Gott weckt die Sehnsucht seines Volkes nach ihm
Corona-Krise und Israels Exil in Babylon: Wo finden wir Halt, wenn alles wegbricht?
Bischof Dr. Voderholzer hat am 4. Fastensonntag im Hohen Dom St. Peter die momentane Situation – die Unmöglichkeit, Sonntag für Sonntag als Volk Gottes den Gottesdienst als Eucharistiefeier zu begehen – mit dem Exil des Volkes Israel in Babylon in einem geistlichen Sinne in Verbindung gebracht. Dr. Veit Neumann, Redakteur der Bischöflichen Medienabteilung des Bistums Regensburg, hat bei dem biblischen Theologen Markus Kirchner nachgefragt, welche Bedeutung das Exil für Israel hatte und was dies heute für uns als Christen heißt. Markus Kirchner wirkt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese und biblische Hermeneutik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihm zufolge kann uns durch den erzwungenen Verzicht der Wert der Eucharistie wieder ganz neu bewusst werden.
Sehr geehrter Herr Kirchner, was war das Exil für Israel? Was ist damals konkret geschehen?
Das Exil war für Israel ein nationales Trauma. Man muss wissen, dass von Israel schon vor dem Exil nur der kleine „Reststaat“ Juda rings um Jerusalem übrig war. Dieser war weltpolitisch bedeutungslos und ein Spielball der damaligen Großmächte, Ägypten im Westen und Babylon im Osten. Der judäische König Jojakim und sein Sohn Jojachin versuchten, sich mit Hilfe der Ägypter aus der Abhängigkeit von den Babyloniern zu befreien. Als dies misslang, nahmen die Babylonier brutal Rache. 597 v.Chr. deportierten sie Jojachin und mehrere Tausend Israeliten nach Mesopotamien (im heutigen Irak) und setzten an seiner Stelle den Marionettenkönig Zidkija ein. Als auch dieser rebellierte, überfielen sie Jerusalem 587 erneut, zerstörten die Stadt und den Tempel und machten Juda zu einer Provinz ihres Reiches.
Was hat sich dadurch verändert und entwickelt?
Zunächst einmal waren die Ereignisse eine politische, wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe. Israel hatte nicht nur seine politische Freiheit endgültig verloren, sondern war auch um etwa zwei Drittel seiner Bevölkerung geschrumpft. Die Babylonier verschleppten bewusst die „Leistungsträger“ der Gesellschaft, also die königlichen Beamten und Priester, aber auch Handwerker. So verlor Israel auch wichtiges politisches und technisches Knowhow. Noch schlimmer aber waren die kulturellen und religiösen Folgen. Zum einen mussten die Verbannten in der Fremde ihre Identität und ihren Glauben an JHWH bewahren. Zum anderen aber galten gerade der Besitz des Landes, das Königtum der Nachkommen Davids und besonders der Tempel in Jerusalem als die Garanten für die besondere Zuwendung Gottes zu Israel. Alle diese Dinge hatte das Volk nun verloren. Darum drängte sich die Frage auf: Hat Gott uns jetzt verstoßen? Ist seine Verheißung für immer aufgehoben? Ist Gott nicht mehr in unserer Mitte?
Welche Mittel wurden gefunden, um mit der Erfahrung des Exils umzugehen?
Im Exil gewannen einige Dinge, die für die Israeliten bis dahin selbstverständlich gewesen waren, eine ganz neue Bedeutung. Zum Beispiel die Beschneidung. Viele semitische Völker kennen dieses Ritual, nicht jedoch die Babylonier. Dieser kleine kulturelle Unterschied wurde für Israel nun zum Symbol ihrer Identität, zum neuen Zeichen des Bundes mit Gott, das nicht mehr vom Tempel abhängig war. Ähnliches gilt für den Sabbat.
Wo finden wir die Exilserfahrung in den Heiligen Schriften?
Große Teile des Alten Testaments sind eine Reaktion auf diese Erfahrung, auch wenn dies auf den ersten Blick oft nicht erkennbar ist. Ein Beispiel ist der Schöpfungsbericht in Genesis 1, der wohl in Babylon entstanden ist. Bei der Erschaffung von Sonne und Mond heißt es dort lapidar: „Gott machte die beiden großen Lichter.“ Dies ist ein böser Seitenhieb gegen die Babylonier, die Sonne und Mond als Götter verehrten. Gemeint ist: Was ihr für Götter haltet, sind in Wirklichkeit bloß „Laternen“ – die unser Gott, der einzig wahre Gott, gemacht hat! Auf die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit antwortete Israel also mit einer neuen Reflexion auf die größere Macht Gottes. Ein weiteres Beispiel dafür sind auch die sogenannten „Gottesknechtslieder“ im Jesajabuch, die gerade jetzt in der Passionszeit häufig gelesen werden, weil die ersten Christen im leidenden Gottesknecht das Schicksal Jesu wiedererkannten.
Was ist davon für uns und unsere Situation heute maßgeblich und interessant?
Israel hat sein Schicksal zunächst als Abwesenheit Gottes, ja sogar als Strafe erfahren. Auch heute gibt es ja einige, die die Corona-Krise so, also als Strafe deuten wollen. Israel ist aber letztlich einen anderen Weg gegangen. Es hat vielmehr die Erfahrung gemacht, dass Gott sich nur scheinbar verbirgt, um die Sehnsucht seines Volkes nach ihm wieder neu zu wecken. Nicht Gott hat die Babylonier nach Jerusalem geführt, sondern die abenteuerliche Politik seiner Könige; und Gott hat auch uns nicht die Corona-Viren geschickt. Aber beides kann wieder zu Gott hinführen, wenn wir dadurch vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragen: Ist unser Leben wirklich so fest gegründet, wie wir immer dachten? Wo finden wir wirklich Halt, wenn alles andere einmal wegbricht?
Wo liegen die Ressourcen der Erfahrung, vom Gewohnten, Eigentlichen und Liebgewonnenen entfernt worden zu sein?
Vor allem können wir vielleicht lernen, dass wir die Erfahrung von Gottes Zuwendung zu uns nicht kontrollieren und beherrschen können. Wir sind es gewohnt, Gottesdienste als eine Art Service zu sehen, der von der Kirche organisiert und bereitgestellt wird. Eucharistie ist aber eigentlich etwas ganz anderes, nämlich ein Geschenk. Gott beschenkt uns in Christus mit seiner Gegenwart. Auf dieses Geschenk haben wir keinen Anspruch, wir können es nur dankbar (eben im Wortsinn „eucharistisch“) annehmen. Ein ganz ähnliches Anspruchsdenken kritisiert vielleicht der Prophet Jeremia, wenn er um die Zeit des Exils mahnt: „Vertraut nicht auf die trügerischen Worte: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist dies!“ (Jer 7,4). Den Israeliten ist dies im Exil schmerzlich bewusst geworden, als sie auf ihren Tempel verzichten mussten. Vielleicht kann es auch uns jetzt wieder neu bewusst werden.