Der Ort einer Utopie
(pdr) Die aufkommende Neuzeit brachte zahlreiche philosophisch geprägte Entwürfe zu idealen Staats- und Gesellschaftstypen hervor, die vor allem das Zusammenleben der Menschen regeln sollten. Die „Utopia“ des Thomas Morus und der „Sonnenstaat“ (Civitas solis) des Dominikaners Tommaso Campanella gehören zu den bekanntesten Konzeptionen. Eine praktische Umsetzung gesellschaftlicher Modellbildung in die Wirklichkeit begann vor 400 Jahren: 1609 entstanden die Reduktionen der Jesuiten in Paraguay, die über 150 Jahre lang hunderttausenden Indios das Überleben trotz spanischer Kolonisierung ermöglichten. Dabei stand zwar kein einzelnes staatstheoretisches Modell Pate. Vielmehr war die Organisation von Dutzenden kleiner Indio-Stadtrepubliken durch die praktischen Notwendigkeiten menschlichen Lebens geprägt. Jeweils rund 60 Jesuiten konnten aber zum Wohle von durchschnittlich 120.000 Eingeborenen ein geistlich grundiertes und humanes Gegenmodell zur allgemeinen Ausbeutung und Vernichtung der Urbevölkerung bewerkstelligen. Selbst Philosophen wie Voltaire, Denis Diderot und Jean-Baptiste d´Alembert konnten den „Reducciones“ Positives abgewinnen. Das erklärte Prof. Dr. Peter C. Hartmann, Philistersenior Aenaniae, jüngst in Regensburg während eines Vortrags im Museum St. Emmeram, zu dem Museumsdirektor Dr. Hermann Reidel eingeladen hatte.
Zwar suchten die Gesetze der spanischen Krone die Rechte der Indios zu schützen. Auch für die Päpste war es selbstverständlich, entgegen anderen Strömungen in den Eingeborenen keine Kreaturen „zwischen Tier und Mensch“ zu sehen. Papst Alexander VI. (1492-1503) verbot unter Strafe der Exkommunikation, Indios Schaden zukommen zu lassen. Dennoch fanden solche Ansätze ihre deutliche Grenze in der Wirklichkeit ihrer Nichtdurchsetzbarkeit angesichts der weiten Entfernungen nach Europa. Faktisch wurden große Teile der Urbevölkerung versklavt und ausgerottet. Dass die Jesuiten durch Zivilisierung und nachfolgende Missionierung die Indios dem Zugriff der allein wirtschaftlich interessierten spanischen Landnehmer entzogen, brachte ihnen Hass und Feindschaft ein, führte Prof. Hartmann aus.
Die Jesuiten dagegen studierten zunächst Sitten und Sprachen der Indios genau, bevor sie ihre missionarischen Aktivitäten begannen. Vermochten die Mitglieder der Gesellschaft Jesu traditionell einen aufmerksam-angemessenen Umgang mit ihrer Umwelt zu pflegen, so war es ihnen ein Anliegen, die Organisation der Reduktionen an die menschlichen Bedürfnisse der Indios anzulehnen. „Damit entstand eine enge Verknüpfung von Kult-, Sozial- und Wirtschaftsgemeinschaft“, erklärte Hartmann. Grundlage dieses positiven Wirkens, das den Einsatz der auch deutschsprachigen Ordensleute heute in sehr positivem Licht erscheinen lässt, war ihre hohe Bildung und Vielseitigkeit, gekoppelt mit der persönlichen Bedürfnislosigkeit, die sich nicht zuletzt in der zölibatären Lebensweise verwirklichte.
Der „Vater der italienischen Geschichtsschreibung“, Ludovico Antonio Muratori, schrieb bereits im 18. Jahrhundert, die Jesuiten hätten in den Reduktionen „mehr durch Beispiele als durch Worte gelehrt“. Immerhin waren die Reduktionen in damaliger Zeit das einzige Industrieland ganz Lateinamerikas. Die Patres hatten im übrigen keinen Anteil am wirtschaftlichen Gewinn der Unternehmungen.
Überhaupt waren die konkreten Verhältnisse - zumal vor der Folie der frühen Neuzeit - in vielerlei Hinsicht wünschenswert: Bettler und Arme gab es in den Siedlungen nicht, alle Schwachen wurden in den Einrichtungen der Gemeinschaft versorgt. Es gab weder Folter noch Hexenverbrennungen noch Todesstrafe. Meist arbeiteten die Jesuitenpatres mit Lob. Strafen aber waren Gebetszeiten, Buße, Arrest und eine - von den Indios selbst vollzogene - „maßvolle Prügelstrafe“, wie Cbr Hartmann darstellte. Auf Mord stand zwar lebenslänglich, was aber in der Regel in eine mehrjährige Haftstrafe umgewandelt wurde.
Die Stellung der Frauen wurde nach Möglichkeit gehoben. Begabte Schüler lernten Spanisch und Latein, konnten allerdings nicht Priester werden. Kulturelle Höhepunkte der kleinen Stadtrepubliken aus Indios waren geistliche Schauspiele, gesungene Hochämter und barocke Kathedralen, die nicht selten Anlehnungen an Bauten in Europa, auch im deutschsprachigen Raum nahmen. Bis zu 6000 Personen fassten solche Bauwerke, die heute allerdings nur noch in Ruinen vorhanden sind.
Den Ruin der einigermaßen heilen Welt brachten politische Umstände. Den Jesuiten wird allerdings – im nachhinein vor allem – vorgehalten, sie hätten den Indios aufgrund eines Paternalismus wichtige Werkzeuge wie das Spanisch und allgemein die Freiheit vorenthalten. „Allerdings ging es der Bevölkerung weder vor Beginn noch nach Ende der Reduktionen jemals so gut als in dieser Zeit“, fasste Hartmann zusammen. Die nachfolgenden „liberalen“ Herrschaften waren weit entfernt, ein inneres Verständnis für sie zu entwickeln.
Wie das bittere Ende erfolgte? Im Zusammenhang mit Grenzverschiebungen zwischen den spanischen und den portugiesischen Kolonien war es zu Aufständen unter den Einwohnern der Reduktionen gekommen, die von Jesuiten wohl unterderhand unterstützt wurden. Das Überwiegen der wirtschaftlichen Interessen der Siedler und ihre Durchsetzung bei den Regenten in Europa bedeuteten das Aus für die Wirklichkeit gewordene Utopie der Söhne des heiligen Ignatius.
Denn Europa stand der Sinn längst nicht mehr nach einem global operierenden Jesuitenorden und noch weniger nach dessen weitblickenden Segnungen für die Menschen in Südamerika. Die Einpassung kirchlicher Zusammenhänge in den sich entwickelnden absolutistischen Staat war an der Tagesordnung. Und dem hatte die Kirche häufig sehr wenig entgegenzusetzen. Der Jesuitenorden selbst, 1773 für Jahrzehnte aufgelöst, wurde Opfer dieses Verhängnisses.