Gemeinsamer Wille statt Psychopille: Pilotprojekt der Caritas zeigt, dass Pflegebedürftige im Alter Lebensqualität erfahren können – ohne Medikamentencocktails.
„Heimbewohner mit Psycho-Pillen ruhiggestellt!“ So titelte kürzlich eine große deutsche Kioskzeitung und zitierte damit eine Studie aus dem Pflegereport 2017 der AOK. Dieser moniert unter anderem den übermäßigen Einsatz von Neuroleptika bei über einem Drittel der Demenzkranken. Antidepressiva – Antipsychotika – Alkohol – Benzodiazepine – Schmerzmittel – alles im Überfluss? Gibt es eine Medikamentensucht im Alten- und Pflegeheim? Oder eine Alkoholsucht? Vielleicht sogar beides?
Hohes Suchtpotenzial im Alter
Das Suchtpotenzial im Alter ist unbestritten hoch, alleine wegen der höheren Krankheitslast des Alters. Entsprechend groß ist auch die Gefahr, dass die Lebensqualität im Alter leidet. Deshalb führte der Diözesan-Caritasverband Regensburg ein dreijähriges Projekt „Lebensqualität im Alter“ durch. Angesiedelt wurde es an seiner Fachambulanz für Suchtprobleme in Regensburg. Die Projektleitung wurde Sozialpädagogin und Suchtexpertin Monika Gerhardinger übertragen. An der Pilotphase nahmen zwei Alten- und Pflegeheime und zwei ambulante Pflegedienste teil. Hauptverantwortlich für die Umsetzung vor Ort waren die Pflegedienstleitungen, die durch die Referentinnen für Qualitätsmanagement in der ambulanten bzw. stationären Pflege, Anita Kerscher und Roswitha Maria Straßer, begleitet wurden.
Sucht als Tabuthema
Die Problematik von Alkoholsucht und Übermedikation im Alter anzugehen, ist vor allem aus zwei Gründen komplex: Erstens: Das Thema Sucht ist ein Tabuthema. Gleichzeitig gehört der regelmäßige Bierkonsum gerade in Bayern für viele zum Alltag und wird nicht als Suchtmittel gesehen. Zweitens: Verantwortlich für die Medikation ist der verschreibende Arzt. Mit diesem gilt es ein von Kompetenz und Vertrauen geprägtes Verhältnis aufzubauen. In der Umsetzung des Projekts spielten Schulungen in der Einrichtung eine zentrale Rolle. Neben Wissensvermittlung stand dabei vor allem eines im Vordergrund: die Sensibilisierung für den Umgang mit betroffenen Pflegebedürftigen, deren Angehörigen und die Kooperation mit den behandelnden Ärzten.
Ältere Menschen mit Sucht- und Abhängigkeitsproblemen im Blick
Das Projektziel war von Anfang an klar. Es galt, ältere Menschen mit Sucht- und Abhängigkeitsproblemen sowie mit Übermedikation stärker in den Blick zu nehmen. Bald war auch erkennbar: Die durch die Medikamentengabe verursachten Neben- und Wechselwirkungen werden bei zusätzlichem Alkoholkonsum unkontrollierbar verstärkt. Es zeigte sich, dass die Thematik im häuslichen Bereich mindestens so relevant ist wie im stationären Umfeld. Petra Pöpel-Gajeck, Leiterin des ambulanten Pflegedienstes in Sinzing bei Regensburg, hat dazu ein Beispiel: „Wir betreuten einen Mann, der sehr unruhig war. In seinen eigenen vier Wänden konnte er seine Ruhelosigkeit nicht ausleben, er belastete damit sich und seine Angehörigen. Auf den ersten Blick halfen Beruhigungsmittel. Diese führten aber zu einem apathischen Zustand. Der wiederum - so waren wir durch das Projekt der Caritas sensibilisiert - war dem Mann wesensfremd und beeinträchtigte deshalb seine Lebensqualität. Das wollte niemand, am wenigsten er selbst. So kam er ins Marienheim, ein Regensburger Caritas-Alten- und Pflegeheim. Dort kann er nun mit einer bedarfsgerechten Medikation, fast ohne Beruhigungsmittel, seinen Bewegungsdrang ausleben. Er ist wieder ein glücklicher Mensch.“
Fazit: Es gibt nur Gewinner
Drei Jahre lang wurde das Modellprojekt vom Bezirk Oberpfalz finanziert. Das Fazit nach der Projektlaufzeit: Es gibt nur Gewinner. Das Thema wird weiter an Bedeutung gewinnen. Deshalb hat der Bezirk auch die dauerhafte Finanzierung dieses Angebots zugesagt. Ein positiver Nebeneffekt ist die stärkere interne Vernetzung der beiden Caritas-Bereiche Sucht- und Altenhilfe. „Suchtprobleme gemeinsam lösen“, das war der Ansporn, und das ist gelungen, zum Wohl der Pflegebedürftigen.
Zusatz-Info 1: Sucht im Alter in Deutschland
Mehr als zwei Millionen ältere Männer und Frauen rauchen, bis zu 400.000 sind von einem Alkoholproblem betroffen und bei ein bis zwei Millionen Menschen weist der Gebrauch psychoaktiver Medikamente zumindest Gewohnheitscharakter auf. In den Einrichtungen der Suchthilfe sind ältere Männer und Frauen jedoch nur selten anzutreffen. Im Jahr 2004 waren von insgesamt rund 250.000 Betreuten, deren Beratung und Behandlung dokumentiert wurde, nur rund 12.400 im Seniorenalter. Damit erhält nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen angemessene fachliche Hilfe (Quelle: DHS, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen).
Zusatz-Info 2: Suchthilfe der Caritas Regensburg
Infos zur Arbeit der Caritas im Bereich Suchthilfe gibt es im Internet auf <link http: www.caritas-regensburg.de suchthilfe _blank external-link-new-window der caritas>www.caritas-regensburg.de/suchthilfe