Regensburg, 11. Juni 2024
Die Bedeutung von Erinnerung als Erbe und Auftrag für die heutige Generation stand im Mittelpunkt des Diözesan- bzw. Begegnungstages der Ackermann-Gemeinde in der Diözese Regensburg. Gut 30 Mitglieder, darunter auch Interessenten, waren dafür ins Kolpinghaus gekommen.
Mit einer Laudes zur geistlichen Einstimmung startete nach mehreren Jahren Pause wieder durchgeführte Diözesantag mit einem geistlichen Impuls von Vorstandsmitglied Florian Würsch, musikalisch umrahmt von Veronika Wabra an der Harfe. Wegen der Coronakrise konnte der Diözesantag in den vergangenen Jahren nicht stattfinden.
Sechs neue Mitglieder – mit Ingrid Ecker aus Kollnburg war eines anwesend – konnte der Diözesanvorsitzende Prof. Dr. Bernhard Dick in seinen Eingangsworten begrüßen. Prof. Dr. Sigmund Bonk verwies als Direktor des Akademischen Forums Albertus Magnus in seinem Grußwort auf die bewährte gute Kooperation mit der Ackermann-Gemeinde. Diese betonte auch Roland Preußl, Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung in der Stadt Regensburg. Persönlich habe er durch seine aus der Slowakei stammende Ehefrau einen besonderen Bezug zum Arbeitsfeld der Ackermann-Gemeinde.
In seinem Amt als Geschäftsführender Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Regensburg lobte er die in der Ackermann-Gemeinde geleistete Erinnerungsarbeit, das „Gedenken an eine gelingende Versöhnung“. Er plädierte dafür, beim Erinnern und Gedenken immer auch das „Wertvolle und Schöne“ einzubeziehen – und natürlich die Würde des Menschen. Konkret verwies er auf Emilie Schindler, die Ehefrau von Oskar Schindler, und auf die Tatsache, dass das Ehepaar Schindler von 1947 bis 1949 in Regensburg lebte.
Vielfältige Dokumente im Sudetendeutschen Archiv
Über die Struktur und die Aufgaben des im Jahr 1955 gegründeten Sudetendeutschen Archivs, das seit 2007 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv angesiedelt ist, informierte Archivarin Ingrid Sauer in ihrem Vortrag zum Thema „Die Schatzkammer der Erinnerung – das Sudetendeutsche Archiv“. Seit 20 Jahren ist Sauer im Hauptstaatsarchiv tätig, seit 17 Jahren für das Sudetendeutsche Archiv: „Die Sudetendeutsche Volksgruppe hat als einzige der Heimatvertriebenen ein eigenes Archiv“, sagte sie stolz.
Nach der Übernahme der Schirmherrschaft des Freistaates Bayern für die Sudetendeutsche Volksgruppe im Jahr 1954 sei ein Jahr später das Archiv als „Gedächtnis der Volksgruppe“ gegründet worden – mit drei Bereichen: Erstens wird eine Zentralkartei über Veröffentlichungen geführt, zweitens werden Presseveröffentlichungen gesammelt und drittens ist eine Pressestelle der Landsmannschaft für aktuelle Veröffentlichungen und Ausstellungen zuständig. Mit dem Umzug ins Bayerische Hauptstaatsarchiv am 9. November 2007 sei dann die Sortierung und Strukturierung der Dokumente auf eine neue Stufe gehoben worden. Verbandsschriften würden nun nach Landsmannschaft und Heimatkreisen sortiert, Nachlässe als Konvolute verwahrt; Sammlungen von Bildern und Plakaten seien in einer eigenen Abteilung zu finden. Die Materialien könnten nach Anfrage genutzt werden – auch über Bayern hinaus.
Anhand ausgewählter Beispiele zeigte Sauer die Vielfalt und auch die Bedeutung dieser Dokumente auf. Ob nun ein Fahrtenbuch mit persönlichen Notizen und Erinnerungen, ein Gästebuch von einer Kindererholungsverschickung, Nachlässe von Priestern oder auch Politikern: Oft könne man sich erst dadurch – etwa durch Tagebucheinträge – ein genaues Bild zu einzelnen Personen oder Ereignissen machen. Inzwischen würden auch viele Studierende aus dem Ausland, vor allem aus Tschechien, das Archiv auch wegen der Bandbreite nutzen.
„20 Prozent der Nachlässe im Verzeichnis des Hauptstaatsarchivs sind sudetendeutsche“, stellte die Archivarin fest. Einen großen Teil des Bestandes machten die Sammlungen aus, zumal hier ganz unterschiedliche Kategorien Platz finden: Erlebnis- und Vertreibungsberichte, Texte über die Ankunft der Vertriebenenzüge im Jahr 1946, der Schreibwettbewerb „Zeitreise“ des Katholischen Deutschen Frauenbundes zusammen mit der SL Bayern im Jahr 2009, Lebenserinnerungen, Materialien aufgelöster Heimatstuben und vieles andere mehr. Jährlich gebe es über 450 Anfragen.
Unterschiedliche Erinnerungen und Rezeptionen in der Enkelgeneration
Mit vielen Zitaten garniert war der Vortrag von Prof. Dr. Katrin Boeckh, die am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg die Forschungsstelle „Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern“ leitet. „Vertreibung und Flucht: Tradierte Erfahrung der dritten Generation“ lautete ihr Vortragsthema. „Bis vor zehn Jahren gab es viele Veröffentlichungen über die erste und zweite Generation, die dritte war noch nicht so präsent“, stellte Boeckh einleitend fest. Sie verwies auf das kulturwissenschaftliche Konzept des kollektiven Gedächtnisses, das aber durch das kommunikativ-kulturelle Gedächtnis ergänzt werden müsse. Zum Letztgenannten gehöre auch die mündliche Weitergabe von Erfahrungen, die soziale Interaktion und Alltagskommunikation unter den Generationen. Beim Thema „Vertreibung“ komme bei der Erfahrungsverarbeitung primär die Familie zur Geltung, also das „Generationengedächtnis von Flucht und Vertreibung“, so Boeckh. Es gehe darum, „die Empfindungen der dritten Generation zusammenzustellen und zu beschreiben“.
Mit den Änderungen der Rahmenbedingungen ab 1989/90, mit den neuen Möglichkeiten zum Reisen und vor allem zur freie Historiografie in den Herkunftsländern sei außerdem eine weniger verkrampfte Beschäftigung mit dem Thema festzustellen. Eine „neue Dimension in der Herangehensweise für die Familiengeschichte“ möglich geworden. Meistens würden bei den Enkeln die Erinnerungen ungefähr im achten oder neunten Lebensjahr – etwa durch Teilnahme an sudetendeutschen Veranstaltungen – beginnen, auch wenn Erstkontakte früher seien.
Höchst unterschiedlich gestalte sich bei der Generation der Enkel die Rezeption der Flucht- und Vertreibungsschilderungen der Großeltern: von unterhaltsam und spannend über Bewunderung für den Mut der Flüchtlinge und Schmerz über Verluste bis hin zu Empathie über den Verlust von Verwandten oder „die Unfähigkeit, Familiengeschichte zu verstehen und zu verarbeiten“. Andererseits sei aber auch Distanzierung zu beobachten, die Jüngeren seien zuweilen „genervt von den ständigen Schilderungen der Familienereignisse“.
Doch es gibt auch das Phänomen der „Spätberufung“, etwa durch äußere Auslöser oder Soziale Medien, und den Wunsch nach Bewahrung mit Weitergabe von Werten und Einstellungen. „Es gibt ein reges Interesse in der dritten Generation – nicht nur passiv, sondern sich selbst in die Vergangenheit hineinzubegeben, damit umzugehen“, fasste die Referentin zusammen. Mit dem Plädoyer, die Vertreibungsgeschichte stärker in die Lehrpläne von Schule und Studium zu platzieren, schloss sie ihr Referat.
Text: Markus Bauer
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