Maria – Mutter der Barmherzigkeit
Die Natur erwacht zu neuem Leben, die Sonne ringt sich immer häufiger durch die Wolkendecke und es wird langsam wärmer – kein Wunder, wir befinden uns mitten im Wonnemonat Mai. Doch der Mai gilt auch als Marienmonat. Wenn in den vielen Maiandachten das „Salve Regina“ gesungen wird, dann heißt es gleich in den ersten Versen: „Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit“! Doch was bedeutet es, wenn Maria als die Mutter der Barmherzigkeit verehrt wird? Gerade im gegenwärtigen Heiligen Jahr der Barmherzigkeit liegt es nahe, über diese Ehrenbezeichnung der Gottesmutter nachzudenken, meint Diakon Prof. Sigmund Bonk, Leiter des Akademischen Forums Albertus Magnus im Bistum Regensburg. Lesen Sie hier seine Ausführungen.
Mit Maria an der Seite
Zum Einstieg können einige denkwürdige Worte dienen, die der Heilige Vater bei der Öffnung der Heiligen Pforte in Santa Maria Maggiore am 1. Januar 2016 gesprochen hat:
„Mehr denn je ist es angebracht [...] die Jungfrau Maria vor allem als Mutter der Barmherzigkeit anzurufen. Die Heilige Pforte, die wir geöffnet haben, ist tatsächlich eine Pforte der Barmherzigkeit. Wer immer über jene Schwelle schreitet, ist gerufen, voll Vertrauen und ohne irgendwelche Furcht in die barmherzige Liebe des Vaters einzutauchen; und er kann von dieser Basilika mit der Zuversicht – mit der Zuversicht! – wieder fortgehen, dass Maria ihn an seiner Seite begleitet. Sie ist die Mutter der Barmherzigkeit, denn sie hat in ihrem Schoß das Antlitz der göttlichen Barmherzigkeit geboren, Jesus, den Emmanuel, Erwartung aller Völker und „Fürst des Friedens“ (Jes 9,5). Der Sohn Gottes, der zu unserem Heil Fleisch annahm, hat uns seine Mutter geschenkt. Zusammen mit uns wird sie zur Pilgerin, um uns auf dem Weg unseres Lebens nicht allein zu lassen, vor allem in den Augenblicken der Unsicherheit und des Schmerzes […] Wir kennen Maria als Vermittlerin der göttlichen Barmherzigkeit und rufen sie im „Salve Regina“ als Mutter der Barmherzigkeit an. […] Im „Salve Regina“ beten wir weiter „wende deine barmherzigen Augen uns zu“. Wir sind dann sicher, dass die himmlische Mutter uns anschaut und all’ unsere Leiden, Enttäuschungen und Sünden sowie das ganze Elend unserer Seele erkennt, noch bevor wir darüber zu ihr gesprochen haben.“
Salve Regina!
Das wundervolle Gebet bzw. die ehrwürdige Antiphon „Salve Regina“ ist ein lateinischer spiritueller Text, der noch vor dem großen Schisma 1054 entstanden ist und der traditionell Hermann von Reichenau, einem Benediktiner der bekannten Abtei auf der Bodensee-Insel, zugeschrieben wird. Es passt auch zu einem Menschen mit einer Behinderung, dass er von dieser Welt als von einem „Tal der Tränen“ spricht. Die letzten Anrufungen des Gebets (o clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria) sind indessen ein späterer Zusatz, den, einer alten Überlieferung gemäß, kein Geringerer als der hl. Bernhard von Clairvaux angefügt haben soll. Wer in der ehemals bayerischen Stadt Speyer den sogenannten Kaiserdom betritt und über den Mittelgang auf den Chor zugeht, stößt auf mächtige in den Boden eingelassene Lettern – zunächst auf „O CLEMENS“, dann auf „O PIA“, zehn Meter weiter auf O DULCIS“ und schließlich auf „VIRGO MARIA“. Der Überlieferung nach war es der genannte hl. Bernhard, der 1146 den Dom besuchte und im Abstand von mehreren Schritten jeweils einen solchen Jubelruf auf die Gottesmutter intoniert hat. Die genauen Stellen hat man später mit den besagten Lettern aus Messing gekennzeichnet. Die Geschichte der deutschen Übersetzungen bzw. Übertragungen des „Salve Regina“ – und die der Ergänzungen – ist in wenigen Worten nicht wiederzugeben. Es spielt darin aber der in unserer Diözese wohlbekannte Aufhausener Oratorianerpriester Johann Jakob Seidenbusch keine unerhebliche Rolle, der 1687 für seinen Wallfahrtsort ein bald darauf weit verbreitetes „Salve Regina“ in nicht weniger als dreizehn Strophen geschrieben hat.
Papst Franziskus betet das „Salve Regina“ oft und gerne. Die authentische tiefe Marienfrömmigkeit gehört insgesamt zu den eindrucksvollsten Eigenschaften unseres Heiligen Vaters. Und Marienfrömmigkeit ist ja so alt wie die Kirche selbst! Im Evangelium sagt Maria ja von sich: „Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter (Lk 1,48)“. Das „von nun an“ besagt den Zeitpunkt der Empfängnis durch den Hl. Geist, die Menschwerdung Gottes in Christus Jesus. Papst Franziskus bemerkt dazu in seiner Ankündigungsbulle zum gegenwärtigen Heiligen Jahr mit dem Titel „Misericordiae vultus“ (11. April 2015): „Kein anderer hat so wie Maria die Tiefe des Geheimnisses der Menschwerdung Gottes kennengelernt. Ihr ganzes Leben war geprägt von der Gegenwart der fleischgewordenen Barmherzigkeit. Die Mutter des Gekreuzigten und Auferstandenen ist eingetreten in das Heiligtum der göttlichen Barmherzigkeit, denn sie hatte zutiefst Anteil am Geheimnis seiner Liebe.“
„Mutter der Barmherzigkeit“ – diese Ehrenbezeichnung der Gottesmutter kann offenbar auf zweifache Weise verstanden werden, je nachdem, worauf sich „Barmherzigkeit“ bezieht. Darunter kann in diesem Zusammenhang sowohl die göttliche Gnadengabe der Sündenvergebung verstanden werden als auch der Sohn Gottes selbst, die Mensch gewordene Barmherzigkeit, das „Antlitz der göttlichen Barmherzigkeit“ (Eröffnungsansprache vom 1. Januar 2016: s.o.), das „Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters“ (Misericordiae vultus, Abschn. 1).
Maria – Mittlerin der Gnaden
Bleiben wir zunächst bei dem Verständnis „Gnadengabe“. Maria, „voll der Gnade“, hatte Gottes Erbarmen auf ganz einmalige Weise erfahren. Schon von ihrer Empfängnis an stand sie unter dem ganz besonderen Schutz des Höchsten. Wie keinem anderen Menschen sonst ist gerade ihr geschenkt worden, dem Sohn Gottes nahe zu sein und ihn auf seinem Lebensweg zu begleiten. Keiner dürfte ihn je besser gekannt und verstanden haben als seine Mutter. Damit hing auch zusammen, dass ihre Weise zu leben und zu glauben durchaus auf seine Vorstellungen abgestimmt gewesen sein dürfte. Ihre Vorbildlichkeit für unseren Glauben steht damit ganz außer Frage. Intensiver und länger als irgendjemand sonst hat Maria insbesondere auch von der Weisheit ihres göttlichen Sohnes profitiert. Und diese dürfte ganz auf eine solche Weise in ihrer Seele Wurzeln gefasst, aufgekeimt und dort gewachsen sein, wie es Jesus in seinem Gleichnis vom Sämann beschrieben hat: „Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät, dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie (Mk 4,26f.)“.
„Samen(körner)“ – das sind die Worte voll Güte und Weisheit, die vom göttlichen Sämann am Anfang des Reiches Gottes ausgestreut werden, und der „Acker“, das ist die Seele des Menschen. Die reine Seele Mariens wurde mit himmlischer Barmherzigkeit, Güte, Liebe und Weisheit weit intensiver bedacht als jede andere, denn „der Herr ist mit (dir) ihr“. In keiner anderen als in ihrer von jeder Sünde unbefleckt gebliebenen Seele konnte Gottes Wort besser und schöner gedeihen. Damit wuchs auch die Barmherzigkeit tief, stark und reich, so dass Maria selbst – das Herz Mariens – zu einer mit dem Sohn verbundenen mächtigen Gnadenquelle hatte werden können. Und wie viele Menschen haben im Laufe der vergangenen zweitausend Jahre nicht von dieser Quelle getrunken und sich daran gelabt! Unter Mariens Schutzmantel sind sie alle zusammen gekommen, hier fanden sie, was sie alle suchten: eine immer hilfreiche Mittlerin der Gnaden, eine Heilquelle barmherziger Vergebung.
Maria – Mutter der Fleisch gewordenen Barmherzigkeit
Wenn Jesus aber selbst – wie etwa von der hl. Faustyna, dem hl. Johannes Paul II. und auch von Papst Franziskus – als Mensch oder „Fleisch“ gewordene Barmherzigkeit verstanden wird, so erhält die Bezeichnung „Mutter der Barmherzigkeit“ auch noch eine andere, sogar noch unmittelbarere Bedeutung. Maria ist, so besehen, die Mutter Jesu, die Frau also, der die ganz singuläre Gnade zuteil geworden ist, die göttliche Barmherzigkeit selbst gebären und ins Leben geleiten zu dürfen. Dass sie dazu, gemäß dem ewigen Ratschluss Gottes, das geeignete geistliche Gefäß gewesen ist, sollte außer Frage stehen. Und dies ebenso wie der weitere Umstand, dass Jesus selbst – ebenso wie er die Wahrheit (vgl. Joh 14,6) – er auch die Barmherzigkeit ist. Kurze Hinweise auf Jesu zahlreiche Heilungen (z.B. Mt 9,27ff.), Auferweckungen von den Toten (z. B. Lk 7,13ff.) sowie auf sein Erlösungswerk und den Sühnetod insgesamt (z.B. Lk 23,48) sollten hier zur Erinnerung genügen.
In den Gesichten, die der hl. Faustyna geschenkt worden sind, sagt Jesus von sich selbst zum wiederholten Male: „Ich bin ganz Liebe und Barmherzigkeit“ (vgl. in „Das Tagebuch der Schwester Faustyna Kowalska“, üb. von Lucia Zajaczek, Hauteville in der Schweiz 1990, z. B. die Eintragsnummern 1074, 1273, 1485, 1486, 1775).
Nummer 1485 lautet: „Jesus [sagte]: Meine Barmherzigkeit ist größer als dein Elend und das Elend der ganzen Welt. Wer kann Meine Güte ermessen? Für dich bin Ich vom Himmel auf die Erde herab gekommen, für dich habe Ich Mich an das Kreuz nageln lassen; für dich ließ Ich mit der Lanze Mein Heiligstes Herz öffnen und somit öffnete Ich für dich die Quelle der Barmherzigkeit. Komme und schöpfe mit dem Gefäß des Vertrauens Gnaden aus dieser Quelle. Ein demütiges Herz weise Ich niemals zurück. Dein Elend versank [jetzt bereits] im Abgrund meiner Barmherzigkeit.“
Vor der liebevollen Güte des göttlichen Kindes verneigen sich Engel und Mensch.
Quelle der Gnade
Beide genannten Verständnisweisen sind weit davon entfernt, sich gegenseitig auszuschließen. Sie lassen sich sogar unschwer in wenigen prosaischen Worten zusammenfassen: Maria ist, zusammen mit ihrem Sohn, eine Quelle reicher Gnaden, insbesondere auch die Quelle der Gnade der barmherzigen Vergebung von Schuld. Dies ist deswegen umso leichter möglich, als Maria Jesus geboren hat, das Antlitz der Barmherzigkeit Gottes (Papst Franziskus). Maria ist selbst barmherzig, weil sie auf die Frucht ihres Leibes zeigen kann. Am Kreuz hat er dem Jünger Johannes – und damit eingeschlossen uns Christen – seine (Jesu) Mutter zu unserer aller Mutter gemacht. Wie sie die Barmherzigkeit geboren hat, so kann sie diese – in Einheit mit Vergebung – auch weiterhin an uns weiterleiten und verschenken.
Beide Verständnisweisen sind sehr poetisch bereits längst, seit etwa tausend Jahren, zusammengefasst im „Salve Regina“:
Sei gegrüßt, o Königin,
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