Philosoph Vittorio Hösle im Interview
Über das Unbehagen an der Wahrheit
Regensburg, 8. August 2024
Prof. Dr. Vittorio Hösle hat bei dem Akademischen Forum Albertus Magnus in Regensburg über die Wahrheitsfrage gesprochen. Zuvor kam er in die Redaktion der Katholischen SonntagsZeitung, wo ihn Karl Birkenseer und Veit Neumann interviewten. Es ging auch in diesem Interview um die Frage nach der Wahrheit, besonders mit Blick auf die USA.
Wie geht unsere heutige Zeit mit der Akzeptanz absoluter Wahrheiten um? Warum ist es für manche schwer und für manche geradezu skandalös, an objektive Wahrheiten zu glauben und anzuerkennen, dass sich jemand damit beschäftigt? Warum wird die Wahrheit aktuell von vielen als Zumutung empfunden?
Teilweise sind es historische Erfahrungen. Das dogmatische Festhalten an Wahrheiten hat zu massivem Unrecht geführt. Die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sind hier wichtig. Die meisten Philosophen der Postmoderne waren frustrierte Marxisten. Sie hatten besonders mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, aber auch schon zuvor verstanden, dass die Ideologie, die alles zu erklären schien, der Marxismus, überhaupt nicht funktionierte. Statt zu sagen: Wir müssen nach einer plausibleren Weltanschauung suchen, sagten sie: Jede Suche nach der Weltanschauung ist totalitär.
Reicht dieses historische Argument aus, um die Ablehnung von Wahrheitsansprüchen zu verstehen?
Tatsächlich gibt es die gesteigerte Wahrnehmung der Fehlbarkeit, auch der Fehlbarkeit in der Wissenschaft. Denken wir nur an die Newtonsche Physik. Anfang des 20. Jahrhunderts hat sie sich als nicht richtig herausgestellt, auch wenn die Newtonsche Theorie eine großartige Leistung des menschlichen Geistes ist und zum Beispiel für den Mesobereich und für Geschwindigkeiten im normalen Bereich eine hervorragende Annäherung bietet.
Geht es allein um physikalische Wahrheiten?
Moralische Wahrheiten schreiben uns vor, wie wir leben sollen. Das scheitert häufig an einem außerordentlichen Freiheitswillen, eben an dem Wunsch, den eigenen Weg zu gehen, sich von niemandem etwas dreinreden zu lassen. Dahinter steht der Egalitarismus, der heute einflussreich ist, wonach jede Meinung gleich zu sein hat. Sonst gilt man schon als undemokratisch. Diese Tendenz zur Gleichheit ist ein wesentlicher Grund für das Unbehagen an der Wahrheit.
Seit einigen Jahren erleben wir, besonders in den USA, aber auch in Europa, dass verschiedene Politiker autoritative Politikmodelle in ihren Köpfen tragen und sie teilweise schon umgesetzt haben. Es ist der Ausdruck „Fake news“ entstanden, teilweise von Donald Trump als Vorwurf an die ihn ablehnende Welt formuliert. Als er US-Präsident war, hat er aber selbst immer neue „Wahrheiten“ erfunden, die keine waren, sondern nachweisbar unwahre Behauptungen. Wieso kann der Mann sich bei seinen Anhängern trotz oder sogar durch Fake news salonfähig machen?
Der allgemeine Wahrheitsskeptizismus scheint zunächst von der Gefahr totalitärer Indoktrinierung zu befreien, aber in Wahrheit ist die Überzeugung, dass es keine Wahrheit gibt, der kürzeste Weg zum Totalitarismus, denn wenn es überhaupt keine Wahrheit gibt, dann geht es ja nur um die Macht, mit der sich Überzeugungen beim Menschen durchsetzen lassen. Dann kommt es überhaupt nur darauf an, Macht zu erringen, um die eigenen Ideen anderen möglichst lautstark „beizubringen“. Ich glaube, dass Trump, wenn er ständig lügt, überhaupt kein schlechtes Gewissen hat, weil er eben nicht glaubt, dass es Wahrheit gibt. Es geht nur darum, durch die Verbreitung der eigenen Lügen erfolgreich zu sein. Wir alle wissen, dass selbst unplausible Behauptungen, wenn man sie nur häufig genug hört, mit der Zeit an Glaubwürdigkeit gewinnen, weil sie sich tiefer in den Geist einsenken.
Welche Rolle spielen dabei Medien?
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine große Veränderung in der Medienwelt vollzogen. In Regensburg las man in meiner Jugend die „Mittelbayerischen Zeitung“, es kamen die „Süddeutsche“ und die „Frankfurter“ dazu. Man war keineswegs immer einverstanden mit dem Meinungsteil der Zeitung, aber man hatte ein Grundvertrauen in die berichteten Tatsachen, auch weil man eben Zeitungen hatte, die von den meisten Menschen im Umfeld gelesen wurden. Das ist zusammengebrochen. Menschen bekommen ihre Informationen durch den Newsfeed und wählen bestimmte Medien aus, die nur das sagen, was sie schon glauben. Sie sind in einer Blase. Menschen leben dann in ganz unterschiedlichen Echokammern. Aber man weiß abstrakt, dass andere etwas ganz anderes sagen. Dann sagt derjenige in der Blase, das sind eben Lügen, Fake news. Damit hat man sich gegen jede Kritik immunisiert. Der Wahrheitsanspruch der anderen Seite wird von vornherein nicht ernst genommen. Das ist ein absolutes Gift für die Demokratie.
Sie fordern, dass sich alle ernstzunehmenden Politiker, die eine Nation führen oder die in der EU, in Amerika oder wo auch immer tätig sind, im Gegenteil zu dem Geschilderten an der Wahrhaftigkeit orientieren und dies auch umsetzen. Sie schlagen Eliteschulen für solche Menschen in politischer Verantwortung vor. Ist das zu idealistisch gedacht?
Ich wünsche mir, dass Politiker nicht lügen. Aber ich bin nicht so naiv zu sagen, dass Politiker alles sagen sollen, was sie für wahr halten. Sie sollten nichts von dem sagen, von dem sie wissen, dass es falsch ist. Doch das heißt nicht, dass sie alles sagen sollen oder auch nur alles sagen können, was sie für wahr halten. Bei der Wahrhaftigkeit gibt es Einschränkungen. Was jedoch die Wahrheit angeht, so ist ein Politiker nur dann moralisch ernst zu nehmen, wenn seine Entscheidungen auf den richtigen Werten und auf einer kompetenten Einschätzung der Wirklichkeit basieren. Wir alle sind zwar fehlbar. Es gibt jedoch methodische Vorgaben, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir uns nicht irren, und an diese muss sich ein Politiker halten.
Und die Mehrheiten, auf die ein Politiker angewiesen ist?
Ein Politiker muss tatsächlich auch Mehrheiten zusammenbringen. Es kann sehr wohl sein, dass bestimmte Normen, die an sich richtig sind, im Augenblick nicht vermittelbar sind. Dann teilt sie der Politiker noch nicht mit. Zentral ist, dass er unterscheiden und vermitteln kann zwischen dem, was das Gemeinwohl erfordert, und dem, was er unter den gegenwärtigen Bedingungen durchsetzen kann. Unerträglich ist es, wenn der Politiker die Frage nach dem Gemeinwohl gar nicht mehr stellt. Die Fähigkeit, Machtkämpfe zu bestehen, ist zwar ein wichtiger Teil der Politik, aber sie darauf zu reduzieren, ist moralischer Suizid.
Trump wird möglicherweise den Machtkampf, nachdem er ihn in seiner Partei schon gewonnen hat, amerikaweit als demnächst neuer Präsident gewinnen. Erwarten Sie, dass er die Dinge, die er jetzt ankündigt, wahr macht und den Rechtsstaat kippt? Was würde das für den Rest der Welt bedeuten?
Trump wird jetzt ernst machen, wenn er an die Macht kommt. In der ersten Amtszeit hat er zwar einige schlechte Entscheidungen getroffen, aber bei weitem nicht all das durchsetzen können, was er durchsetzen wollte, weil zum Beispiel einige hervorragende Leute im Kabinett saßen. Jetzt werden wir ausschließlich Jasager im Kabinett haben. Damit jemand überhaupt in die Regierungsmaschinerie aufgenommen werden kann, wird derzeit vom Trump-Team immer erst im Internet gecheckt, ob er irgendwann irgendetwas Negatives über Trump gesagt hat. Kurz, wir werden einen mit großer krimineller Energie betriebenen Versuch erleben, dank höriger Gefolgsleute die Macht des Präsidenten auf alle möglichen Bereiche auszuweiten.
Wie ist Widerstand möglich?
Auf zwei Ebenen kann der Widerstand ansetzen. Von der horizontalen Gewaltenteilung erwarte ich mir allerdings nicht viel. Es wird viel davon abhängen, ob die Republikaner die Mehrheit in beiden Kammern haben. Falls das eintritt, sehe ich sehr schwarz, denn es sind auch innerhalb der republikanischen Partei Trump-Fans selektiert worden. Die Bundesstaaten stellen die vertikale Gewaltenteilung dar. Es ist nicht einfach, einen Bundesstaat wie Kalifornien, der als unabhängiger Staat die fünfte Wirtschaftsmacht der Welt wäre, zu unterwerfen. Schließlich gibt es Verfassungstraditionen. Aber es ist insgesamt eine sehr gefährliche Situation.
Was wird das für die Welt bedeuten?
Die USA sind das große Vorbild der westlichen Demokratien, das den deutschen Nationalsozialismus besiegt und den sowjetischen Totalitarismus von weiterer Expansion abgehalten hat. Wir werden nun sehen, ob die Europäische Union in der Lage ist, die USA zu vertreten und mit realer Machtausübung das Prinzip der Demokratie zu verteidigen. Das ist bei weitem nicht garantiert. Wir haben jeden Grund, uns große Sorgen zu machen. Wenn Trump die Wahlen knapp verlieren würde, würde er die Niederlage nicht anerkennen. Wird es dann zu einer wesentlich größeren Gewaltexplosion kommen als der, die am 6. Januar 2021 stattgefunden hat?
Es geht um Macht und um Machtkonflikte. Wie steht es um die Gegenseite zu Trump, was die Wahrheitsfragen betrifft? Ist hier eine größere Wahrheitsliebe oder zumindest Wahrhaftigkeitsliebe vorhanden?
Ich bin kein Mitglied einer Partei in den USA, denn ich kann mich mit keiner Partei in den USA identifizieren. Die eigentliche Gefahr für die Demokratie kommt aber heute eindeutig von Trump. Biden steht auf dem Boden der amerikanischen Verfassung. Ich bin nicht einverstanden mit allem, was er tut, auch und gerade nicht mit seiner Einstellung zur Abtreibung, aber die Demokraten sind das weitaus geringere Übel als die Republikaner, wie sie heute sind. Das war aber nicht immer so. Die Republikaner haben sich enorm verändert. George H. Bush senior konnte rational und vernünftig argumentieren. Was wir jetzt unter Trump erleben, ist das absolute Gegenteil davon. Warum das passiert ist, das ist eine lange Geschichte.
Nochmals zum zentralen Thema der Wahrheit. Joseph Ratzinger sprach von der Diktatur des Relativismus. Tatsächlich gibt es Tendenzen, die uns verbieten wollen, überhaupt nach der Wahrheit zu fragen. Schon das wird skandalisiert. Wie sehen Sie das mit Blick auf Ratzinger?
Joseph Ratzinger hat sehr zu Recht gesehen, dass die Untergrabung des Glaubens an Wahrheit die Freiheit nicht fördert, sondern gefährdet. Vernünftige Liberale sollten sich diese Untergrabung nicht bieten lassen und die These zurückweisen, im Prinzip sei alles sozial konstruiert, etwa auch das Geschlecht.
In der Wissenschaft und in der Politik gibt es verschiedene Bedrohungsformationen, was die Wahrheit angeht: den Turbo-Individualismus oder -Subjektivismus, aber auch den religiösen Fanatismus, zum Beispiel mit Blick auf die Evolutionsbiologie. Wie sehen Sie diese Phänomene?
Solche Phänomene, auch wenn sie inhaltlich entgegengesetzt sind, stützen einander. Fundamentalistische Ideologien fühlen sich durch den allgemeinen Relativismus außerordentlich verunsichert. Sie wollen ein Weltbild haben, in dem alles schwarz auf weiß steht, was wahr ist. Das kann z.B. der Glaube an die Unfehlbarkeit der Bibel sein. Deswegen bestreiten solche Ideologen Fakten wie die Evolution. Das ist hochgefährlich und fördert den Trugschluss, wer wissenschaftlich denkt, könne nicht religiös sein.
Papst Benedikt hat ein sehr optimistisches Konzept von Glaube und Vernunft: dass sie miteinander vereinbar und aufeinander angewiesen sind. Schließen Sie daran bei Ihrem Konzept „Gott ist Vernunft“ an, oder ist das Ihrerseits eine Weiterentwicklung?
Diese Frage betrifft vor allem das Verhältnis von Philosophie und Theologie, die ursprünglich als Einheit gesehen wurden. Gott sei Dank hat die katholische Kirche die Loslösung der Theologie von der Rationalität nicht mitvollzogen, wie dies bei der Dialektischen Theologie eines Karl Barth der Fall ist. Die Wiederaufwertung der rationalistischen Tradition in der katholischen Theologie, etwa durch die Enzyklika „Fides et Ratio“ von Johannes Paul II., ist mir sehr sympathisch.
Der Gesprächspartner:
Vittorio Hösle wurde 1960 in Mailand geboren und kam mit acht Jahren nach Regensburg, wohin sein Vater an die Universität berufen wurde. 1977 legte er das Abitur am Albertus-Magnus-Gymnasium ab. In Tübingen folgten 1982 Promotion und 1986 Habilitation. Seit 1999 unterrichtet Hösle Philosophie an der katholischen Privatuniversität Notre Dame in Indiana. Wegen der wesentlich besseren Arbeitsbedingungen dort schlug er einen Ruf an die Universität Regensburg aus. Mit einem Vermögen von knapp 20 Milliarden Dollar ist Notre Dame die siebtreichste Universität in den USA und die reichste Katholische Universität weltweit. Hösle schätzt dort, dass die Lehre allgemein von katholischen Prinzipien inspiriert ist. Regensburg bezeichnet er als „wunderbare Stadt“. Man habe hier das Gefühl historischer Kontinuität. Er sei dankbar für die ausgezeichnete Schulbildung, die er hier genoss.
Interview: Prof. Dr. Veit Neumann, Karl Birkenseer (Katholische Sonntagszeitung im Bistum Regensburg), Fotos: Elisabeth Weiten.
(jas)