Durch das Kirchenjahr: Jesus und der Dialog
… mit Benedikt
31. Sonntag im Jahreskreis – Markus 12,28b-34
„Wir“ gegen „die“. Dieses Narrativ hat die Weltgeschichte geprägt wie kein anderes. Kriege wurden unter diesem Vorzeichen geführt: „Wir“ gegen „die“. Der Mensch bildet Gruppen und bringt sie gegeneinander in Stellung. Wozu das führen kann, mussten gerade wir Deutschen aus unserer Geschichte lernen. Und auch in der Kirche scheint dieses Gegensatzpaar immer weiter fortzuschreiten. Konservative gegen Liberale. Wir streiten uns. Jeder sieht sich auf einer Seite, gehört zu einem „wir“, das sich gegen andere, gegen „die“, in Stellung bringen muss.
Eigentlich ist es ganz normal und natürlich, dass der Mensch die Welt einteilt und unterscheidet. Schon ein Kleinkind muss die Welt erforschen und dabei zwangsläufig unterscheiden. Gesund und giftig, warm und kalt, gefährlich und ungefährlich. Irgendwann muss das sitzen, sonst würden noch erwachsene Menschen auf die Herdplatte fassen und sich schmerzliche Verbrennungen zuziehen. Gefährlich wird es nur, wenn diese Unterscheidungen nicht mehr durchlässig sind.
Schon die frühe Kirche scheint in genau dieser Gefahr gestanden zu haben. Zu Beginn waren die Christen eine jüdische Gruppe unter vielen. Unterschiedliche Geistesströmungen fanden im Judentum Platz – darunter auch die christliche, die daran glaubte, dass Jesus Christus der Sohn Gottes und der Retter der Welt ist. Das Nebeneinander der verschiedenen Gruppen lief nicht immer konfliktfrei ab und auch davon zeugt das Evangelium. „Die“ Schriftgelehrten sind ebenso oft Gegner der Botschaft Jesu wie „die“ Pharisäer oder „die“ Sadduzäer. Die Lehre der verschiedenen Gruppen unterschied sich bisweilen deutlich: Die einen glaubten an die Auferstehung der Toten, die anderen nicht.
Das Evangelium dieses Sonntags erzählt dabei eine ganz besondere Begebenheit. Da ist ein Schriftgelehrter, der Jesus eine Frage stellen will, „da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete“. Er fragt aus Interesse für die Person Jesu, für die Botschaft Jesu. Matthäus und Lukas, die die gleiche Geschichte mit ein wenig anderen Worten erzählen, nennen einen ganz anderen Grund für die Frage des Schriftgelehrten: Aus List stellt er seine Frage. Er will Jesus auf die Probe stellen, in der Hoffnung, Jesus würde irgendetwas Falsches, Unüberlegtes oder Anstößiges sagen. Die Pointe dieser Erzählungen ist dann immer: Jesus tut nichts davon. Die Schriftgelehrten, Pharisäer oder Sadduzäer stehen blöd da.
Auch Markus erzählt solche Geschichten und das interessanterweise im direkten Umfeld des heutigen Evangeliums. Zunächst treten da die Hohepriester, Schriftgelehrten und Sadduzäer gemeinsam auf, wollen ihn erproben, scheitern. Dann treten die beteiligten Gruppen einzeln auf: Die Pharisäer scheitern an Jesus, die Sadduzäer, die Schriftgelehrten. Dazwischen aber ereignet sich eine ganz andere Geschichte. Ein einzelner Mann aus der Gruppe der Schriftgelehrten tritt auf. Er lässt die Gruppe hinter sich, traut sich als Einzelner zu diesem Jesus aus Nazareth. Er fragt nicht aus kühler Berechnung, sondern aus echtem Interesse. „Welches Gebot ist das erste von allen?“ Jesus zitiert aus der heiligen Schrift, der gemeinsamen Basis all dieser Gruppierung: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben“. Und dazu kommt ein zweites wichtiges Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“
Begeistert kann der Schriftgelehrte zustimmen. Ja, genauso ist es! Beinahe wörtlich, nur mit leichten Abweichungen, wiederholt er nochmal das von Jesus Gesagte. Und Jesus schließt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Es wirkt so, als hätte Markus diese Stelle bewusst als Korrektiv eingebaut. So oft wird der Konflikt zwischen den Jüngern Jesu und den anderen jüdischen Gruppen betont. Und ja: Da gibt es Unterschiede in der Lebensführung und in der Lehre. Aber dieser eine Mann konnte doch ganz unbefangen zu Jesus kommen. Aus Interesse an ihm lässt er die festgesteckten Grenzen und das gut verschlossene Schubladensystem hinter sich. Und tatsächlich findet er Gemeinsamkeiten mit Jesus, den er sogar mit „didaskale“, also „Lehrer“, ansprechen kann.
Diese Erzählung ist ein Plädoyer an alle. Ein Plädoyer, nicht immer nur das Trennende zu sehen, sondern auch das Verbindende. Jesus und der Schriftgelehrte finden ja eine Basis, auf der sie sich verständigen können; sie finden etwas, das sie beide gleich sehen. Das ist eine Herausforderung an alle Christen, das Trennende auch überwinden zu können – oder wenigstens in den Dialog miteinander zu kommen. In den Dialog zwischen Christen und Juden, den von Gott geliebten und auserwählten Töchtern und Söhnen. In den Dialog zwischen den verschiedenen Konfessionen. Und in den Dialog zwischen „konservativ“ und „liberal“, zwischen „links“ und „rechts“.