Hand mit Rosenkranz gegen Sonne

Sterbehilfe-Debatte gleitet ab in ökonomisches Kalkül

Kann ein Suizid für Ältere zur sozialen Pflicht werden?


Regensburg, 16. Dezember 2025

Vor fünf Jahren erklärte der österreichische Verfassungsgerichtshof das Verbot der Beihilfe zum Suizid für verfassungswidrig. Dignitas-Gründer Ludwig A. Minelli verbuchte dies als persönlichen Erfolg. Jetzt nahm sich der 92-Jährige Schweizer mithilfe seiner Mitarbeiter das Leben. Was tut die Option „Sterbehilfe“ mit älteren Menschen?

Der international agierende Schweizer Sterbehilfe-Verein Dignitas wurde 1998 vom Journalisten und Juristen Ludwig A. Minelli gegründet. Klares Ziel des Vereins ist es, durch Musterprozesse und Lobbying die Freigabe der „Sterbehilfe“ weltweit durchzusetzen. Bereits 2018 kündigte Minelli an: „Wir sind bereit, derartige Verfahren zu finanzieren, denn es ist unsere Aufgabe und unser Auftrag, auch in Österreich das Licht der Freiheit anzuzünden. Das wird wohl in den nächsten zwei bis drei Jahren vonstattengehen.“

Das Kalkül der Sterbehilfe-Missionare (Swissinfo, 18. November 2018) ging auf. Dignitas finanziert weltweit Anwälte, die Klagen bei den nationalen Verfassungsgerichtshöfen einbrachten. Minelli verbuchte zahlreiche „Pro-Sterbehilfe-Urteile“ als seine persönlichen Erfolge: In Österreich führte eine von Dignitas angestiftete Klage zum Verfassungsgerichtsurteil von 2020 ebenso wie in Deutschland. Auch in der Legalisierung der Euthanasie in Kanada (2016), einigen australischen Bundesstaaten und Frankreich (2025) sieht Minelli seine Handschrift. Im Gesetzesentwurf von Frankreich zur „aktiven Sterbehilfe“ soll das Verhindern eines (Selbst-)Tötungswunsches mit bis zu 30.000 Euro Strafe belegt werden (Bioethik aktuell, 24. Juni 2025).

Kurz nach der Verkündung des VfGH-Erkenntnisses am 11. Dezember 2020 trat die Österreichische Gesellschaft für Humanes Lebensende (ÖGHL) auf den Plan, die sich als erster Sterbehilfe-Verein des Landes präsentierte. Damaliges Mitglied des Beirats war Dignitas-Gründer Ludwig Minelli. Die ÖGHL ist Mitglied der World Federation of Right to Die Societies (WFRTDS), die koordiniert an der weltweiten Verbreitung eines „Rechtes auf einen würdigen Tod“ arbeitet. Nicht nur für Kranke, auch für Gesunde, etwa im Seniorenalter.

Die Kessler-Zwillinge und der Trend zum „Altersfreitod“

Erst jüngst hatte in Deutschland der Suizid der „Kessler-Zwillinge“ für Debatten gesorgt. Die 89-jährigen Unterhaltungskünstlerinnen hatten ihren Tod mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben geplant. Bei der DGHS hatten sich den Angaben zufolge 2022 noch 229 Menschen für eine solche Form des begleiteten Sterbens entschieden, in diesem Jahr waren es bereits um die 800 Menschen. Die Deutsche Caritas kritisierte die romantisierende Berichterstattung zum assistierten Suizid des prominenten Geschwisterpaares.

Dignitas geriet wiederholt selbst ins Visier der Justiz. Seinem Gründer Minelli wurde vorgeworfen, sich persönlich mit Erbschaften seiner „Kunden“ bereichert zu haben bis hin zum Verdacht der Anstiftung zum Selbstmord. Verurteilungen blieben jedoch aus. Besonders brisant war der Fall eines 34-jährigen depressiven Österreichers aus einer wohlhabenden Kärntner Unternehmerfamilie. Per Testament vermachte er einem Minelli nahestehenden Verein einen Teil seines Erbes in Millionenhöhe. Auf Intervention der Mutter widerrief das Opfer sein Testament im März 2013 – wenige Minuten vor seinem mithilfe von Dignitas durchgeführten Suizid. Minelli klagte daraufhin. Der Rechtsstreit endete nicht etwa mit seiner Niederlage, sondern in einem Vergleich.

Exit hat ein Vermögen angehäuft

In der Schweiz ist die Zahl der Selbsttötungen mithilfe Dritter zwischen 2010 und 2023 um 385 Prozent gestiegen (Die Presse, 5. September 2025). Der Verein zählte nach eigenen Angaben 2025 rund 10.000 Mitglieder aus mehr als 80 Ländern. Dignitas legt seine Einnahmen nicht offen. Die Sterbehilfe-Organisation finanziert sich durch jährliche Mitgliedsbeiträge potenzieller Kunden, Spenden und Erbschaften. Die größte Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit unterstützt explizit den „Altersfreitod“ für „Personen, die im und ums Alter leiden“. Exit hat derzeit knapp 182.000 zahlende Mitglieder. Alleine 2024 sind knapp 20.000 neue Mitglieder dazu gekommen, vorwiegend ältere Menschen. Das Durchschnittsalter bei Durchführung des Suizids war 80,7 Jahre bei Frauen und 79 Jahre bei Männern. Exit hat mittlerweile nach eigenen Angaben ein Bruttovermögen von 49,4 Millionen Schweizer Franken angehäuft.

Während die WHO den Suizid als tragisches Ereignis bezeichnet und weltweit in Prävention investiert, verändert sich in einigen Ländern die öffentliche Wahrnehmung des assistierten Suizids älterer Menschen. Die Suizidrate ist bei über 65-Jährigen am höchsten im Vergleich zur restlichen Bevölkerung. Unter dem Deckmantel der „individuellen Autonomie“ wird medial eine Kultur gefördert, in der der Alterssuizid als akzeptable – oder gar erwartbare – Lösung erscheint. Die Berliner Gerontopsychologin Eva-Maria Kessler befasst sich mit dieser Form des Ageismus: zum einen transportiert die Gesellschaft Erwartungen an ältere Menschen, dass sie körperlich und geistig aktiv bleiben und niemandem zur Last fallen sollen. Die Utopie führt zur Dystopie eines Ageismus, den ältere Menschen schließlich „gegen sich selbst richten, die Überzeugung, dass man im Alter nichts mehr wert ist, nichts mehr kann“, so Kessler im IMABE-Interview (11. Juni 2025).

Von der Fürsorgepflicht zur Sterbepflicht

Die Rhetorik vom „würdevollen Sterben“ und der „freien Entscheidung“ verschleiert, dass hinter Suizidwünschen von Senioren oft nicht selbstbestimmte Überzeugung steht bis hin zu nicht entdeckten oder behandelte Depressionen. In Belgien machen laut offiziellen Zahlen bereits 26,8 Prozent aller Euthanasiefälle Pensionisten aus, die an normale Begleiterscheinungen des Alterns leiden. Dazu zählen eingeschränkte Mobilität, Inkontinenz, nachlassendes Seh- und Hörvermögen oder Einsamkeit nach dem Verlust von Angehörigen.

Die Ausweitung der Kriterien für „Sterbehilfe“ auf Menschen ohne schwere terminale Erkrankungen, wird von Sterbevereinen wie Exit propagiert, aber auch von der stimmenstärksten Partei in den Niederlanden: Sie will seit Jahren die „Letzte-Wille-Pille“ für alle Menschen ab 75 Jahren einführen, auch Gesunde. In Kanada sind „sinnloses Leben“ und „Einsamkeit“ berechtigte Gründe für Tötung auf Verlangen. (Bioethik aktuell, 2. August 2020)

Die Fürsorgepflicht der Gesellschaft mutiert stillschweigend in die Sterbepflicht des Individuums. Damit werden die Grundlagen menschlicher Solidarität ins Gegenteil verkehrt. In einer humanen Gesellschaft ist nicht der Alte verpflichtet, sich aus der Gemeinschaft zu verabschieden, sondern die Gemeinschaft verpflichtet, für ihre schwächsten Glieder zu sorgen.

Utilitaristisches Menschenbild: Sterbehilfe als ökonomische Agenda?

Ökonomische Überlegungen mischen sich immer offener in die Debatte. Der 38-jährige Japaner Yasuke Narita, Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der amerikanischen Eliteuniversität Yale, hat Anfang 2023 medienwirksam vorgeschlagen, dass die ältere Bevölkerung in Japan Massensuizid begehen sollte. Seine Begründung: Er sieht die Volkswirtschaft durch die überalterte Gesellschaft bedroht. IMABE-Interview (11. Juni 2025) 

Der belgische Gesundheitsmanager Luc Van Gorp, Vorsitzender der größten belgischen Gesundheitskasse „Christelijke Mutualiteiten", schlug 2024 vor, dass „lebenssatte“, jedoch ansonsten gesunde Menschen sollten den Anspruch haben, auf Wunsch getötet zu werden. Angesichts der demographischen Entwicklung – bis 2050 soll sich die Zahl der über 80-Jährigen in Belgien auf 1,2 Millionen verdoppeln – sieht Van Gorp in der Euthanasie eine Lösung für Personalknappheit und steigende Kosten im Gesundheitssystem. (Bioethik aktuell, 24. April 2024) Auch in den Niederlanden wurden 2024 offiziell bereits 9.958 Menschen gemeldet, die auf Wunsch durch Tötung starben – zehn Prozent mehr als im Vorjahr, das sind 27 Personen pro Tag. Mehr als 70 Prozent der Betroffenen waren älter als 70 Jahre.

In Kanada hatten Ökonomen bereits 2017 errechnet, wie viel Geld sich das Gesundheitssystem durch die Einführung der Tötung auf Verlangen einsparen kann. Wer unter den Folgen von Long-COVID oder einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, gerät mangels Alternativen in den Sog, aktive Sterbehilfe als letzten Ausweg zu wählen – oder wählen zu müssen. Sterbehilfe ist kostengünstiger als soziale Unterstützung oder eine Therapie (Bioethik aktuell, 6. September 2022). Dahinter steht ein zutiefst utilitaristisches Menschenbild: Der Mensch zählt nicht in seiner unveräußerlichen Würde, sondern wird nach einem impliziten Kosten-Nutzen-Kalkül bewertet. Reduziert auf gesellschaftliche „Nützlichkeit“, gerät er unter Druck, sich selbst zu eliminieren, wenn er nicht mehr „beiträgt“.

Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, sieht ein grundlegendes Paradox: Palliative Care wird in Krankenhäusern noch immer viel zu wenig implementiert – nicht, weil sie zu teuer, sondern weil sie zu billig ist. Die spezialisierte Begleitung sterbender Menschen bringt den Kliniken im gegenwärtigen Abrechnungssystem nicht genügend Erlöse, so Melching beim Nationalen Palliative Care Kongress Ende November 2025 in der Schweiz.

Studien belegen: Palliativmedizin kann tatsächlich Kosten senken, indem unnötige Krankenhausaufenthalte und intensivmedizinische Maßnahmen am Lebensende vermieden werden. Doch das erfordert politischen Willen und strukturelle Veränderungen im Gesundheitssystem. Die Alternative – die Ausweitung von assistiertem Suizid aus Kostengründen – wird öffentlich kaum thematisiert, obwohl sie de facto die preiswertere „Lösung“ darstellt. Der Zürcher Kantonsrat entschied indessen kürzlich, dass private Alters- und Pflegeheime nicht dazu gezwungen werden dürfen, Sterbehilfe-Organisationen in ihren Räumen zuzulassen (Swissinfo, 30. Oktober 2025). Die Mehrheit der vorbereitenden Kommission lehnte eine entsprechende Volksinitiative ab und verwies auf den Respekt vor der Unternehmensfreiheit.



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