Regensburg, 12. Februar 2025
Die Themen „Wahrheit“ und „Freiheit“ zählen zu den ganz großen Themen der Philosophie und der Theologie. So hat z. B. Rolf Schönberger, der Regensburger Professor für Philosophie, in der Festschrift für Bischof Rudolf Voderholzer (Stefan Oster / Johannes Brantl [Hg.], Christus ist unter euch. Zur Aktualität des II. Vatikanischen Konzils, Regensburg 2024, S. 587-597) einen höchst beachtenswerten Beitrag unter dem Titel „Der Anspruch auf Wahrheit und der Anspruch auf Freiheit“ verfasst.
Wahrheit des Glaubens und Freiheit des Menschen
Der Frage des Verhältnisses zwischen dem theologischen Verständnis von Wahrheit (Wahrheit des Glaubens) und der Freiheit des Menschen kommt – so Walter Kardinal Kasper – „schicksalhafte Bedeutung“ zu (vgl. W. Kasper, Kirche und Theologie. Bd. 2, Mainz 1999, S. 213-228). Die geistigen Strömungen der Neuzeit sind äußerst vielfältig und verwickelt. Mit Recht hat der Philosoph Joachim Ritter (1903-1974) von der „Zweigleisigkeit“ der modernen Geistesgeschichte gesprochen, zu der die Philosophie von René Descartes genauso gehört wie die „Logik des Herzens“ von Blaise Pascal, die Aufklärung genauso wie die Mystik. Für die neuzeitliche Theologie stellt sich – so Walter Kasper – die dringliche Aufgabe, philosophische Gegensätze und Spannungen möglichst zu versöhnen.
Der Mensch im Zentrum
Man kann einen Dreh- und Angelpunkt der neuzeitlichen Kultur ausfindig machen: nämlich die Wende zum Menschen als „Ausgangspunkt und Kriterium“ (W. Kasper [Hg.], Sie suchten die Wahrheit. Heilige Theologen, Mainz 1985, S. 9) für die Zuwendung zur Welt und für das Verhältnis zur Tradition und zur Religion. Der seiner selbst bewusste und sich selbst bestimmende Mensch ist Kern und Brennpunkt des neuzeitlichen Bewusstseins. Aufgrund des Zusammenbruchs der bis dahin tragenden politischen und religiösen Ordnungen am Ende des Mittelalters hat die Neuzeit die menschliche Freiheit aus der Ordnung von Natur und religiöser Tradition herausgelöst. Einflussreiche Denker der Neuzeit verstehen die menschliche Freiheit nicht mehr theologisch, das heißt nicht mehr als in Gott verankert, sondern als „selbstgesetzliche“ Freiheit. Kritisch kann gegen diese philosophische Sichtweise angeführt werden, dass der Mensch, der sich exklusiv autonom (nur sich selbst verpflichtet, von Gott völlig unabhängig) versteht und die Bedingtheiten und Grenzen aller menschlichen Vernunft und Freiheit bestreitet, dazu neigen wird, „sich alles verfügbar zu machen“ (Hans Gleixner, Moral im Überangebot?, Paderborn 1997, S. 108). Nach neuzeitlichem Verständnis ist die Freiheit ein Unbedingtes und Letztes. Sie setzt und prüft nunmehr jede Ordnung. Die menschliche Freiheit wird zur zentralen Instanz der Selbstvergewisserung des Menschen. Die herausragende Bedeutung der neuzeitlichen Idee der Freiheit ist – so Kardinal Kasper – unbestreitbar. Sie gehört zum „bleibend gültigen“ Erbe der Neuzeit, die wesentliche christliche Impulse aufgenommen und weitergebildet hat.
„Gott spielen“ – eine heillose Überforderung
Auf der anderen Seite müssen aber auch das „Elend“ und die tiefe innere Zwiespältigkeit des neuzeitlichen Freiheitsverständnisses zur Kenntnis genommen werden. Je entschiedener der neuzeitliche Mensch „selbst Gott und Vorsehung zu spielen versuchte“, desto mehr fiel er einer heillosen Überforderung anheim. Der Weg der Selbstbegründung führte ins Bodenlose. Daraus resultierte ein verhängnisvoller „Gottes- und Allmachtskomplex“. Mit Recht hat der Philosoph Robert Spaemann darauf hingewiesen, dass die Moderne vor der Zerstörung durch sich selbst bewahrt werden müsse. Was mit dem christlichen Verständnis der Freiheit im Letzten gemeint ist, hat der Münchener Psychotherapeut Albert Görres treffend so ausgedrückt: Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen wird „nur in Übereinstimmung mit dem Herrn aller Welt sinnvoll gebraucht …, weil der allein den Sinn des Menschseins und der Welt völlig durchschaut, der ihn gestiftet hat“ (A. Görres, Das Kreuz mit dem Glauben. Kritische Gedanken eines Therapeuten, Graz 2000, S. 146).
Freiheit im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils
Das Zweite Vatikanum hat das Recht der menschlichen Person auf freie Selbstbestimmung zur Geltung gebracht. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Konzil die „Grund- und Kernidee“ der Freiheit ins Ganze der Tradition integriert hat. Die Konzilsväter haben dargelegt, dass die Freiheit nicht in der Emanzipation von der Wahrheit ihre Erfüllung finden kann, sondern allein durch die Erkenntnis und Anerkenntnis jener Wahrheit, die letztlich Gott selbst ist und die die Kirche bezeugt. Die göttliche Wahrheit verpflichtet den Menschen im Gewissen. „Wahrheit setzt Freiheit voraus, Freiheit kommt in der Wahrheit zur Erfüllung“ (W. Kasper, Kirche und Theologie. Bd. 2, S. 220). Kardinal Kasper bemerkt mit Recht, dass gegenwärtig die Erkenntnis zu wachsen scheint, dass ein Absehen von der religiösen Dimension des Menschen eine „lebensgefährliche“ Amputation bedeuten würde und dass eine rein weltlich-säkulare Ordnung „auf Dauer nicht bestehen“ (ebd., S. 225) könnte.
Der Mensch – in einer Überlieferung verwurzelt
Die säkular gewordene freiheitliche Gesellschaft ist – trotz aller großen Leistungen – von ihrer Wurzel her bedroht. Der ehemalige Bundesminister Wolfgang Schäuble (W. Schäuble, Und der Zukunft zugewandt, Berlin 1994, S. 47-51) macht – mit Berufung auf den Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019) – darauf aufmerksam, dass der liberale Staat und seine Institutionen auf Voraussetzungen beruhen, „die sie selbst nicht garantieren können“. Im Verlust der religiösen Heilsgewissheit sieht Schäuble „eine der folgenschwersten Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte“, der zu einem „tiefreichenden Wertewandel“ geführt hat. Eine Letztbegründung und einen letzten Sinn kann sich die säkulare Gesellschaft nicht aus eigenem Vermögen geben. Eine partielle – durch ein radikales emanzipatorisches Freiheitsverständnis verursachte – Erosion der unsere freiheitliche Ordnung tragenden Werte und Ziele ist heute unübersehbar. Um ihres eigenen Überlebens willen ist die moderne Gesellschaft auf von ihr unabhängige Instanzen angewiesen, die für den Sinn der Freiheit einstehen und zum Einsatz für die Freiheit aller ermutigen. Insofern gehört die Religion heute zu den Überlebensbedingungen unserer freiheitlichen Kultur. Die menschliche Erfahrung und die Geschichte – so der Philosoph Martin Heidegger – lehren uns, „dass alles Wesentliche und Große nur daraus entstanden ist, dass der Mensch eine Heimat hatte und in einer Überlieferung verwurzelt war“ (M. Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges [Gesamtausgabe, Bd. 16], Frankfurt a. M. 2000, S. 670).
Der Sinn der Freiheit: Liebe
Der Historiker Thomas Nipperdey (1927-1992) verweist auf die „Kosten“ der Modernisierung (etwa Heimat-, Geborgenheits- und Traditionsverluste) und das „Unbehagen“ an der modernen Kultur: Die Welt ist technischer, wissenschaftlicher, rationaler geworden, aber auch „entzauberter“, rechenhafter und bürokratischer, kälter und abstrakter. Im Zeitalter der Moderne hat die religiöse Weltinterpretation ihre Kraft weitgehend verloren. Aber die sie beerbenden Wissenschaften bieten „keinen Ausblick aufs Ganze und keinen auf den Sinn“ (Th. Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Stuttgart 1998, S. 71). Die christliche Botschaft vermittelt der in sich selbst unbestimmten Freiheit des Menschen eine letzte positive Bestimmung, indem sie diese in der unbedingten Freiheit Gottes begründet und so menschliche Freiheit als Freiheit für Gott und für den Nächsten versteht. Der Sinn menschlichen Freiheit kann letztlich nur in der Anerkennung der vollkommenen Freiheit Gottes und in der Anerkennung der Freiheit des anderen Menschen bestehen. Dadurch, dass die christliche Botschaft den Sinn der Freiheit als Liebe bestimmt, gibt sie der menschlichen Vernunft eine prophetische Inspiration, indem sie falsche, die Freiheit unterjochende Verabsolutierungen und Vergötzungen aufdeckt. Die christliche Freiheit kann in der Gesellschaft eine große motivierende Kraft entfalten.
Offen für die Vision des Evangeliums
Miloslav Kardinal Vlk (1932-2017), der ehemalige Erzbischof von Prag, brachte in seinen Ausführungen über die „Seele Europas“ die Überzeugung zum Ausdruck, dass der heutige Mensch „Antworten auf seine tiefsten Fragen“ sucht. Der Kardinal sah Anzeichen dafür gegeben, dass heute viele offen sind für die „Vision des Evangeliums“. Angesichts des ethischen Grundwasserspiegels der Gesellschaft hielt es Kardinal Vlk für erforderlich, dass Spielregeln nicht nur aufgrund sozialer Kontrollen eingehalten werden, sondern aufgrund der Verankerung der Gewissen in Gott (Wird Europa heidnisch? Miloslav Kardinal Vlk im Gespräch mit Rudolf Kucera, Augsburg 2000, S. 122).
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Leiter der Hauptabteilung Orden und Geistliche Gemeinschaften im Bistum Regensburg
(SSC)