Die Theologie des Kleides aus der Zeit kurz darauf läuft über von Gelehrsamkeit, als wollte er mit seiner Bildung die Berechtigung zum Übertritt untermauern und freundlich werben um mehr Akzeptanz.

Habit macht Mönch, Kleider machen Leute

Ungeklärt ist in der Theologie das Verhältnis von geistlicher und materieller Wirklichkeit. Es ist je neu zu klären, sagen Theologinnen und Theologen dazu. Dieses Verhältnis offenbart verzwickte gegenläufige Entwicklungen. Je mehr sich die empirische Wirklichkeit in theologischen Milieus beforschender Wertschätzung erfreut, desto mehr scheinen sich theologische Welten aber tatsächlich von ihr zu entfernen. Prall mit Leben gefüllt erscheint Theologie derzeit nicht immer. Erik Peterson, der Grenzüberschreitende, hat entgegen diesem Befund jedoch eine begehbare Brücke geschaffen, indem er, in umfassender Kenntnis der kirchlich-theologischen Tradition (auch der frühen), gerade beim praktischen Thema Kleidung auf metaphysische Zusammenhänge verweist. Das hört sich dann an wie folgt: „Der locus communis ,Kleider machen Leute‘ birgt einen tiefen theologischen Sinn. Nicht nur ,Leute‘, sondern auch den Menschen macht das Kleid, und das darum, weil der Mensch nicht durch sich selber interpretierbar ist, weil das natürliche Sein des Menschen ,seiner eigenen Bestimmung nach auf die Hinzufügung der Gnade und die Vollendung durch sie hingeordnet ist‘. Darum ist Adam also mit übernatürlicher Gerechtigkeit, Unschuld und Unvergänglichkeit ,bekleidet‘, weil erst das Kleid seine ,Würde‘ erkennen lässt, und sichtbar macht, wozu der Mensch durch das Geschenk der Gnade und Glorie von Gott bestimmt ist“ (Peterson, 350). Theologen heute würden von einer Differenzerfahrung sprechen.

Abzüglich des metaphysischen Duktus in der Sprache sagt Peterson: Gekleidetsein ist wichtig vor allem, weil 1) es zeigt, was der Mensch ist; 2) die Abwesenheit der Kleidung (Unbekleidetsein) eine Voraussetzung der Nacktheit ist; und 3) Nacktheit einen Zustand des Menschen betrifft, der ganz ursprünglich war und gut. Auf Italienisch sagt man „L’abito fa il monaco“ (Der Habit macht den Mönch / Kleider machen Leute), was ein direkter Hinweis auf theologische Materie ist.

Zurück zum Anfang: Kleidung ist in den Heiligen Schriften Querschnittsmaterie. Kaum ein Buch des Kanon, in dem sie nicht erscheint, oft sogar in gewobener Verbindung. Ein solches Verwobensein findet sich, wenn die Windeln Jesu in der Krippe (Lukas-Evangelium 2,7.12) mit den Tüchern korrespondieren und kommunizieren, in die der Leichnam Jesu nach der Kreuzigung gehüllt wird (Lukas-Evangelium 23,53).

Peterson geht von einer Ursprünglichkeit der Kleidung aus, sodass wir passend bei der Erzählung vom Sündenfall im ersten Buch der Bibel, dem Buch Genesis starten. Kuriosität oder Versteckspiel? Zu Beginn der Heiligen Schrift ist es den Autoren schon um Kleidung zu tun, wobei diese noch gar nicht vorhanden ist. In Genesis 3,7 lesen wir: „Und sie erkannten, dass sie nackt waren.“ Wie das? Im Buch Genesis geht es nicht um mehr oder weniger Stoff, sondern um die Art und Weise, wie wir demütig erkennen, dass wir 1) eigentlich nicht viel von der Welt erkennen, 2) wir trotzdem einstens unsere Würde hatten und haben, und 3) manche Bekleidung einen Reflex darauf gibt. Das spiegelt die Redewendung vom Adams- bzw. Evakostüm, das undifferenziert humorvoll Nacktheit und Unbekleidetsein bezeichnet. Tief- oder Höhepunkte sind zu Verkauf stehende Karnevalskostüme, die Adams und Evas Merkmale der Nacktheit auf Stoff gedruckt bieten. Hinweis auf die Dauerbeschäftigung mit unserer zweiten Haut, als die die Kleidung auch bezeichnet wird.

„Die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu dem Kleide wird außerhalb der Kirche gewöhnlich als eine indifferente Angelegenheit behandelt“, schreibt Peterson (Peterson, 347). Der Autor bezieht das auf die Antike, denn Heiden sei es damals vorrangig um Gewänder der Schauspieler gegangen, und um ihre Larven und Masken; für Kleidung indes interessierten sie sich nicht.

En passant ermöglicht es Peterson, unsere Zeit wieder ein Stückchen besser zu verstehen, denn das Spiel mit stofflicher Enthüllung und Verhüllung an der Grenze von schicklich und sittlich und deren Abschaffung ist ein subkutaner Klassiker journalistischer Berichterstattung im kapitalismusgetriebenen Nachrichtengeschäft: Wer hat wann wieder blank gezogen, und wofür? Und dabei ist die politische Bedeutung von Kleidung in der Form teils religiös motivierter Verschleierung im Islam noch nicht einmal angesprochen. Phänomene des politisch-gesellschaftlichen Umgangs mit menschlicher Scham beschreibt Peterson wie folgt: „Das moralische Gebot des Schamgefühls gründet also in einem metaphysischen Tatbestand“ (Peterson, 349). Friedrich Nietzsche sagt psychologisierend, dass Scham im Angesicht des Geschlechts in der Tatsache gründet, dass wir nicht Herren sind und Damen über die letzten Zusammenhänge der menschlichen Fortpflanzung.

Urbane Theologie

Wie sich angehende Theologen angemessen (gekleidet) in der Öffentlichkeit bewegen, war früher Materie des Pastoralkurses, der auf den Einsatz in der Seelsorge vorbereitete. Diese Elemente der Urbanitas als Lehre vom Verhalten an Orten, an denen Menschen auf engem Raum miteinander zu leben haben (also in der Stadt), haben nicht die Weihen einer Disziplin der Praktischen Theologie erhalten. In Zeiten tendenzieller Auflösung öffentlicher Formen in den 1970er-Jahren dann hat mancher Vorsteher eines Priesterseminars das Thema Kleidung allgemeiner in die Seminarausbildung eingebettet. Gute Spirituale verwiesen auf die Mehrdimensionalität der Haut, die den Menschen umgibt: als Epidermis, als Kleidung und als schützende Mauer unserer Wohnstätten. Heute kehren solche Urbanismen wieder, denn der Gegenstand der Kleidung ist dem Gesamtthema der Achtsamkeit zuzuordnen. Manche Dos and Donts, was Kleidung und Sittsamkeit, ja Dezenz betrifft, wären dabei wünschenswert, dämmert es den Ausbildungsverantwortlichen.

In vergangenen Zeiten war Kleidung stärker formalisiert als heute. Auch Theologen – früher hauptsächlich Ordensleute – trugen eigene theologische Kleidung, welche häufig die Ordenstracht war. Es gab einen eigenen Jesuiten-Hut. Die Diskussion der Priesterkleidung, in der man fragte, ob und wie katholische Priester auf der Straße zu erkennen sein sollen, hat an Schärfe verloren. In Zeiten eines „optic turn“ analog zum „iconic turn“ dürfte sie aber wieder an Fahrt aufnehmen.

Der Theologe als Bohemien

Pastoraltheologisch ist zu fragen: Was ist zu tun? Die Neubestimmung des Verhältnisses von geistlicher und materieller Wirklichkeit steht an. Das Problem von Formauflösung und -verhärtung verweist auf die Tugend der Mäßigkeit. Ein Maß zwischen den Extremen hatte Grenzgänger Erik Peterson zunächst auch nicht gefunden. Andreas R. Batlogg fragt vielmehr, ob sich das Epitheton „Outsider“, mit dem die römische Tagung Peterson belegte, in dem Sinne verstehen lasse, dass er „in den 1920er-Jahren in die Rolle des Dandys und Bohemiens schlüpfte, mit allen bizarren, ja snobistischen Begleiterscheinungen, die vielen, die ihn kannten, lange im Gedächtnis haften blieben?“. Petersons Maßlosigkeit bei der eigenen Bekleidung erscheint als Vorspiel zu seiner Konversion 1930. Seine theologische Fingerübung „Theologie des Kleides“ von 1934 wäre dann als Nachspiel zu deuten. Peterson lässt aber auch an Eugen Drewermanns starke Worte denken, der Theologen der „geckenhaften Wichtigtuerei“ zieh (Drewermann, Eugen, Kleriker. Psychogramm eines Ideals, München 1991, 171). Einer blutleeren Theologie redet Peterson nicht das Wort, zu sehr ist er in den Heiligen Schriften bewandert. Angesichts der Vielfalt an Themen, mit denen sich Theologen beschäftigen, aber gilt: Welche Folgerungen aus Nacktheit, Unbekleidetheit und Kleidung für die Theologie in stürmischen Zeiten der Kirche und für einen aufdeckenden Journalismus in Zeiten des Kapitalismus zu ziehen sind, müsste sich in Auseinandersetzung mit dem hochgebildeten Theologen des Kleides erst noch enthüllen.

Text: Prof. Dr. Veit Neumann

Bilder: Prof. Dr. Veit Neumann

 

Mehr dazu finden Sie in: Hömberg, Walter (Hg.), Marginalistik. Almanach für Freunde fröhlicher Wissenschaft, Bd. II, Allitera Verlag, München 2023. Der hier wiedergegebene Beitrag von Prof. Dr. Veit Neumann findet sich auf S. 111-117.

Prof. Dr. Walter Hömberg lehrte von 1988 bis 2009 Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.



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