Interview mit Generalvikar Monsignore Dr. Roland Batz
„Die Kirche verschwindet nicht“
Regensburg, 21. Juli 2023
Mit dem Generalvikar des Bistums Regensburg, Monsignore Dr. Batz, hat die Pressestelle über die großen Herausforderungen der Kirche gesprochen. Wie Dr. Batz im Gespräch betonte, wird die Kirche nicht verschwinden, sondern ihr soziales Gesicht verändern.
Die Zahl der Kirchenaustritte ist derzeit im Gegensatz zum vergangenen Jahr nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens ein wenig zurückgegangen, dennoch treten zu viele Menschen aus. Was bedeutet das für das Bistum Regensburg?
Die Austritte betreffen ja nicht allein das Bistum Regensburg. Von diesem Phänomen sind alle Bistümer in Deutschland durchdrungen – dabei liegen die Austrittsquoten in allen Diözesen nahezu auf demselben prozentuellen Niveau. Daraus wird ersichtlich, dass die Großkirchen schrumpfen und nach und nach ihre bisher unangefochtene religiöse Deutungshoheit verlieren. Aber ich bin überzeugt: Die Kirche verschwindet nicht, vielmehr verändert sie ihr soziales Gesicht.
Diese Entwicklung geht einher mit einem veränderten Lebensgefühl und einer veränderten Lebenseinstellung der Menschen; denken wir doch nur an die unbegrenzte Mobilität und die heutigen Kommunikationsmöglichkeiten. Zudem möchten Menschen ihr Leben selbst bestimmen, sie sind entscheidend geprägt von naturwissenschaftlichem Denken und erleben eine Welt, in der es schwer ist, Gott zu entdecken. Viele gehorchen heute einer Zweck-Mittel-Rationalität. Das alles macht es – neben einzelnen Skandalen – nicht leichter, Menschen in der Kirche zu halten.
Dennoch müssen wir nicht wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren, und sagen: Wir sterben aus, sondern offensiv den Sinn und die Wahrheit der christlichen Botschaft den Menschen vorleben. Beten wir mit dem Psalmisten: „Mein Gott, auf dich vertraue ich – zeige mir, Herr, deine Wege, lehre mich deine Pfade!“ (Ps 25, 2.4)
Die pastorale Planung 2034 ist derzeit eines der Hauptthemen, das Pfarreien und Mitarbeiter des Bistums Regensburg beschäftigt. Wie sieht diese Planung konkret aus?
Zweifellos setzen wir mit der pastoralen Planung eine Zäsur. Die Pfarrgemeinschaften werden größer, die Herausforderungen im Bereich der Verwaltung und der gesetzlichen Vorgaben komplexer. Doch wir vergrößern nicht nur die Pfarrgemeinschaften, sondern entlasten auch die ehren- und hauptamtlichen Pfarrei-Verantwortlichen durch Verwaltungskoordination und -leitungen. Im Zuge größer werdender Einheiten ergeben sich aber auch neue pastorale Möglichkeiten, etwa mehr Charismen zu entdecken und seelsorglich innovativer zu werden. Die immer wieder kritisierte „überhöhte Kleruskirche“ verliert damit ihre Bedeutung. Nicht nur dass damit hauptamtliche Pfarrteams (Pfarrer, Diakon, pastorale Mitarbeiter/innen) intensiver zusammenfinden müssen, ist es auch notwendig, das ehrenamtliche Engagement stärker einzubinden und voranzubringen.
Eine große Herausforderung in diesem Zusammenhang wird sicherlich der Umgang mit dem Gebäudebestand (vor allem der Pfarrhäuser und Pfarr- und Jugendheime) und die Frage nach deren Nutzung jenseits pastoraler Kontexte sein.
Für die Entlastung kirchlicher Mitarbeiter wurde im Bistum ein Schutzkonzept mit dem Namen „Arbeiten mit System“ entwickelt. Was steckt dahinter und wie können Pfarrer davon profitieren?
Der sog. Arbeitsschutz mit System – AMS – sorgt für einen guten Arbeits- und Gesundheitsschutz der Mitarbeiter und soll zu deren Zufriedenheit beitragen. Dabei zeigt die Praxis, dass systematischer Arbeits- und Gesundheitsschutz auf Dauer keinen zusätzlichen Aufwand bedeutet, sondern ein alltäglicher Bestandteil von Entscheidungen in den Pfarreien sein wird. Wichtig ist dabei vor allem, dass neben den pastoralen Anforderungen auch die geforderten Rechtspflichten sowie die Sicherheit und der Gesundheitsschutz praxisgerecht berücksichtigt wird. Letztlich ist dieses Thema ein selbstverständlicher Teil unserer christlichen Verantwortung. Was wäre das für eine Kirche, die ihren Mitarbeitern keine gute Arbeit und Gesundheit bieten wollte.
Das Bischöfliche Ordinariat befindet sich derzeit in der Umstrukturierung, es soll servicefreundlicher werden. Wie funktioniert das konkret?
Zunächst einmal geht es darum, in einer komplexer werdenden Welt die bischöfliche Verwaltung den aktuellen Anforderungen anzupassen. Die Verwaltung muss differenzierter werden. Dazu gehört eine klare Zuordnung von zusammengehörenden Abteilungen und eine genaue Kompetenzordnung. Darüber hinaus zeigt sich in einer schnelllebigen Welt die Notwendigkeit, Entscheidungen nicht nur professionell, sondern auch zügig auf den Weg zu bringen.
Das Thema Neuevangelisierung ist eines der zentralsten Themen für die Zukunft der Kirche. Wie kann man Menschen dazu gewinnen, wieder in die Kirche zurückzukehren bzw. neue Mitglieder für den Glauben begeistern?
Die Kirche ist dazu da, den Menschen die Botschaft Christi zu verkünden, damit meine ich konkret, die Rede Jesu über Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden und Versöhnungsbereitschaft in die Gesellschaft hinein zu übersetzen und zu vermitteln. Oder anders gesagt: Die Kirche muss den Himmel offenhalten und die Menschen zum aufrechten Gang ermutigen. Das geschieht aber nur durch das persönliche Zeugnis, durch konkrete Hilfe und Zuwendung sowie durch das Sammeln der Menschen zur Feier.
Wir leben in einer hoch entwickelten, industriell orientierten Gesellschaft - da ist das Lebensziel von Vielen mehr auf Konsum, auf Materielles ausgerichtet. Die Ethik ist meist der Technik nachgeordnet. Aber die Vernunft darf nicht hinter dem analytischen Verstand und die Liebe darf nicht hinter Zweckmäßigkeit und Technologie zurückbleiben.
Kirche denkt über Quartalsberichte hinaus und bemüht sich, das Ganze des menschlichen Lebens in den Blick zu nehmen. Allein mit Zahlen-Daten-Fakten werden wir dem Leben nicht gerecht. Leben verdankt und bedarf der Verantwortlichkeit. Der Dienst der Kirche steht daher im Horizont einer Vitalogie, in der die Balance zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Freiheit und biblischer Botschaft gefunden werden muss.
In diesem Kontext sehe ich auch die Evangelisierung verortet, also im Horizont von individueller seelsorglich-sakramentaler Begleitung, im helfenden Dienst und in Bildungsangeboten.
Im Juli haben zwei Entwürfe zum assistierten Suizid im Bundestag keine Mehrheit gefunden. Dennoch bleibt das Thema aktuell. Wie können wir aus christlicher Sicht den Menschen die Angst vor dem Sterben nehmen?
Wir beobachten heute, dass am Beginn und am Ende des menschlichen Lebens elementar gerüttelt wird. Dabei wird vor allem die Autonomie hervorgehoben, d. h. Selbstbestimmung ist das Schlüsselwort in diesen Debatten. Das ist aber nur die eine Seite, die andere ist die Frage nach einer Kultur des Lebens bzw. einer Kultur der Liebe. Kritisch gefragt: Wie hoch ist in unserer Gesellschaft noch der Grundwasserspiegel des Mit- und Füreinander?
Zweifellos kommen Menschen in seelische Notlagen, die für sie ausweglos erscheinen: Siechtum, Einsamkeit, untröstliche Trauer können den Lebenswunsch ersticken.
Die Lösung, das Leiden zu beenden, indem der Leidende beseitigt wird, halte ich aber für nicht akzeptabel und schon gar nicht für das Ziel einer humanen Gesellschaft.
Sofern der assistierte Suizid zum gesellschaftlich akzeptierten Vorgang wird, verändern sich die Haltung zum Leben und das Vertrauen zur ärztlichen Begleitung. Wie will man dem Arzt, der das Töten in sein Handwerk aufnimmt, mit Vertrauen begegnen? Und wie will man die heute zwar noch hoch beschworenen Grenzen der Selbsttötung angesichts eines „Rechtes auf selbstbestimmtes Sterben“ aufrechterhalten, wenn der Druck auf Alte und Kranke zunimmt, weil sie eine Last seien?
Es geht doch vielmehr darum, dass der Mensch nicht durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand eines Mitmenschen sterben kann. Für Christen gilt zudem die Verheißung der Auferstehungshoffnung und sie steht gegen eine Kultur des Todes und für eine Praxis der Barmherzigkeit. In der Altenhilfe und in unseren Krankenhäusern bemühen wir uns durch eine christliche Sterbebegleitung ganz konkret Begleitung und Hilfestellung anzubieten.
Sie plädieren immer wieder dafür, dass der Staat sexualisierte Gewalt aufarbeiten sollte. Weshalb ist das Ihrer Meinung wichtig?
Sexueller Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen ist nicht nur ein inakzeptables und verabscheuungswürdiges Verbrechen in der Kirche. Diese Tat aufzuklären und kompromisslos zu verfolgen, ist m. E. unabhängig und rechtssicher zu organisieren und damit doch eigentlich Aufgabe des Staates. Es wird ja auch immer wieder der Ruf laut, die Kirche kann es nicht! Wo aber bleibt der Staat?
Es steht außer Frage, dass der sexuelle Missbrauch an Kindern durch Kleriker und kirchliche Mitarbeiter den Kern der kirchlichen Identität angreift und die Kirche in ihr Gegenteil verkehrt. Die katholische Kirche ist Sakrament und damit Heilszeichen, sie steht somit im Dienst der Botschaft Christi und hat von daher eine klare Option für die Schwachen und Kleinen. Diese Grundposition muss sich schließlich auch auf die Strukturen auswirken. Dass in den letzten Jahren sehr viel strukturell verbessert worden ist, kann niemand mehr ernsthaft in Frage stellen.
Freilich ist es allein mit der staatlichen Gerichtsbarkeit nicht getan, weil es in manchen Fällen sexuellen Missbrauchs gar nicht um staatlich justiziable Vorgänge geht. Etwa wenn ein Priester seine Rolle als geistlicher Begleiter ausnützt, um erwachsene Personen sexuell oder spirituell gefügig zu machen. Dann reichen die Maßstäbe weltlicher Gerichtsbarkeit nicht aus. Wir legen daher in den uns angezeigten Fällen größten Wert darauf, dass alle entsprechenden Taten auch kirchenintern aufgeklärt werden und disziplinarrechtliche Konsequenzen haben.
Welche Schutzkonzepte wurden in der Diözese entwickelt, die einen möglichen Missbrauch in Zukunft „erschweren“?
Die Diözesen haben seit 2002 ihre Leitlinien und Schutzkonzepte kontinuierlich weiterentwickelt. Ein entscheidender Aspekt ist dabei, wie bereits erwähnt, dass wir jede Beschuldigung, von der wir erfahren, bei der Staatanwalt zur Anzeige bringen. Dann haben wir eine flächendeckende Präventionsschulung auf den Weg gebracht, jede Pfarrei, jede Einrichtung, auch das bischöfliche Ordinariat hat ein Schutzkonzept zu entwickeln, bekannt zu machen und umzusetzen.
Mit dem unabhängigen Anerkennungsverfahren wollen wir den Betroffenen zeigen, dass wir zu unserer Verantwortung stehen, und die Offenheit für das Leid bekunden. Weil Betroffene manchmal mit der finanziellen Höhe der Anerkennungszahlung unzufrieden sind, haben wir eine Widerspruchsmöglichkeit in das Verfahren eingefügt.
Sehr wichtige Aspekte in der Aufarbeitung sind schließlich die unabhängigen Gremien: die Aufarbeitungskommission und der Betroffenenbeirat. Sie arbeiten völlig unabhängig, was die inhaltliche Bestimmung der Themen und was die Konzepte zur Verbesserung angeht.
Über das Thema Staatsleistungen wird derzeit heftig diskutiert. Die Ampel-Regierung will die sogenannten Staatsleistungen jetzt beenden. Was bedeutet das für die Diözese Regensburg?
Wenn wir über Staatsleistungen sprechen, dann müssen wir zunächst klären, was wir damit meinen. Es gilt nämlich die Staatsleistungen, die Staatsschulden tilgen, von den Subventionen zu unterscheiden, die zur Erfüllung von Staatsaufgaben dienen. Die Staatsleistungen beziehen sich somit auf die Vergangenheit, die Subventionen auf die zu erfüllenden Aufgaben, die eigentlich der Staat selbst erfüllen müsste (bspw. Kindergärten, Altenhilfe, Schulen).
Die Kirchensteuer hingegen ist keine Staatsleistung, sondern eine vom Staat verliehene Hoheitsmacht an die Kirchen, von ihren Mitgliedern Abgaben zu erheben.
An dieser Stelle möchte ich allen Katholikinnen und Katholiken von Herzen danken, dass sie die Kirche mit ihrem finanziellen Beitrag stützen und mittragen.
Die Staatsleistungen beruhen also auf einem Entschädigungszweck, der ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Hintergrund war und ist, dass die Kirche durch die Enteignung ihrer Finanzgrundlagen eine neue Existenzgrundlage für ihre geistlichen Aufgaben erhielt.
Eine zunehmende Geschichtsvergessenheit oder gar eine Geschichtsblindheit bringt immer weniger Verständnis dafür auf, dass sich der Staat durch kirchlichen Besitz bereichert hat. Daher ist es wichtig, deutlich zu machen: die Kirche ist hier keine Bittstellerin vor der Tür des Staates.
Die Staatsleistungen dienen der Erfüllung von kirchlichen Aufgaben, konkret für Personalkosten und Baulasten. Weil der Staat das Erbe der kirchlichen Vermögensmassen übernommen hat, hat er auch diese Verpflichtung übernommen. Dennoch steht die Kirche der Ablösung offen und konstruktiv gegenüber.
Welchen Mehrwert hat die katholische Kirche gegenüber dem Staat, was ist ihr Surplus?
Wenngleich die Kirche gesellschaftlich an Relevanz verliert, genießt sie doch noch immer eine große öffentliche Wahrnehmung. In den Medien werden Fragen diskutiert, die von großer ethischer und existentieller Bedeutung sind. Die Suche nach Orientierung ist groß. Daher kommt die Kirche immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, zu fragen: Was ist der Mensch? Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Was ist gerecht?
Die Themen unserer Zeit sind soziale Gerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, kirchlich gesprochen: Synodalität. Darüber hinaus bewegen Themen wie Biotechnologie, Stammzellenforschung, PID, Künstliche Intelligenz. Auch der ökologische Umbau steht ganz oben auf der Agenda. Dazu hat sich ja Papst Franziskus dezidiert in der vielbeachteten Enzyklika „Laudato si“ positioniert.
Nicht zuletzt richtet die Kirche den Blick zugunsten der Menschen auf das Zusammenleben und macht deutlich, dass nicht alles Markt ist. Die Kirche hat ein Kontrastprogramm, das darauf hinweist, dass Menschsein und menschliche Würde nicht am Markt entschieden werden, sondern verweist auf die Krippe und das Kreuz als Symbole der Wertschätzung des Menschseins, insbesondere der Kleinen und der Schwachen.
Angesichts dieser großen Aufgaben ist es natürlich wichtig, dass die Kirche nicht ewig um sich selber kreist. Bei allen berechtigten Reformanliegen und -versuchen müssen wir uns doch ehrlich hinterfragen, ob wir uns in den vergangenen Jahren zu sehr von Säkularisierungs- und Funktionalisierungsschüben haben beeinflussen lassen, so dass die eingeschlagene Strategie nicht zielführend ist. Zudem scheint mir manche moralische Entrüstung nicht nur von Frustration bestimmt, sondern auch von versteckten Interessen geleitet zu sein. Entscheidend ist und bleibt, überzeugt und überzeugend die christlichen Werte wie die Bejahung des Lebens, Wahrheitsanspruch, Bekehrungswille und Versöhnungsbereitschaft der Gesellschaft als Angebot zu unterbreiten.
Das Interview führte Dr. Stefan Groß