Regensburg, 27. Januar 2025
In seinem Vortrag „Auf der Suche nach dem Frieden“, den Romano Guardini (1885-1968) im Jahr 1948 an der Pariser Universität Sorbonne gehalten hat, entfaltet der bedeutende Theologe und Religionsphilosoph eine grundlegende Kritik am sogenannten neuzeitlichen Menschenbild und ein deutliches Plädoyer für das christliche Menschenbild.
Der Mensch als Geschöpf Gottes
In der Geschöpflichkeit und der damit verbundenen Gottesbeziehung des Menschen ist das entscheidende Element des christlichen Menschenbildes zu sehen. In der biblischen Offenbarung hat sich jener Gott zu erkennen gegeben, der in reiner Freiheit – als Schöpfer der Welt – in allem Irdischen wirkt. Dieser Gott, den Judentum und Christentum verkünden, ist der Herr der Geschichte. In der Moderne ist jedoch der Wille des Menschen vorherrschend geworden, sich von Gott zu lösen und die absolute Herrschaft über das Dasein zu beanspruchen. Aufgrund dieses gewaltigen philosophischen Umbruchs in der Neuzeit ändert sich auch der Charakter der menschlichen Verantwortung. Im Verständnis Guardinis kann Verantwortung nur in personaler Weise wahrgenommen werden – „im Letzten vom Menschen zu Gott“ (R. Guardini, Auf der Suche nach dem Frieden [1948], in: derselbe, Sorge um den Menschen. Bd. 2, Mainz 1989, S. 11). Die dem Menschen kraft seiner Gottebenbildlichkeit zukommende Möglichkeit der Weltgestaltung entspricht dem Willen Gottes, sofern der Mensch als Geschöpf ein Hörender vor Gott ist.
Der Sündenfall am Anfang
Als Konsequenz des Sündenfalls am Anfang der Menschheitsgeschichte nimmt der Machtgebrauch des Menschen einen tragischen Charakter an. Der entscheidende Aspekt der menschlichen Existenz besteht in ihrer Gottbezogenheit. Der Mensch ist „auf etwas bezogen, das über ihm steht. Er existiert über sich hinaus“ (ebd., S. 14). Durch den Sündenfall im Paradies, der die ganze Menschheit betrifft, ist die Gottesbeziehung des Menschen jedoch radikal erschüttert worden.
Unabhängigkeit des Menschen von Gott?
Das neuzeitliche Bewusstsein hat den Menschen fälschlicherweise als natürliches Wesen bestimmt, das „grundsätzlich in Ordnung ist, in Übereinstimmung mit sich selbst und mit dem Ganzen der Natur“ (ebd.). In diesem Menschenbild wird die Unabhängigkeit des Menschen von Gott (Autonomie) zur „Grundlage der Daseinsbestimmung“ (ebd., S. 15). Einflussreiche Denker der Neuzeit betrachten die Loslösung des Menschen von Gott als dem „Herrn des Daseins“ als den entscheidenden Fortschritt dieser Epoche. So behauptet z. B. Bernulf Kanitscheider (1939-2017), der sich mit wissenschaftstheoretischen Problemen der Naturwissenschaft befasst hat, die Wissenschaft decke „immer stärker“ die Zugehörigkeit des Menschen zur Welt auf und komme „mit den Sondervorstellungen der abendländischen Hochreligionen in Konflikt“. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang freilich, dass der atheistisch gesinnte Naturphilosoph Kanitscheider angesichts dieser Situation „keinen anderen Weg“ sieht, als dem philosophischen Skeptiker „eine Art Psychotherapie des Sinnverlustes“ (B. Kanitscheider, Auf der Suche nach dem Sinn, Frankfurt a. M. 1995, S. 124) zu empfehlen.
Von Gott gerufen
Guardinis Analyse der neuzeitlichen Bewusstseinslage gipfelt in der Feststellung, dass der Mensch nicht das ist, „als was er in der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie erscheint“ (Sorge um den Menschen, S. 15). Das neuzeitliche Menschenbild ist schlichtweg „falsch“. Das ausschlaggebende Defizit dieses Menschenbildes besteht darin, dass der Mensch aus seiner Gottesbeziehung herausgelöst wird. Die entscheidende Dimension des Menschen liegt jedoch in seinem Personsein, d. h. in seinem „Angerufensein durch Gott“. Die menschliche Person besteht in ihrer Beziehung auf das hin, „was über ihr ist. Person ist die Tatsache des Angerufenseins durch Gott“ (ebd., S. 17).
Angst als Folge eines falschen Menschenbildes
Die „gespenstische Macht des Nichts“, wie sie dem modernen Menschen zu Bewusstsein kommt, beweist, dass die Fortschrittsideologie – jenes gefährliche Dogma des modernen Menschen – in ihren Grundfesten erschüttert ist. Anders als die mittelalterlichen Philosophen, die imstande waren, von der Beschreibung des Menschen und der Welt zur Anbetung Gottes überzugehen, erfährt der moderne „Existentialist“ (philosophische Richtung des 20. Jahrhunderts) das Ganze des Seins als zutiefst bedroht. In seiner Auseinandersetzung mit dem durch Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Albert Camus (vgl. Heinz-Robert Schlette [Hg.], „Mein Reich ist von dieser Welt.“ Das Menschenbild Albert Camus`, Stuttgart 2000) vorherrschend gewordenen atheistischen Existentialismus betont Romano Guardini, dass für den Menschen die Endlichkeit seiner Existenz an sich keine Bedrohung bedeuten muss. Vielmehr „sollte sie als vertrauendes Ruhen in der Hand des Schöpfers, als schönes Freigegebensein durch Gottes Großmut erfahren werden“ (Sorge um den Menschen, S. 22).
Ein jenseitiges Licht im Dasein
Der von den Nationalsozialisten hingerichtete Jesuitenpater Alfred Delp hat darauf hingewiesen, dass sich das auf das Innerweltliche beschränkte Denken des Menschen, sofern kein „jenseitiges Licht“ mehr in sein Dasein fällt, zur Erfahrung der „Nichtigkeit des Daseins“ steigern kann und der Mensch dabei einer grenzenlosen Weltangst verfällt. Delp beklagt den „Schwund des christlichen Selbstbewusstseins“ und eine allgemeine philosophische „Ermüdung“ (vgl. A. Delp, Kirche in Menschenhänden, hg. von Roman Bleistein, Frankfurt a. M. 1985, S. 54). Die Endlichkeit der Welt und des Menschen ist – auf dem Boden des christlichen Welt- und Menschenbildes – durchaus als positives Moment anzusehen. Zu einer negativen, Angst einflößenden Größe wird die Endlichkeit für den Menschen erst, wenn er sich über seine erbsündliche Geprägtheit hinwegtäuscht. „Die Endlichkeit … ist in Widerspruch zu ihrem Ursprung getreten. Nun hat sie ihre Basis verloren und ist ins Ortlose geworfen. Daraus entspringt jene Angst, die im innersten Grunde des Menschen lebt. ... Die Bedrohung, vor der sie sich ängstigt, ist die Tatsache, im Unrecht, im Widerspruch zu Gott und dadurch zu allem Seienden zu stehen“ (Guardini, Sorge um den Menschen, S. 22).
Angst vor der Religion
Auf eine weitverbreitete Angst vor der Religion verweist der amerikanische Philosoph Thomas Nagel: Er selbst sieht sich dieser Angst „in hohem Maße ausgesetzt“. Nagel entdeckt in sich „die Hoffnung, es möge keinen Gott geben“. Diese weitverbreitete Angst vor der „göttlichen Autorität“ sei für einen großen Teil des Szientismus (Wissenschaftsgläubigkeit) unserer Zeit verantwortlich. Nagel bereitet es – so sein Eingeständnis – „Unbehagen, dass einige der intelligentesten und am besten unterrichteten Menschen, die er kenne, im religiösen Sinne gläubig sind“ (Th. Nagel, Evolutionstheoretischer Naturalismus und die Angst vor der Religion, in: ders., Das letzte Wort, Stuttgart 1999, S. 191). Auch der Religionsphilosoph Bernhard Welte kommt in seinen Analysen zu dem Ergebnis, dass die Angst als Grundbefindlichkeit „ein spezifisches Kennzeichen der Neuzeit“ ist. Der Mut zur Angst ist nur zumutbar, wenn der Mensch den Glauben als anfängliche Gabe des Lebens ausdrücklich ergreift, als Glauben an die alles Leben und Sterben umgreifende Macht Gottes. Die tiefsitzende existenzielle Angst ist nur zu überwinden, wenn der Mensch es wagt, auf Gott zu hoffen, d. h. wenn er seine scheinbare Verlassenheit selbst verlässt, um sich in dem zu bergen, der alles in Händen hat (vgl. B. Welte, Gott und das Nichts. Entdeckungen an den Grenzen des Denkens, Frankfurt a. M. 2000, S. 138 und149). In seiner Kritik des neuzeitlichen Menschenbildes verweist Guardini mit Nachdruck auf den tiefgründigen Zwiespalt des menschlichen Wesens. Der Mensch hat eine Neigung zum Guten und zum Bösen, zum Vernünftigen und zum Unvernünftigen, zum Sinnvollen und zum Unsinnigen. Der evangelische Theologe Gerhard Ebeling (Das Wesen des christlichen Glaubens, Freiburg 1993, S. 114) beschreibt die Empörung des Menschen gegen Gott so: „Der Mensch wünscht im Grunde seines Herzens, dass Gott nicht sei.“
Verantwortung wahrnehmen im Angesicht Gottes
Auf der Grundlage seines Nachdenkens über den Menschen fordert Romano Guardini, der Mensch müsse den „Mut zur Wahrheit“ haben. Angesichts der ambivalenten Tendenzen im Menschen (Neigung zum Guten und zum Bösen) und der im 20. und 21. Jahrhundert enorm gewachsenen Machtfülle des Menschen ist die Wahrnehmung einer „neuen Verantwortung“ dringend erforderlich. Die ins Unermessliche gestiegene Macht des Menschen muss in einer von Gott her gebauten Ordnung Maß nehmen. Kardinal Lehmann gibt zu bedenken, dass das Weltverhältnis des Menschen auf den positiven Momenten einer neuen Askese beruhen muss, um nicht in „Weltsüchtigkeit“ abzugleiten. Die positiven Aspekte des Verzichtes sind heute „sehr schwer zu vermitteln“. Diese Vermittlung ist aber – quasi als menschliche „Vorerfahrung“ des Glaubens – unabdingbar (vgl. K. Lehmann, Es ist Zeit, an Gott zu denken, Freiburg 2000, S 22-26). Insofern kommt der Gottesfrage heute auch in politischer Hinsicht eine entscheidende Bedeutung zu. Das fatale Verhältnis des Menschen des 20. Jahrhunderts zur Macht deutet Guardini als Folge des neuzeitlichen Menschenbildes. Im entscheidenden Punkt stimmen das liberal-bürgerliche, das totalitäre und das existentialistische Menschenbild überein: Sie „lösen den Menschen von Gott los; sie stellen ihn in seine eigene Macht und geben ihm die Welt in die Hand. Dadurch verliert er die Höhe über sich und ist den innen und außen wirkenden Kausalitäten ausgeliefert“ (Sorge um den Menschen, S. 27).
Mut zur Wahrheit
Den von Romano Guardini geforderten Maßstab der Wahrheit („Mut zur Wahrheit“) hat schon der antike Philosoph Seneca in den Blick genommen: In seinem 62-65 nach Christus verfassten Werk „Moralische Briefe an Lucilius“ gibt der römische Philosoph zu bedenken, dass der Mensch auf das Wahre ausgerichtet sein muss. Wer sich auf die öffentliche Meinung, „diese unbeständigste aller Führerinnen“, verlässt, ist außerstande, zu irgendeiner „Klarheit“ zu gelangen (vgl. Seneca, Von der Seelenruhe, hg. und übersetzt von H. Berthold, Augsburg 1997, S. 366). Die Freiheit des Menschen besteht – so Seneca in seiner Schrift „Vom glücklichen Leben“ – im „Gehorsam gegenüber der Gottheit“ (ebd., S. 158). In ähnlicher Weise verweist Christoph Kardinal Schönborn auf die das Innerweltliche überschreitende Bestimmung des Menschen. Der Religion kommt „die für das Wohl der Demokratie unerlässliche Funktion“ zu, jene den Staat überschreitende Offenheit des Menschen zu bezeugen, die die Person mehr sein lässt als nur einen Zweck für das Ganze des Gemeinwesens. Demokratie kann ohne den transzendenzoffenen Freiraum der Religion auf Dauer nicht gelingen. Die nachaufklärerische Gesellschaft lebt „bis heute“ von einem christlichen Fundament an Ideen und Haltungen, das – „verblasst und verschüttet“ – unersetzlich weiterwirkt. Das Christentum erweist sich in Europa als „Heilmittel“ gegen die durch Sinnleere, Werteverlust und Gemeinschaftsverdrossenheit verursachte gesellschaftliche Krise (vgl. Chr. Schönborn, Die Menschen, die Kirche, das Land, Wien 1998, S. 83-88).
Der entscheidende Punkt
Romano Guardini hat in seinem Pariser Vortrag von 1948 mit großer Klarheit grundlegende Einsichten über das Menschsein formuliert: „Hier liegt der entscheidende Punkt. Der Mensch muss wieder in die Ordnung treten. Die Ordnung geht primär zu Gott dem Schöpfer, Herrn und Richter. Der Gehorsam gegen Ihn bildet den Kern aller Ordnung. Von daher kann der Mensch auch Ordnung schaffen in sich selbst, zwischen seiner Macht und seinem Leben, denn im Verhältnis zum Herrn der Welt hat er den archimedischen Punkt, auf den er sich stellen kann. Und diesen Herrn der Welt hat er dabei zum Bundesgenossen. Gott ist nicht nur die höchste Idee, sondern Wirklichkeit. ... Gott ist im Begriff, eine Geschichte zu führen, und der Mensch, der an ihn glaubt, tritt in das Einvernehmen mit seinem Willen“ (Sorge um den Menschen, S. 27).
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Leiter der Hauptabteilung Orden und Geistliche Gemeinschaften im Bistum Regensburg
(kw)