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Zur Neuigkeit
Im Gespräch: der katholische Publizist Lothar C. Rilinger
„Nur Christentum erkennt Gleichheit der Menschen an“
Regensburg, 11. Juni 2025
Lothar C. Rilinger ist in katholischen Kreisen bekannt durch seine Interviews mit Kardinal Gerhard Müller. Nun hat der Publizist in seinem Buch „Christentum und Verfassung – Ein Dualismus oder doch eine Einheit?“, das kürzlich bei editiones scholasticae erschienen ist, speziell den lange in Regensburg lehrenden Kardinal Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., in den Blick genommen. CNA Deutsch und das Bistum Regensburg präsentieren ein großes Interview mit dem dezidiert katholisch denkenden Autor, der zugleich ein hochdotierter Jurist ist.
Frage: Ihr erstes Kapitel beginnt mit Benedikt XVI. und behandelt zur Gänze seine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Das liest sich wie eine Exposition des gesamten Buches. Ist die Theologie Benedikts XVI. für Sie so etwas wie der aktuelle Grundstein Europas?
Rilinger: Durch die andauernde Entchristlichung unseres Kontinents droht den europäischen Gesellschaften und Staaten das Moment abhanden zu kommen, das notwendig ist, damit – wie es Norbert Elias formuliert hat – die Entscheidung der Mehrheit auch von der unterlegenen Minderheit als eigene akzeptiert wird. Es war Jahrhunderte lang die christliche Fundierung, die Europa und seine Kultur zur führenden der Welt hat aufsteigen lassen. Doch dieses Moment, das den Zusammenhalt garantierte, hat sich aufgelöst und wurde durch atheistische Gedanken verdrängt, die aber nicht das gesamte Staatsvolk zu akzeptieren bereit ist.
Wie kann hier gegengesteuert werden?
Rilinger: Um wieder einen gemeinsamen Nenner zu finden, bietet es sich an, wieder auf das Fundament zu rekurrieren, das Europa und seine Kultur groß gemacht hat. Um aufzuzeigen, wie diese Grundlage ausgestaltet sein könnte, hat Benedikt XVI., also Professor Joseph Ratzinger, eine politische Philosophie entwickelt und damit eine Ethik, die Zukunft eröffnen könnte. Es ist eine Philosophie, die er von seiner Theologie aus gedacht hat, aber gleichwohl für die Akzeptanz nicht den katholischen Glauben zwingend voraussetzt. Es ist eine Philosophie, die sich am Christentum orientiert und dadurch von allen Staatsbürgern angenommen werden könnte. Ich gehe deshalb davon aus, dass seine Gedanken herangezogen werden sollten, um die Zukunft Europas zu denken.
Ist das dann dieser Grundstein?
Rilinger: Ja, sie könnte der Grundstein des Fundamentes sein; von dieser Basis sollte die kulturelle und ethische Ausrichtung weiterentwickelt werden. Allerdings setzt diese Entwicklung voraus, dass sich die Kirche, ja, die christlichen Amtskirchen im deutschsprachigen Raum wieder mehr dem Glauben und seiner Verbreitung zuwenden. Sie sollten sich nicht in der allgemeinen Tagespolitik verlieren und sich dabei erschöpfen sowie gleichzeitig sich – in tragischer Weise – selbst überflüssig machen. Kirche ist keine NGO, die den politischen Parteien mit ihren Programmen hinterherhecheln muss. Ihre eigentliche und vornehmste Aufgabe ist die Verbreitung und Erklärung des Glaubens – die Evangelisierung, nach der sich viele Menschen aus tiefstem Herzen sehnen.
In Ihrem neuesten Buch „Christentum und Verfassung“ gehen Sie tief, gleichwohl aber auch sehr verständlich auf Fragen von Naturrecht und christlichem Fundament in modernen Staaten ein. Warum haben Sie das für notwendig erachtet?
Rilinger: Seit meinem postgradualen Studium der christlichen Philosophie interessiert mich in besonderer Weise die denkerische Grundlage unserer Gesellschaft und unseres Staates. Anhand der rechtlichen Entwicklung der Anschauung in Bezug auf die aktive Sterbehilfe habe ich schon frühzeitig erkannt, dass es notwendig ist, das Denken auf einem ethischen Grundgerüst aufbauen zu können, um nicht in die Beliebigkeit abzugleiten. Mir war immer der Aufbau des Rechts ein Vorbild im Denken. Dieses gründet auf Prinzipien, die zwar weiterentwickelt werden können, doch immer auf einer Fundierung aufbauen, die eine Stringenz mit sich bringt und deshalb vor dem Sich-Verlieren im Ungefähren schützt.
Diese Weltsicht findet sich dann bei den Vereinten und den Allgemeinen Menschenrechten…
Rilinger: Wenn wir uns den Prozess der Verabschiedung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO aus dem Jahr 1948 oder denjenigen der Formulierung der Präambel unseres Grundgesetzes von 1949 vor Augen führen, können wir feststellen, dass das Naturrecht, das Recht, das Gott dem Menschen eingegeben hat, zur Grundlage der Rechtssetzung herangezogen worden ist. Damit konnte eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, die von der totalen Gleichheit aller Menschen ausgeht und damit eine Bedingung festgelegt hat, die immer und in jedem Fall zu beachten ist.
Hebt sich das Christentum hierbei aus allen anderen Religionen und Philosophien hervor?
Rilinger: Nur das Christentum kennt diese totale Gleichbehandlung aller Menschen, anderen Religionen oder auch Ideologien ist diese Grundvoraussetzung unbekannt. Dort werden wie im Marxismus Menschen nach Klassen unterschieden, im Hinduismus nach Kasten, im Nationalsozialismus nach Rassen, aber nicht nur dort, im Islam nach der religiösen Vorstellung, die auf dem Unterschied von Gläubigen und Ungläubigen basiert, um einige Beispiele zu nennen. Mir ist es wichtig, mit meinen Möglichkeiten immer wieder vorzutragen, dass letztendlich alle Personen ein gelungenes Leben führen könnten, wenn die kulturelle Grundlage bestehen bliebe, die Europa und den geistigen Westen groß gemacht hat und diese zur führenden auf der Welt werden konnte.
Gemäß dem Böckenförde-Diktum lebt der moderne Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Welche sind das aus Ihrer Sicht?
Rilinger: Böckenförde hat erkannt, dass der Staat aus sich selbst heraus keine Voraussetzungen schaffen kann, die es ihm erlauben, eine Politik zu praktizieren, die dem Wohl des Staatsvolkes dienen könnte. Der Staat ist nur ein technisches und organisatorisches Konstrukt, um den Prozess des Regierens und Verwaltens führen zu können. Werte, die die Politik bestimmen, muss er sich deshalb von außerhalb seines Selbst holen. Diese kann er nur in philosophischen, theologischen oder auch ideologischen Systemen finden, die in der Gesellschaft diskutiert werden. Da der Staat wie auch die Naturwissenschaften wertfrei ist, ist er darauf angewiesen, dass er sich auf geistige Grundlagen bezieht, die andere Personen für ihn formuliert haben.
Könnten Sie das noch etwas spezifizieren?
Rilinger: Böckenförde, ein gläubiger Katholik, sah ausschließlich im Christentum die Grundlage, um eine weltliche Gerechtigkeit innerhalb des Staates ermöglichen zu können. Deshalb soll der Staat Rückgriff auf christliche Wertvorstellungen nehmen, um ihn auf einem Wertesystem aufbauen zu können, das in idealer Weise als gerecht bezeichnet werden könnte. Allerdings darf sich dieses Engagement nur auf die Grundfragen und damit auf die Diskussion um die Geltung von Menschenrechten beziehen. Ihre Vorstellung von Meinungsfreiheit, von Würde oder vom Lebensrecht muss sie vortragen, aber nicht resignieren, wenn sie nicht gehört werden, sondern weitermachen. Sie ist verpflichtet, immer wieder im Diskurs ihre Meinung zu artikulieren und der Politik den Spiegel vorzuhalten, damit die Politiker Möglichkeiten erblicken können, wo der richtige Weg verlaufen sollte.
Sehen Sie diese Grundlagen in einer entchristlichten Gesellschaft schwinden?
Rilinger: Die christliche Grundlage wird immer geringer. Auch wenn sich der Westen auf christlicher Grundlage weltumspannend hat entwickeln können, zeigt diese, dass zumindest im Westen die christliche Ausrichtung zunehmend geringer wird und deshalb der atheistische Relativismus an Bedeutung gewinnt. Die aus dem Christentum hergeleiteten ewigen Werte werden immer mehr in den Hintergrund verschoben, um diese durch selbst erdachte Wünsche zu ersetzen – durch Wünsche, die sich nicht mehr aus christlichen Prinzipien herleiten lassen, sondern aus dem Moment, aus einer Laune heraus geboren und jederzeit geändert werden können.
Welche Folgen wird das für Deutschland oder andere entchristlichte Staaten haben?
Rilinger: Die Werte, die der Gesellschaft zu Grunde liegen, werden beliebig ausgelegt. Grundlage wird nicht mehr das System sein, aus dem sich die tradierten Menschenrechte herleiten lassen, sondern der Utilitarismus, der auf die Nützlichkeit abstellt und Menschenrechte konterkariert.
Konkrete Beispiele?
Rilinger: In Frankreich wurde die Garantie der Abtreibung in die Verfassung aufgenommen. Noch ist zwar nicht das Menschenrecht auf Abtreibung ausdrücklich in der Verfassung erwähnt, sondern nur die Garantie, dass die Abtreibung möglich ist. Doch wird von französischen Staatsrechtlern allein die Garantie der Abtreibung als Menschenrecht auf Abtreibung angesehen, so dass dieses Menschenrecht im Gegensatz zum Menschenrecht auf Leben steht. Das Menschenrecht auf Abtreibung wird zum Menschenrecht auf Tötung und steht somit gleichberechtigt mit dem Menschenrecht auf Leben. Was als Widerspruch anmutet, ist leider verfassungsrechtliche Wirklichkeit. Wenn es aber ein Menschenrecht auf Tötung ungeborener Menschen gibt, dann ist es aus utilitaristischen Gründen nur ein kleiner Schritt, auch in anderen Phasen im Leben eines Menschen das Menschenrecht auf Töten durchzusetzen.
Wie sieht das konkret in der Frage der straffreien Abtreibung aus?
Rilinger: Da Menschen nach unserer Rechtsordnung zwar das Recht auf Leben geltend machen können, dies aber nicht mehr gewollt ist, wird darüber diskutiert, wer als Mensch im Sinne des Artikel 1 Grundgesetz angesehen werden muss. Sollte ein menschliches Wesen nicht als Mensch im Sinne Art. 1 Grundgesetz angesehen werden, könnte ihm das Menschenrecht auf Leben und auf Würde entzogen werden – mit der Folge, dass diese menschlichen Wesen getötet werden können, ohne dass eine strafbare Handlung vorliegen würde.
In welchem Spannungsfeld sehen Sie aktuelle Phänomene wie den Wokeismus oder Abtreibung und Sterbehilfe mit unserer Verfassung?
Rilinger: Der Humanismus und damit das auf dem Christentum fußende Menschenbild soll durch das transhumanistische abgelöst werden. Danach wird der Mensch anders definiert. Ursprünglich wird der Mensch als Einheit von Geist und Körper gedacht, mit der Folge, dass jeder Mensch gleichbehandelt wird, unabhängig davon, wie er körperlich disponiert und wie sein Geist ausgestaltet ist. Jeder Mensch – ob geboren oder noch nicht – wird deshalb als Rechtssubjekt angesehen, so dass jeder Mensch über sämtliche Menschenrechte verfügt, die ihm intrinsisch von der Nidation im Mutterleib bis zum Tod zugeordnet sind – sie sind mit seinem Menschsein untrennbar verbunden.
Eine Denkrichtung, mit der in diesem Punkt widersprochen wird, ist der Transhumanismus…
Rilinger: Im Transhumanismus wird diese Einheit aufgelöst, so dass Geist und Körper als Dualismus nebeneinander bestehen. Der Körper wird jedoch nicht als Rechtssubjekt gedacht, sondern als Rechtsobjekt, als Sache mithin, so dass er über kein Menschenrecht, ja, über keine Rechte verfügen kann. Der Geist hingegen wird als Rechtssubjekt angesehen, so dass ausschließlich er Träger von Rechten ist.
Wir sind jetzt wieder in der Diskussion um die legale Abtreibung?
Rilinger: Ja, unbedingt; deutlich wird diese Rechtseinschränkung in der Diskussion über die Entkriminalisierung der Abtreibung aufgezeigt. Der ungeborene Mensch wird als „Zellhaufen“, als „parasitärer Zellhaufen“ oder als „Schwangerschaftsgewebe“ benannt, um aufzuzeigen, dass er nicht als Mensch angesehen wird. Es sind camouflierende Bezeichnungen, da die Gesellschaft noch nicht bereit ist, den ungeborenen Menschen als Sache zu deklarieren – was er aber sein soll. Da dem ungeborenen Menschen der Geist abgesprochen wird, soll er auch keine Rechte haben. Diese Annahme birgt aber die Gefahr in sich, dass Menschen in anderen Lebenssituationen ebenfalls durch Krankheit, Unfall oder von Geburt an über keinen Geist verfügen können, so dass ihnen jede Rechte aberkannt werden könnten.
Wie sähen die weitergehenden moralischen Folgen aus?
Rilinger: Wenn ungeborenen Kindern der Geist abgesprochen wird und damit das Recht auf Leben, ist es nur ein kleiner Schritt, um auch Erwachsene, die über keinen Geist verfügen können, das Menschenrecht auf Leben abzusprechen, so dass sie getötet werden dürften. Es wäre ein Gang in die Barbarei und vor allem ein Rückschritt in die voraufklärerische Zeit, in der Sklaven und Leibeigene als Sache bezeichnet wurden, über die man wie über eine Sache verfügen konnte.
Derlei gedankliche Konstrukte finden wir aber auch in anderen gesellschaftlichen Diskussionen…
Rilinger: In der Tat! Im Wokeismus können wir eine ähnliche Entwicklung feststellen. Das Geschlecht eines Menschen soll sich nicht mehr nach dem Körper richten, nicht mehr nach den biologischen Dispositionen, sondern ausschließlich nach dem Geist. Will man sich als Mann wie eine Frau fühlen, könnte das Geschlecht beliebig und jährlich geändert werden. Eine Transfrau soll eine Frau sein, ein Transmann ein Mann, so dass Transfrauen Zugang zu geschützten Räumen für Frauen haben sollen und Transmänner Anspruch auf frauenärztliche Behandlung, wenn sie schwanger geworden sind. Der Transhumanismus entpuppt sich deshalb als eine reine Ideologie, die nicht stringent durchgehalten werden kann. So ist es im Kriegsfall nicht für einen Mann erlaubt, sich als Frau zu bezeichnen und Transmänner werden als Frauen behandelt, wenn sie schwanger sind und Kinder gebären.
Also alles ein großer Schwindel oder im besten Fall eine Selbsthypnose?
Rilinger: Es ist nicht möglich, eine Ideologie gegen die Biologie zu konstruieren. Diese kann nicht durch einen Wunsch aufgehoben werden. Im Übrigen verfügen Männer über X- und Y-Chromosomen, während Frauen über zwei X-Chromosomen verfügen. Aus ideologischen Gründen können sich Männer zwar als Frauen bezeichnen und Frauen als Männer, biologisch können sie aber nicht ihre Zuteilung von Chromosomen überwinden und bleiben deshalb immer dem Geschlecht zugehörig, das ihnen durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zugewiesen worden ist.
Nun scheinen sich der Wokeismus und all seine Gedankenkonstrukte aber auch schon im Strafrecht niedergeschlagen zu haben?
Rilinger: Das Anzweifeln allerdings kann sogar unter Strafe gestellt werden, was freilich zwangsläufig als einen Anschlag auf das die Demokratie konstituierende Menschenrecht auf Meinungsfreiheit anzusehen wäre, doch haben inzwischen die USA und das Vereinigte Königreich anerkannt, dass eine Ideologie nicht die Biologie außer Kraft setzen kann. Im Übrigen kennen wir diese Auffassung aus den Diskussionen in der Aufklärung. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis die Wissenschaft über die Ideologien triumphieren konnte, was als große Errungenschaft der Menschheit angesehen wurde. Es wäre ein Rückschritt in voraufklärerische Zeiten, sollte die Ideologie wieder die Wissenschaft beherrschen.
Augustinus schreibt im Gottesstaat, ein Staat ohne Gerechtigkeit sei wie eine große Räuberbande. Fühlen Sie sich bei dieser Aussage an heute erinnert?
Rilinger: In unserer Grundrechtssystematik ist festgeschrieben worden, dass jedes Grundrecht eingeschränkt werden darf, allerdings muss immer ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechten erfolgen. Wenn aber eine strafbare Handlung darin gesehen wird, dass biologische Tatsachen, die unstreitig sind, nicht als wahr bezeichnet werden dürfen, wird das Freiheitsrecht auf Meinungsäußerung außer Kraft gesetzt. Und wenn ein Politiker kritisiert wird und dabei der Kritiker mehr emotionale Argumente ins Feld führt, die nicht strafbar sind, gleichwohl eine Strafbarkeit angenommen wird, ist eine Grenze überschritten, die die Überwindung der Unhintergehbarkeit von Menschenrechten markiert. Unabhängig davon, dass das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung aufgehoben wird, wird darüber hinaus die Grundlage der demokratischen Grundordnung in Frage gestellt.
Und die freie Meinungsäußerung kommt unter die Räder?
Rilinger: Der freie Diskurs – freilich jenseits der Strafbarkeit – stellt die Grundlage der Demokratie dar. Wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, auch durch Meldestellen, denen man anonym vermeintliche „Hass und Hetze“ melden kann, besteht die Gefahr, dass sich die Demokratie in Autokratie und Diktatur wandelt. Gerade in Deutschland haben wir erfahren, was es bedeutet, wenn Blockwarte denunzieren und Menschen in ein KZ bringen lassen können. Dieses Phänomen haben wir auch in der französischen Revolution erfahren müssen. Missliebige Personen wurden einfach als Gegner der Revolution bezeichnet und schon hatten sie ihren Kopf unter der Guillotine verloren.
Sie schreiben, moderne Staaten könnten ohne christliches Fundament gar nicht existieren. Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Rilinger: Jeder Staat fußt auf einer denkerischen Grundlage, von der aus er Gerechtigkeit praktizieren muss. Jeder Staat kann zwar funktionieren, auch ohne christliche Grundlage, doch stellt sich dann die Frage, ob er auch Gerechtigkeit gewähren kann. Der Staat ist auf das Gemeinwohl verpflichtet. Es ist seine ureigenste Aufgabe, die Interessen seiner Staatsbürger zu beachten und deren Wohl zu mehren. Auch wenn der Staat nicht das Wohl eines jeden einzelnen Staatsbürgers beachten kann, wie sollte er auch 84 Millionen einzelne und verschiedene Wohle bedienen – das Verfolgen des Gemeinwohls bezieht sich aber darauf, dass jeder leben und über ein Existenzminimum verfügen kann, sollte der Bedürftige oder Arme, wie es in der Bibel steht, diese finanzielle Ausstattung selbst nicht erwirtschaften können.
Das hat dann doch seine besondere Ausprägung auf dem Gebiet des Sozialen?
Rilinger: Das Verfolgen des Gemeinwohls zeigt sich in der Ausgestaltung des Sozialstaates. Diese Aufgabe muss der Staat auf der Grundlage des Gleichheitssatzes erbringen, so dass jeder Staatsbürger, ja, jeder Bewohner des Staates mit einer Alimentierung rechnen kann. Der Anspruch ist an Voraussetzungen gebunden, da der Staat nicht jede Person versorgen kann, sondern nur berechtigte Bedürftige. Wenn Personen diese Bezugsberechtigungen erfüllen, darf ihnen die Leistung aus keinem Grund vorenthalten werden – aus keinem religiösen, sittlichen, politischen Grund. Diese Idealvorstellung gilt aber nicht weltweit. Menschen werden aus religiösen Gründen diskriminiert, da sie einer anderen Kaste wie im Hinduismus angehören oder werden als Ungläubige wie im Islam angesehen oder aber aus politischen Gründen im Rahmen des Klassenkampfes wie im Kommunismus oder der Rasse wie im Faschismus, um nur einige Beispiele zu nennen.
Und von der Frage der sozialen Wohlfahrt ist nicht mehr weit zu den Menschenrechten…
Rilinger: Nur in christlich geprägten Staaten verfolgt der Staat die unbedingte Einhaltung des Gleichheitssatzes, da nur das Christentum die totale Gleichheit der Menschen anerkennt. Selbst wenn sich europäische Staaten von ihrer christlichen Einstellung entfernt haben, basieren sie gleichwohl auf einer Tradition, die im Christentum gründet, ja, selbst die atheistische französische Revolution hat sich die aus dem Christentum hergeleiteten Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu eigen gemacht. Da somit nur in einem Staat, der sich auf christliche Grundprinzipien bezieht, versucht werden kann, eine gerechte Politik der Gleichheit zu praktizieren, ist es gerechtfertigt, einen auf diesen Prinzipien errichteten Staat als Vorbild anzusehen.
Wenn Sie Ihr Buch abschließend in einem Satz zusammenfassen sollten, welcher wäre das?
Rilinger: Ich möchte darstellen, dass der Rekurs auf unsere christliche Tradition nicht nur unser Land und Europa, also den Westen, eine kulturelle Höhe hat erklimmen lassen, die keine andere Kultur hat erreichen können. Wenn uns aber die christliche Fundierung diese Höhe hat erlangen lassen, dann dürfte sie auch zukünftig hierzu in der Lage sein, die Entwicklung zu gestalten. Sich mit diesem Prozess zu beschäftigen ist spannend und im Übrigen auch gesellschaftlich und politisch nützlich.
Die Fragen stellten CNA Deutsch und Sebastian Sigler
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