Sie haben von „Kraftquellen“ gesprochen. Welche Bedeutung hat das geistliche Leben für Sie? Was ist Ihnen dabei besonders wichtig geworden?
Genau zu der Zeit als wir uns vor 25 Jahren in Exerzitien auf die Priesterweihe vorbereitet haben, hat Papst Johannes Paul II. Deutschland besucht und in Berlin Karl Leisner seliggesprochen. Leisner, Jahrgang 1915, ist nur 30 Jahre alt geworden. Davon saß er fünf Jahre in Haft, die meiste Zeit im KZ Dachau. Er ist wohl der Einzige, der je in einem KZ zum Priester geweiht worden ist. Todkrank empfing er in der Barackenkapelle durch einen mitinhaftierten Bischof die Priesterweihe. Nur ein einziges Mal hat er wenige Tage später die heilige Messe gefeiert. Zum ersten Mal, zum einzigen Mal, zum letzten Mal. Das hat mich als neugeweihter Priester tief beeindruckt. Ich habe mich seitdem immer wieder mit Leisner beschäftigt. Ich durfte seine Schwester und seine Nicht kennenlernen und wir haben uns angefreundet. Die Verehrung von Karl Leisner, das Gebet um seine Fürsprache, sein Vorbild im Hinblick auf die Eucharistie, all das ist für mich in den vergangenen 25 Jahren sehr wichtig geworden. Das ist für mich eine große Kraftquelle.
In 25 Jahren hat sich viel verändert. In der Gesellschaft wie in der Kirche. Wie hat sich Priestersein in dieser Zeit verändert?
Einfacher geworden ist es nicht. Durch die ganzen Skandale fühlt man sich als Priester heute Vorverurteilungen und Verdächtigungen ausgesetzt. Mir hat kürzlich jemand ins Gesicht gesagt, ich würde lügen. Da können Sie die Wahrheit sagen, wie Sie wollen. Das nützt nichts. Es wird einem unterstellt, man lüge. Ein solches Klima offener Feindseligkeit wäre noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen. Aber es gibt auch positive Entwicklungen…
Tatsächlich? Wo sehen Sie die?
Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, klassische Seelsorge gewinnt für uns Priester wieder mehr Bedeutung. Das stellvertretende Gebet, die Feier der Sakramente, das Leben aus der Verbundenheit mit Gott und den Menschen, Kontakt halten miteinander. Corona hat gezeigt, der Priester als „Mann Gottes“, der die Sakramente verwaltet und eine Art „Brückenfunktion“ zum Himmel hat, ist durchaus gefragt.
Aber es gibt immer weniger Priester. Als Sie geweiht wurden, standen Sie mit 14 Mitbrüdern am Altar. Heute erleben wir in Deutschland einen dramatischen Rückgang der Priesterweihen. Woran liegt das?
Die Ursachen sind Legion. Da spielt vieles herein. Nur ein grundsätzlicher Aspekt: Es gibt immer weniger katholische Kinder. Als ich diese Pfarrei übernahm, gab es hier ein Abo für ein Erstkommunion-Vorbereitungsheft für 50 Kinder. Heuer hatten wir 17 Erstkommunikanten. Weniger Kinder heißt aber auch weniger kirchlich sozialisierte Jugendliche. Woher aber sollen Priesterberufe kommen, wenn nicht aus den Reihen der praktizierenden Katholiken? Andererseits staune ich, wie viele Weihekandidaten wir immer noch haben. Unser Bischof hat kürzlich im Regensburger Dom acht Priester geweiht. Wir waren damals 15. Wenn ich den damaligen Kirchenbesuch, die Sozialisierung und die Verwurzelung im Glauben anschaue und mit der Situation heute vergleiche, dann liegen da Welten dazwischen. Mit Blick auf die leeren Bänke in unseren Sonntagsgottesdiensten sind acht Neupriester beeindruckend viele.
Um das Priesteramt wird innerkirchlich heftig gerungen. Offenkundig gibt es höchst unterschiedliche Vorstellungen davon, was ist ein Priester ist bzw. sein soll. Das zeigen nicht zuletzt die Debatten beim „Synodalen Weg“. Was macht priesterliche Identität aus?
Der Priester lässt sich von Christus ganz in Anspruch nehmen. Nicht nur für eine gewisse Zeit. Nicht um damit sein Geld zu verdienen. Nicht um irgendwelcher Vorteile willen. Nicht um ab und zu – wenn es genehm ist – aufzutauchen und in einem feierlichen Ambiente wohlgesetzte Worte zu verlauten. Priestersein ist ein täglicher Dienst, ein Tag für Tag neues Bereitsein zum Dienen. Christus spricht von den Arbeitern für seine Ernte. Anders kann man die Tiefe des Priesterseins nicht definieren. Es geht um Dienst, um die Bereitschaft zur Arbeit im Weinberg des Herrn. Wer den Dienst des Priesters als Vorrang oder Bevorzugung sieht, hat Christus und sein Verhältnis zu den Jüngern nicht verstanden. Christus sagt; „Haben Sie mich verfolgt, werden Sie auch Euch verfolgen“. Das Kreuz kann man aus dem christlichen wie aus dem priesterlichen Leben nicht wegleugnen. Wer da von „klerikaler Macht“ spricht, liegt falsch. Priesterliche Identität besteht wesentlich im Dienen.
Was müsste geschehen, um ein neues Bewusstsein für die Bedeutung des sakramentalen Priesteramtes zu wecken?
Das ist eine komplexe Frage, die man nicht isoliert betrachten kann. Bei vielen fehlt heute der Bezug zur Sakramentalität des Glaubens und der Kirche. Eucharistie, Buße, Krankensalbung, das eigene Getauftsein, der Wert von Ehe: Wir feiern so vieles, aber was wir feiern, wird oft gar nicht oder nur oberflächlich gelebt. Doch nur wo verstanden und hochgeschätzt wird, was sakramentales Tun ist, wo aus den Sakramenten gelebt wird, gibt es auch junge Männer, die sich vorstellen können, Priester zu werden.
Sie haben vom Kreuz gesprochen und vom Dienen. Auch der Verzicht gehört zu dem von Ihnen gewählten Lebensstil. Als Priester verzichten Sie beispielsweise auf eine eigene Familie. Kreuz, Dienst, Verzicht: Würden Sie sich dennoch als einen glücklichen Menschen bezeichnen?
Ja, ich bin ein glücklicher Mensch und ein glücklicher Priester! In unserem Seniorenheim steht in großen Buchstaben auf einem Wand-Tattoo: „Glück ist nicht, von allem das Beste zu haben, sondern aus allem das Beste zu machen.“ Das finde ich treffend. Der Zölibat zum Beispiel ist in meinen Augen auch eine nonverbale Solidaritätserklärung an jene, die unfreiwillig kinderlos sind, die alleingelassen wurden, denen das Leben sexuelle Enthaltsamkeit aufzwingt, vielleicht sogar in der Ehe, entgegen ihrer einmal getroffenen Entscheidung, etwa weil der Partner krank ist. Ohne große Worte erkläre ich mich solidarisch mit ihnen. Ich habe mich freiwillig und bewusst für diesen Lebensstil entscheiden, andere nicht. Durch meine Lebensform stehe ich an ihrer Seite. Auf meinem Weg zum Priestertum ist mir ein Gedicht von Paul Roth(*) sehr wichtig geworden. Darin geht es um das Thema Entscheidung. Jede Entscheidung - im Großen wie im Kleinen - bedeutet, abwägen, wählen und auch verzichten. Wer sich immer alles offenhalten will, wird nie glücklich. Nur wer sich entscheidet, wird glücklich werden können. Wer sich entscheidet, lebt selbst und wird nicht gelebt.
Wo sehen Sie heute die größten Herausforderungen im priesterlichen Dienst?
Wir sitzen als Priester ständig zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite erleben wir da die ganz Progressiven, die alles neu denken und über den Haufen werfen wollen. Dann gibt es die vielen einfachen Kirchenmitglieder, die ihre Vorstellungen davon haben, was man von einem Priester erwarten darf. Und dann sind da noch diejenigen, die eigentlich kein Interesse am Glauben haben, die den Pfarrer und die Kirche als Dienstleister ansehen, ohne sich selbst einzubringen. Als Priester sollen Sie nun allen gerecht werden. Das ist die große Herausforderung. Zwischen diesen völlig unterschiedlichen Erwartungshaltungen werden wir derzeit aufgerieben.
„Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach dem Hoffnung fragt, die Euch erfüllt!“ (1 Petr 3,15) lautet Ihr Primizspruch. Welche Hoffnung erfüllt Sie heute, wenn Sie auf die schwierige Situation der Kirche schauen?
Ich sehe manche Aufbrüche: Menschen, die sich ehrenamtlich über die Maßen einbringen. Ich treffe auf so viele Ehrenamtliche, die sich voller Engagement einsetzen und für ihre Aufgabe brennen. Das macht mir Mut. Auch Ordensgemeinschaften, die junge Kandidatinnen und Kandidaten haben, sind ein hoffnungsfrohes Zeichen. Schon öfter wurde ich von Jugendgruppen angefragt, in denen eine katholische Freude herrscht, die unheimlich ansteckend wirkt und begeistert. Ich arbeite bei der Ausbildung junger Priester mit, die aus der Weltkirche in unsere Diözese kommen, um hier ein paar Jahre Dienst zu tun. Auch dort erlebe ich ein frohes Selbstverständnis von Katholizität, das Mut und Hoffnung macht. Schlussendlich haben wir mit Petrus die Zusage, dass die Pforten der Hölle die Kirche Jesu Christi nicht überwältigen werden. Auf diese Zusage des Herrn dürfen wir vertrauen und bauen. Es gibt also gute Gründe, „erfüllt von Hoffnung“ in die Zukunft zu schauen.
(*)
Impuls
„Du kannst dir nicht
ein Leben lang
Die Türen alle Türen offenhalten,
um keine Chance zu verpassen.
Auch wer durch keine Türe geht
und keinen Schritt
nach vorne tut,
dem fallen Jahr für Jahr
die Türen
eine nach der anderen zu.
Wer selber leben will,
der muss entscheiden:
Ja oder Nein -
im Großen und im Kleinen.
Wer sich entscheidet,
wertet, wählt
und das bedeutet auch:
Verzicht.
Denn jede Tür,
durch die er geht,
verschließt ihm viele andere.
Man darf nicht mogeln
und so tun,
als könne man beweisen,
was hinter jener Tür
geschehen wird.
Ein jedes Ja
- auch überdacht, geprüft -
ist zugleich Wagnis
und verlangt ein Ziel.
Das aber ist die erste
aller Fragen:
Wie heißt das Ziel,
an dem ich messe Ja und Nein?
Und: Wofür will ich leben?“
Paul Roth
Aus: Paul Roth, Wir alle brauchen Gott, Echter Verlag 1975, ISBN: 978-3429004125