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Prof. Kreiml: Den Blick nach oben richten

Im Alltag Gott finden

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Regensburg, 30. August 2024

Prof. Josef Kreiml ist Ansprechpartner des Bistums für alle Orden und geistlichen Gemeinschaften in der Diözese Regensburg. Heute beschäftigt er sich in seinem Text mit der Suche nach Gott im Alltag: In seinem kleinen Prosa-Werk „Am Oka-Fluss entlang“ (1970) schildert der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn (1918-2008) den Zustand der Kirchen seines Heimatlandes, aus dem er am 13. Februar 1974 von den kommunistischen Machthabern gewaltsam ins Exil ausgeflogen wurde: Beglückend ist es, wenn man diese Kirchen in der weiten Landschaft aus der Ferne sieht. Doch erschütternd ist es, sobald man sie betritt. Diesen Gegensatz kennzeichnet der Dichter mit knappen Worten, um dann ebenso kurz und treffend die Hintergründe dieses Sachverhalts aufzudecken (vgl. Rudolf Stertenbrink, In Bildern und Beispielen. Bd. 1, Freiburg 1977, S. 59).

Zeit und Gedanken der Ewigkeit widmen

Alexander Solschenizyn notiert: „Aus verstreuten Ortschaften, die füreinander unsichtbar bleiben, erheben sich die Kirchen zum gleichen Himmel. Und wo du auch durch Feld und Wiesen streifen magst, bist du doch nie allein. Jenseits der Wand des Waldes und aufgetürmter Heuschober, über die Wölbung der Erde hinweg, lockt dich immer die Spitze eines Türmchens. Beim Betreten des Dorfes jedoch erfährst du, dass nicht Lebende, sondern Erschlagene dich von weitem grüßten. Die Kreuze sind längst zerschlagen oder schief, aus der zerstörten klaffenden Kuppel ragen die Stümpfe des verrosteten Gerüstes. Auf den Dächern und in den Mauerritzen wuchert Unkraut. Die Altarbilder – vom Regen der Jahrzehnte verwaschen – sind mit schamlosen Aufschriften verschmiert. Dicht vor der Kirchentür wendet ein Traktor. Dort wieder fährt ein Lastwagen zum Tor der Kirchenvorhalle hinein und wird mit Säcken beladen. Aber das Abendläuten mahnte, die unbedeutenden, irdischen Dinge abzulegen, Zeit und Gedanken der Ewigkeit zu widmen. Dieses Läuten bewahrte die Menschen davor, zu vierbeinigen Kreaturen zu werden“ (A. Solschenizyn, Am Oka-Fluss entlang, in: Im Interesse der Sache, Neuwied 1970, S. 277 f). Man mag das Schicksal dieser Kirchen, die Alexander Solschenizyn im Blick hat, bedauern. Und doch gibt es in diesem kleinen Werk „Am Oka-Fluss entlang“ etwas, das betroffen macht. Ein Wort des heiligen Paulus macht es bewusst: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr“ (1 Kor 3,16 f).

 

Die Welt der tausend Dinge

Der Apostel Paulus hat diese Worte geschrieben, weil er wusste, wie leicht Christen vergessen können, wer sie eigentlich sind. Wir vergessen es heutzutage vor allem dann, wenn in Arbeit, Erfolg und Vergnügen unsere Hauptinteressen bestehen. So ist es durchaus möglich, dass wir plötzlich begreifen: Jene Kirchen, deren Zustand der Dichter schildert, sind wir selbst. Die Kirchen, die Alexander Solschenizyn beschreibt, sind das Spiegelbild jenes Tempels, der wir selber sind. Wem wäre nicht die Sogkraft bekannt, mit der das Alltagsleben uns Menschen von heute vielfach verschlingt? Es ist – wie es der Jesuitentheologe Karl Rahner ausgedrückt hat – die Welt „der tausend Dinge, Sorgen, Bestrebungen, wo alles durcheinanderläuft, wo alles durcheinanderredet, wo jeder seine eigenen Wünsche und Ziele verfolgt, wo der Kampf ums Dasein sich abspielt, wo man sich nicht versteht, wo es Parteien gibt. … Dazu kommt noch all die Mühsamkeit des Alltags hinzu, das Lieblose, das immer Wiederholte, das uns Anstrengende, das Sich-nicht-Lohnende des Alltags, die Grauheit unserer Stimmung, die Müdigkeit unseres Herzens, unseres Geistes. Der Alltag, so möchte man sagen, verzehrt uns so in sich hinein, dass wir meinen, es könne gar nicht anders sein, es gäbe gar nichts anderes als dieses Alltägliche, und wir selber werden dann selber durchschnittlicher Alltag, der sich selbst gar nicht mehr erkennt, sondern gleichsam innerlich in sich geschlossen, ohne einen Ausblick auf das eigentliche unendliche Leben, das wir Gott nennen, in sich selber kreist“ (K. Rahner, Schriften zur Theologie. Bd. 7, Einsiedeln 1966, S. 205-208).

 

Die Frage nach Sinn und Orientierung

Es kann nicht ausbleiben, dass ein Mensch, der nur noch dem bloßen Alltag verhaftet ist, an einem immer stärker um sich greifenden Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit leidet. Wir haben es hier mit einem Zeitphänomen zu tun, das der Begründer der Logo-Therapie – der Wiener Professor Viktor Frankl (1905-1997) – immer wieder analysiert hat (vgl. Karl Neumann, Die Krankheit der Sinnlosigkeit, in: Christ in der Gegenwart Nr. 26, 1974, S. 20). Wie sein sogenannter Logo-Test (man könnte auch sagen: Sinn-Test) deutlich gezeigt hat, wurzeln etwa 20 Prozent aller Neurosen in einem tiefen Sinnlosigkeitserleben eines Menschen. Viktor Frankl spricht in diesem Zusammenhang von Neurosen, die einem Sinnverlust entspringen. Diese beschränken sich keineswegs nur auf die westliche Welt, sondern sind auch in den Ländern des Ostens und der sog. Dritten Welt verbreitet. Solche Neurosen haben ihre Ursache in erster Linie in Existenzproblemen, in einem existentiellen Vakuum. Viktor Frankl sagt: „Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er tun muss. Und im Gegensatz zu früher sagen ihm keine Traditionen, was er tun soll“ (zitiert nach: Stertenbrink, In Bildern und Beispielen, S. 61). In dieser Orientierungslosigkeit liegen zwei Auswege nahe: Das zu wollen, was die anderen tun. Das ist Konformismus. Oder das zu tun, was die anderen wollen. Das führt zum Totalitarismus. Frankl macht auf verschiedene Fluchtmechanismen aufmerksam, mit denen der Mensch seiner inneren Leere zu entfliehen sucht. Neben dem Vergnügen dient vielen die Arbeit als Mittel zur Betäubung. Eine noch direktere Möglichkeit, die existentielle Leere zu betäuben, ist die Flucht in den Rausch. Ist einer dem Alkohol oder den Drogen verfallen, dann liegen dieser Sucht zu 90 Prozent Existenzprobleme zugrunde, die aus einem starken Sinnlosigkeitsgefühl erwachsen.

 

Hinausgehen über sich selbst

In diesem Zusammenhang nimmt Viktor Frankl auch zu einem heute weitverbreiteten psychologischen Modell Stellung, nach dem sich die Zufriedenheit des Menschen aus der Befriedigung seiner „Bedürfnisse“ ergeben soll. Mit diesem Modell wird das Eigentliche des Menschen verfehlt. Denn das Eigentliche des Menschen entfaltet sich erst dort, wo sich der Mensch nicht mehr um sich selbst dreht. „Der Mensch ist zutiefst nicht bekümmert um sich selbst, sondern um etwas anderes oder um einen anderen. Ganz ist der Mensch dort, wo er sich vergisst über etwas anderem. … Ein gesundes Auge sieht sich selbst nicht. Der Mensch ist ganz er selbst in dem Maße, in dem er aufgeht in einer Aufgabe, im Dienst an einer Sache oder in einer Person. Gerade dann verwirklicht er sich selbst“ (zitiert nach: ebd., S. 62). Der Mensch verwirklicht sich in der Selbsttranszendenz, d. h. im Hinausgehen über sich selbst. Die Logotherapie ist – so Viktor Frankl – offen auf das Theologische hin. Wie sich die Kirchen mit ihren Türmen aus den Ortschaften zum gleichen Himmel erheben, so muss der Mensch über sich selbst hinauswachsen. Andernfalls fällt er der Sinnleere anheim. Wie werden wir also zu dem, was wir als Christen sein sollen? Unüberhörbar sagt uns Alexander Solschenizyn: Es muss in unserem Alltagsleben Augenblicke geben, in denen wir die begrenzten irdischen Dinge ablegen, um Zeit und Gedanken dem Ewigen zu widmen. Wer dies tut, bleibt seinem ureigenen Wesen als Mensch treu und bewahrt sich seine göttliche Innerlichkeit. Verliert ein Mensch diese Blickrichtung, weil er nicht mehr an dem interessiert ist, was über ihm ist, wendet er seine ganze Aufmerksamkeit nur noch den Dingen unter ihm zu, dann hat er aufgehört, ein Mensch zu sein. „Denn seine Würde empfängt der Mensch von oben, von dem, was über allem irdischen Wechsel und Wandel erhaben ist, vom Bleibenden und Ewigen, vom Unvergänglichen und Göttlichen“ (ebd., S. 63).

 

Auf Gott schauen

Der Apostel Paulus hat dies durch seinen lebendigen Glauben an den auferstandenen Herrn erfahren. So kann er sagen: „Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so strebt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt! Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische!“ (Kol 3,1 f). Der Blick auf das Himmlische wird von alters her „Kontemplation“ genannt. Das heißt vom Wortsinn her: in den Tempel, in die Sphäre des Heiligen, eintreten, um nichts anderes zu tun als still und schweigsam auf Gott zu schauen – wie ein Kind auf Vater und Mutter schaut. Der hl. Pfarrer von Ars berichtete einmal von einem Mann, der frühmorgens aufs Feld zur Arbeit ging, aber zuvor noch in der Kirche verweilte. Der Pfarrer von Ars beschrieb die Szene so: „Er blickte den lieben Gott an, und der liebe Gott blickte ihn an. Alles liegt daran“ (zitiert nach: ebd., S. 64). Hier liegt das Entscheidende aller Kontemplation: vor Gott Kind sein – schauend, liebend, sich freuend.

 

Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Leiter der Hauptabteilung Orden und Geistliche Gemeinschaften im Bistum Regensburg

Foto: Stockarchive

(chb)

 

 



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