"Development of Christian Doctrine": Dogmatikprofessor Dr. Dr. Thomas Marschler sprach über 2000 Jahre christliche Glaubensentwicklung
Der christliche Glaube ist 2000 Jahre alt. Seine Lehre hat sich in dieser Zeit entwickelt und entfaltet – aber hat sich der Glaube selbst eventuell im Laufe der Zeit auch verändert? Eine Frage, die nicht nur Papst em. Benedikt XVI. oder Bischof Rudolf Voderholzer am Herzen liegt.
Dr. Dr. Thomas Marschler, Professor für dogmatische Theologie an der Universität Augsburg, beantwortete am vergangenen Samstag diese Frage in einem längeren Vortrag vor rund 100 Jugendlichen im Rahmen der „Frühlings-Akademie“ der “Katholischen Pfadfinderschaft Europas”, die im Pfarrheim St. Anton in Regensburg stattfand und zu der junge Erwachsene sowohl aus der Pfadfinderschaft wie auch aus der "Jugend 2000" eingeladen waren.
Professor Marschler zeigte auf, wie sich der Glaube im Laufe der Zeit entfalten und vertiefen konnte. Hierbei gliederte er seinen Vortrag in drei Themenbereiche:
1) Von Jesus zur Bibel
2) Von der Bibel zum Dogma der Kirche
3) Vom Dogma zu seiner Auslegung in späteren Zeiten der Kirche
Von Jesus zur Bibel
Zunächst stellte Professor Marschler die Frage, inwiefern der sogenannte „biblische“ Jesus bzw. der „Jesus der Evangelien“ identisch sei mit dem „historischen“ Jesus bzw. dem „realen“ Jesus. Um diese Frage zu beantworten lieferte er einen Abriss der Theologiegeschichte und stellte fest, dass bis ins hohe Mittelalter es unter den Kirchenvätern und Glaubenslehrern keinen Zweifel daran gab, dass die Evangelien (auch da wo sie sich voneinander unterschieden) eine große historische Glaubwürdigkeit besäßen und somit der in den Evangelien geschilderte Jesus Christus auch der „historische“ Jesus sei. Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, der lateinische Übersetzungen der Evangelien mit dem griechischen Urtext verglich, stellten jedoch zum Teil inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Textvarianten fest und lieferten die Grundlage für eine in der Aufklärung aufkommende, sich langfristig durchsetzende zutiefst religionskritische Bibelhermeneutik.
Als Begründer dieser „historisch-kritischen“ Bibelexegese nannte Professor Marschler den protestantischen Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (+ 1768), der sich in seiner posthum erschienen Schrift „Apologie und vernünftige Schutzschrift für die Verehrer Gottes“ gegen den traditionellen biblischen Glauben an übernatürliche Offenbarungen und Wunder sowie die Auferstehung und Gottessohnschaft Jesu stellte. Die damit einhergehende Kritik am – scheinbar – unhistorischen und vernunftswidrigen Jesus-Bild der Bibel führte schließlich in der protestantischen Theologie zur „Leben-Jesu-Forschung“, deren Ergebnisse einerseits von Theologen wie Albert Schweizer (+ 1965) oder Martin Kähler (+1912) kritisiert, andererseits von Theologen wie Rudolf Bultmann (+1976) und durch dessen Programm einer „Entmythologisierung des Christentums“ radikalisiert wurden. Die katholische Theologie blieb übrigens bis zur Mitte des 20. Jahrhundert skeptisch gegenüber der historisch-kritischen Bibelexegese sowie der „Leben-Jesu“-Forschung, auch in jüngster Zeit griff Papst Benedikt XVI. in seiner Buchtrilogie über „Jesus von Nazareth“ manche Vorbehalte gegenüber der historisch-kritischen Bibelexegese auf.
Dennoch ist laut Professor Marschler heutzutage - trotz manch notwendiger Kritik - die grundlegende Berechtigung der historisch-kritischen Methode auch im katholischen Raum unbestritten, wie beispielsweise das Dokument „Dei Verbum“ (12. Kapitel) des 2. Vatikanischen Konzils unterstreicht. Außerdem seien die Evangelien der Intention nach keine historischen Protokolle des Lebens Jesu, sondern Bekenntnisschriften, die zum Bekenntnis aufrufen. Gleichzeitig betonte Professor Marschler jedoch, dass „historische Hypothesen nicht Basis unseres Glaubens sein können. Er ruht auf der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn in der Gemeinschaft der Kirche und bedarf der Gnade Gottes.“ Und gleichwohl die Kernaussagen des Glaubens den Einsichten der philosophischen und historischen Vernunft nicht widersprechen können, müssten, so Marschler, auch die Grenzen philosophischer und historischer Argumentationen beachtet werden. Denn der christliche Glaube habe trotz der Wertschätzung der Vernunft durch die Theologie auch eine „über-vernünftige“ Ebene, die sich eben in Geschehnissen wie göttlichen Offenbarungen und Wundern ausdrücke.
Von der Bibel zum Dogma der Kirche
Dogmen, so Professor Marschler, sind nicht allein Wiederholungen biblischer Aussagen (vgl. das „homoousios“ des Konzils von Nicäa (325)), sondern dienen der Entfaltung von Themen und deren verbindlicher Festlegung für alle Gläubigen, die in der Schrift nur einschlussweise enthalten sind, wie beispielsweise der Siebenzahl der Sakramente. Ebenso wie die Frage der richtigen Bibelhermeneutik gab es im Laufe der der Kirchen- und Geistesgeschichte äußerst kontroverse Ansichten zur Entstehung und Verkündigung von Dogmen.
Während bis ins Mittelalter eine fortschreitende Entfaltung der Glaubensartikel in der Kirche stattfand, setzte unter den Reformatoren ein radikaler Einspruch gegenüber der katholischen Dogmengeschichte und -entwicklung ein. Im Zuge der Aufklärung wird sogar von der Dogmengeschichte als einer „Verfallsgeschichte“ gesprochen, starke Kritik gab es hierbei sowohl an den Traditionen der Kirche, der angeblichen „Hellenisierung des Christentums“ (Adolf von Harnack) sowie am kirchlichen Anspruch der Unfehlbarkeit.
Diesen Theorien stellten sich auf katholischer Seite laut Marschler sowohl im 19. Jahrhundert die „Tübinger Schule“ um Johann Adam Möhler und Johann Sebastian von Drey, die die (Dogmen-)Geschichte als Erziehungsplan Gottes betrachtete; die Neuscholastik (19./20. Jahrhundert), die die Dogmengeschichte als Prozess der Ableitung von Folgerungen aus geoffenbarten Basissätzen ansah sowie der 2010 von Benedikt XVI. selig gesprochene John Henry Kardinal Newman (+1890), der die Dogmengeschichte nur in der Kontinuität der Bekenntnisgemeinschaft für verstehbar hielt, entgegen.
Der selige John Henry Newman nennt laut Professor Marschler sieben Prinzipien bzw. Kriterien einer richtig verstandenen Dogmenentwicklung bzw. - entfaltung:
– Erhaltung des Urtypus: Wenn die Gesamtstruktur bleibt, kann der Typus erhalten bleiben, auch wenn einzelne Begriffe sich ändern; die Gesamtstruktur kann aber auch korrumpiert werden, wenn die Begriffe dieselben bleiben, aber in einen völlig anderen Kontext oder in ein anderes Koordinatensystem eingefügt werden.
– Kontinuität der Prinzipien: Lehren entwickeln sich, Prinzipien nicht. Die verschiedenen Lehren repräsentieren jeweils tiefer liegende Prinzipien, auch wenn diese oft erst nachträglich erkannt werden. Ein und dieselbe Lehre kann unterschiedlich interpretiert werden und zu gegensätzlichen Folgerungen führen, wenn man sie von dem sie tragenden Prinzip löst. Die Kontinuität der Prinzipien ist also ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Entwicklung.
– Assimilationsvermögen: Eine Idee, welche lebendig ist, erweist ihre Kraft dadurch, dass sie fähig ist, die Wirklichkeit zu durchdringen, das Denken anzuspornen und sich zu entfalten, ohne ihre innere Einheit zu verlieren. Diese integrierende Kraft ist ein Kriterium einer legitimen Entwicklung.
– Logische Folgerichtigkeit: Lehrentwicklungen müssen folgerichtig sein. Das Nachdenken über eine Glaubenswahrheit führt dazu, dass man tiefere Zusammenhänge erkennt.
– Vorwegnahme der Zukunft: Tendenzen, die sich erst später voll durchsetzen und auswirken, können sich vereinzelt und undeutlich schon recht früh bemerkbar machen.
– Bewahrende Auswirkung auf die Vergangenheit: Eine wahre Entwicklung erhält und bewahrt die vorausgehenden Entwicklungen und Formulierungen.
– Fortdauernde Lebenskraft: Korruption führt zur Auflösung und kann nicht lange Bestand haben sowie zu Spaltungen führen.
Vom Dogma zu seiner Auslegung in späteren Zeiten der Kirche
Abschließend ging Professor Marschler auf die Frage nach der gegenwärtigen Auslegung von Dogmen in der Kirche ein. Hierbei nannte er Kriterien für den Umgang mit kirchlichen Lehraussagen im Allgemeinen:
So sei es einerseits unerlässlich, kirchliche Lehraussagen im historischen Kontext zu betrachten – die ursprüngliche Aussageabsicht, deren Verbindlichkeit sowie der Hintergrund der Entstehung seien hierbei zu klären. Außerdem müsse der Gesamtzusammenhang der kirchlichen Lehrentwicklung sichtbar werden, denn auch Umakzentuierungen in der kirchlichen Lehre seien – mit Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil - durchaus möglich. Auch müsse die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis- und Sprachfähigkeit immer berücksichtigt werden - das Verhältnis zwischen veränderbarer Form und bleibend verbindlichem Inhalt sei oft nicht leicht zu bestimmen.