Gottesdienst mit Joachim Kardinal Meisner in der Dominikanerkirche St. Blasius
Am letzten Tag der Frühjahrsvollversammlung feierten die Kardinäle und Bischöfe der Deutschen Bischofskonferenz zusammen mit zahlreichen Gläubigen in der vollbesetzten Regensburger Dominikanerkirche St. Blasius am Morgen die Heilige Messe. Hauptzelebrant und Prediger war Joachim Kardinal Meisner. Der Kammerchor der St. Marienschulen gestalteten die Gottesdienstfeier musikalisch.
Predigt von Joachim Kardinal Meisner:
Liebe Brüder, liebe Schwestern!
Der irische Literaturwissenschaftler Clive Staple Lewis hat sich nicht nur als Romanautor einen Namen gemacht, sondern auch als Verfasser christlicher Schriften. Und doch hatte sich Lewis erst im Alter von 33 Jahren zum Christentum bekehrt. Warum er den Atheismus aufgab, beschreibt er folgendermaßen: „Gerade als ich dabei war, zu beweisen, dass es Gott nicht gibt – mit anderen Worten, dass die Welt von Grund auf sinnlos ist –, sah ich mich gezwungen, einen Teil der Wirklichkeit – nämlich meine Vorstellung von Gerechtigkeit – als sehr sinnvoll gelten zu lassen. … Wenn die ganze Welt tatsächlich ohne Sinn wäre, dann hätten wir selbst gar keine Möglichkeit, dies zu begreifen.“ (Pardon, ich bin Christ, Basel 1988, Seite 46). „Ungerecht“ und „böse“ können wir etwas nur darum nennen, weil wir in unserem Herzen, zumindest unbewusst, eine Vorstellung davon haben, was „gerecht“ und was „gut“ ist. Das setzt auch Christus voraus, wenn er in der Bergpredigt wörtlich sagt: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12). Das Evangelium schreibt den Menschen zu, von sich aus – gleichsam durch Intuition – den Kern des Gesetzes und der Propheten zu wissen. Wir befinden uns hier am Ursprung, an der Quelle der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die letztlich erst den Menschen zum Menschen macht. Aus Gottes Händen hervorgegangen, von seinem Lebensodem bewegt, weiß der Mensch im Innersten um das Gute, das Gott der Welt schenkt und zugleich von ihr erwartet. Und diese Erfahrung wird dann zur Quelle für mein eigenes positives Verhalten zu den anderen Menschen.
„Wie erkennt man, was recht ist?“, so fragte Papst Benedikt XVI. in seiner Ansprache vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011. Und er bestätigt diese nicht wegzudiskutierende Gewissheit: Grundsätzlich vermag jeder Mensch von Natur aus – also ohne göttliche Offenbarung und ohne von außen kommende Belehrung – zu erspüren, was Gut oder Recht ist. Darin wurzelt die Überzeugung, dass es – wie es genannt wird – ein Naturrecht gibt, das der Schöpfer selbst der Schöpfung und insbesondere den Menschen eingestiftet und eingeprägt hat. Dieses liegt aller Kodifizierung oder Festlegung durch menschliche Autoritäten voraus. Es ist also ein Recht, das nicht deswegen verbindlich wird, weil Menschen es in irgendein Gesetzbuch eingeschrieben haben, sondern dieses Recht begründet überhaupt erst das geschriebene Gesetz. Der Apostel Paulus formuliert in seinem Brief an die Römer eindringlich: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm 2,14-15). Gott hat die Menschen als sein Ebenbild so ausgestattet, dass unter ihnen ein gesegnetes Zusammenleben möglich ist. Auf dieser den Menschen eingeschaffenen Fähigkeit beruhen seine Grundrechte, die unabhängig von wechselnden Mehrheitsmeinungen und kulturellen Traditionen sind. Sie sind gleichsam wie in Stein gemeißelt und ins Herz und ins Gewissen eines jeden Menschen eingesenkt. Das Gute ist jedem Menschen im Gewissen grundsätzlich zugänglich. Das Gewissen ist das Wissen um das Naturrecht.
Die Universalität des dem Menschen eingestifteten Wissens um Gut und Böse macht es verständlich, dass sich Jesu Goldene Regel in praktisch allen Religionen dieser Welt wiederfindet. Um es mit dem hl. Augustinus zu sagen: „Und gewiss, es steckt uns doch kein Wissen von der Sprache tiefer drin als die geschriebene Warnung des Gewissens davor, einem andern anzutun, was man selber nicht erleiden möchte.“ (Confessiones I,18,29). Der Volksmund mahnt dementsprechend: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“.
Der Mensch weiß um Gut und Böse. – Aber was ist das Gute konkret? Das Beste und Größte des Menschen ist der lebendige Gott selbst. Der berühmte Theologe und Heilige Anselm von Canterbury sagt: „Gott ist, über den hinaus nichts Besseres gedacht werden kann“ und dass dieser beste Gott sich in Jesus Christus und der von ihm gestifteten Kirche offenbart und ausspricht. Gott wird Mensch und tritt ein in die menschliche Geschichte. Nicht nur jeder Mensch wird daher von Gott im Verlauf seiner Lebensgeschichte geführt und erzogen, sondern auch die ganze Menschheit unterliegt einer solchen Entwicklung durchaus mit Höhepunkten, aber auch befangen in Irrungen und Wirrungen. Dies spitzt sich heute besonders zu: Je mehr sich moralische Normen auf praktische und naturwissenschaftliche Tatsachen beziehen, zum Beispiel das Problem der Stammzellenforschung, desto umsichtiger und verantwortungsbewusster muss unser Sprechen und Urteilen sein. In einem pluralen Rechtsstaat gilt dann: „Die Grundrechte der Person gelten ohne Ausnahme und sind nicht verhandelbar“, wie es die Kirche im Anschluss an das vorchristliche Römische Recht vertritt.
Dies wollte Papst Benedikt XVI. mit seiner Rede vom Naturrecht im Bundestag unterstreichen: das Recht auf unantastbare Menschenwürde jeder Person und die Pflicht zum Ringen um die konkreten Gesetze und Normen, die im Dienste dieser Menschenwürde stehen müssen. Natürlich erkennt jeder Mensch von Natur aus, was recht und was gut ist. Stets aber liegt auch über dem Menschen die Gefahr, sein Leben als verlorener Sohn mit verlorenem Gespür für seine ursprüngliche Würde für angenehmer zu halten als ein Leben im Hause des Vaters. Der Weg dorthin ist oft mühsam, aber unbedingt notwendig und notwendend. Indem das Evangelium sich in der Goldenen Regel für die menschliche Natur stark macht, erhält dieses zu seiner überall geltenden natürlichen Relevanz noch die übernatürliche des Evangeliums hinzu. Aufs Neue bewahrt sich hier der alte Grundsatz der Theologie, dass die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern im Gegenteil, ihr zugrunde liegt, sie vollendet und sie erhöht. Gott, der als Schöpfer den Menschen die Kenntnis von Gut und Böse zuteilt, bestätigt, reinigt und bestärkt diese durch seine übernatürliche Offenbarung und Gnade. Hier verstehen wir, was der Heilige Vater in der angedeuteten Rede gesagt hat, dass es nicht nur eine Ökologie der Natur gibt, sondern besonders auch eine Ökologie des Menschen, die darin besteht, den Menschen als Geschöpf Gottes, als Ebenbild Gottes zu sehen und zu verstehen. Der Mensch als Krone der Schöpfung hat von hierher seine Würde. Aber überall in unseren menschlichen Gesellschaften liegen heruntergerissene Kronen. Sie gehören nicht auf die Müllhalden menschlichen Daseins. Es ist unsere ausdrückliche Berufung von Gott her, den Menschen zu helfen, dass alle ihre Kronen wiederfinden und dass wir auch die unsrigen nicht verlieren. „Denn ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde“, heißt es im 1. Petrusbrief (1 Petr 2,9).
Amen.