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Christlicher Humanismus

Die humanisierende Kraft des Evangeliums

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Regensburg, 17. August 2023

Der Begriff Humanismus findet heute „immer öfter als Gegenbegriff zu allen Formen des religiösen Glaubens, Denkens und Handelns Verwendung“ (Sigmund Bonk). Ein solcher Gebrauch entspricht in keiner Weise der Begriffsgeschichte.

Erasmus von Rotterdam (um 1467-1536) hat mit seinem Werk „Colloquia familiaria“ das „Grundbuch des christlichen Humanismus“ verfasst. Noch schöner und tiefer ist der Humanismus christlicher Prägung bei Franz von Sales angelegt: Man darf – so der Heilige – getrost behaupten, dass die Humanität eines Menschen in dem Maße wächst, wie dieser Christus, dem Gottmenschen, ähnlicher wird. Der Begriff des Humanismus sollte nicht jenen überlassen werden, die nur die – auf eine materialistische Weise verstandenen – Naturwissenschaften im Verein mit einer naiven Fortschrittsideologie gelten lassen und „alles Menschliche gewaltsam in diesen engen Rahmen pressen wollen“ (S. Bonk).

Der Mensch – ein religiöses Wesen

Zum Wesen des Menschen gehören Vernunft, Arbeit, Spiel, wirtschaftliches Handeln und vieles mehr. In pluralistischen Gesellschaften wird die Frage, ob er auch ein religiöses Wesen ist, kontrovers diskutiert. Weltweit gibt es heute viel Religiosität, durchgehaltene alte Religion, aber auch wiederkehrende Religiosität. Andererseits gibt es besonders in Europa viel Gleichgültigkeit und sogar Ablehnung gegenüber Religion, zumal gegenüber dem Christentum. Im Panorama der Wissenschaften und der Kunst kommt aber nach längerem Verschweigen das Thema Religion wieder öfter zur Sprache. Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Martin Walser hat gesagt: „Wenn ich von einem Atheisten … höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir“ (zitiert nach: Egon Kapellari, Was ist der Mensch? [2012], in: ders., Schritte zur Mitte, Wien 2016, 20).

Die Kirche als „Beseelung“ der Zivilgesellschaft

Europa ist im globalen Kontext gerade heute zu einer verstärkten Suchbewegung herausgefordert. Diese Herausforderung betrifft Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und die Religionen, auch das Christentum. Was die katholische Kirche angeht, so trägt sie trotz Fehlern und Schwächen in den Ländern Europas sehr viel dazu bei, um die Zivilgesellschaft zu beseelen, nicht zuletzt auch durch den oft verborgenen Dienst der Fußwaschung als Konsequenz von Empathie und Sehnsucht nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Der österreichische Bischof Egon Kapellari ist davon überzeugt, dass „auch Agnostiker kein Interesse daran haben sollten, Religionen aus der Öffentlichkeit ins Private zu verdrängen, wenn diese Religionen soziale Gerechtigkeit und Empathie fördern“ (zitiert nach: J. Kreiml, Christlicher Humanismus. Überlegungen von Bischof Egon Kapellari, in: S. Biber / V. Neumann [Hg.], Christlicher Humanismus, Regensburg 2019, S. 195). Bert Brecht, der kein Christ war, sondern sich als Agnostiker oder Atheist verstanden, aber die Bibel als sein wichtigstes Buch bezeichnet hat, bringt in seinem Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ in einem ebenso poetischen wie hochmoralischen Text zum Ausdruck, dass die Taubheit des Herzens einen hohen humanen Preis hat.

Der Mensch – ein Geschöpf Gottes

Gerade in Europa sollte die das Verhalten der Menschen prägende Kraft des Christentums nicht unterschätzt werden. Die christlichen Kirchen beseelen und tragen einen großen Teil des Lebens der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang hat der Philosoph Peter Strasser auf die Bedeutung des jüdisch-christlichen Begriffs der Kreatürlichkeit hingewiesen: „Man hört Dostojewskijs Regel nur ungern, aber wahr ist sie trotzdem: Wenn wir uns nicht als Teil der Schöpfung begreifen können oder wollen, sondern bloß als Teil einer … Entfaltung des Lebens in einem wertfreien Universum, dann ist uns im Grunde alles erlaubt. Wir müssen nur mächtig genug sein, um das, was wir wollen, auch durchzusetzen“ (zitiert nach ebd., S. 196).

Humanität im Horizont Gottes

Für das heutige europäische Denken ist die Unantastbarkeit und Würde der menschlichen Person, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) zum Ausdruck gebracht wurde, trotz vielfacher Missachtungen dieser Rechte unaufgebbar. Nach christlichem Verständnis ist die Würde des Menschen in Gott begründet. Aus biblischer Sicht ist der Mensch – so Bischof Kapellari – auf einen offenen Himmel hin bezogen. „Das stellt eine heillose Absolutsetzung des Irdischen immer wieder in Frage und öffnet sie auf das Absolute Gottes hin. Humanität gedeiht im offenen Horizont Gottes“ (zitiert nach ebd., S. 198). Gott begründet in seiner Menschwerdung eine unüberbietbare Würde des Menschen und offenbart sich in der von Jesus Christus gelebten Hinwendung zu leidenden und bedürftigen Menschen als Liebe. Der christliche Glaube bleibt eine lebendige Quelle für Europa, von der viele heilende Kräfte für die Zivilgesellschaft ausgehen.

Christliche Kräfte, die die Gesellschaft tragen

Über siebzig Prozent der Gesamtbevölkerung Europas sind getaufte Christen. Viele Getaufte ziehen daraus freilich kaum lebenspraktische Konsequenzen; aber die Zahl der wirklich lebendigen Christen ist viel größer, als dies in der veröffentlichten Meinung bekannt ist. Zur Grundmelodie des Redens über Religion gehört in Ländern wie Deutschland und Österreich seit Jahrzehnten das Aufzeigen von Schwächen und Fehlern der Kirche. Solche Fehler sollten wir „nicht verstecken“ (E. Kapellari). Aber die Kirche hat gegenüber der Zivilgesellschaft „einen moralischen Anspruch darauf, dass unsere auch die Gesellschaft im Ganzen tragenden Kräfte und Dienste nicht übersehen werden“ (zitiert nach ebd., S. 200). Seit einiger Zeit gibt es aber auch eine andere, eine neue Melodie im Reden über die Kirche. Der Journalist Bernd Ulrich weist darauf hin, dass Religion weltweit eine Renaissance erlebt, und dies aus Gründen, die tief gehen. Die Religiösen werden immer mehr und immer jünger. Für Deutschland konstatiert Ulrich seit den 1980er-Jahren eine stille, aber folgenreiche Wende vom Nicht-mehr-glauben-Wollen zum Wieder-glauben-Wollen (aber oft Nicht-mehr-glauben-Können). Dieser bescheidenen, noch labilen Rückwendung zum Christentum solle die Kirche weder zu hart noch zu weich begegnen: weder durch Fundamentalismus noch durch Weichspülung des Glaubens. Diese Mitte erscheine allerdings vielen potentiellen Gläubigen, aber auch vielen Geistlichen als zu anstrengend. Die Kirche ist in erster Linie dazu da, auf Gott hinzuweisen und „ihm in Gebet und Liturgie eine lobende, dankende und bittende Antwort zu geben auf das Wort, das er durch Schöpfung und Erlösung gesprochen hat und immer neu spricht“ (E. Kapellari). In dem Maß, in dem die Kirche Gott wirklich liebt, bleibt sie auch eine Quelle der Liebe zu den Menschen.

Christen sind Freunde des Lebens

Religion befindet weltweit keineswegs auf dem Rückzug, im Gegenteil. Als kirchlich verfasstes Christentum ist Religion in Europa vielfach in einem starken Wandel begriffen. Viele Menschen trauen der katholischen Kirche auch für die Zukunft eine große Kraft zu, wenn sie abseits der Extreme von Lauheit und fundamentalistischer Verschlossenheit ein markantes Profil ausprägen kann. Dazu bedarf es einer tiefen Einwurzelung im Glauben und einer großen Herzenskraft. Bewusste Christen und ihre Gemeinschaften im heutigen Europa sollten selbstbewusster sein und sich nicht einschüchtern lassen. „Europa hat keinen Grund, sich des Christentums zu schämen und es zu verstecken“ (zitiert nach ebd., S. 202). Bischof Kapellari ist der Überzeugung, dass der Islam, der Europa und sich selbst viele offene Fragen aufgibt, „die für Politik, Medien und Kultur besonders Verantwortlichen der europäischen Zivilgesellschaft zu einem generell unbefangeneren Umgang mit der christlich-europäischen Tradition, mit ihrer Spiritualität und ihren Werten veranlassen“ wird. Ernsthafte Christen sind Freunde des Lebens, sei es geboren oder ungeboren, entfaltet oder behindert. Sie sind dabei weder sich noch anderen bequem. Die Europäische Union wäre sehr viel schwächer, wenn ihr die christliche Inspiration und die christliche Praxis in einem weiter voranschreitenden Maß entzogen würden.

Gelebtes Christentum als Bollwerk gegen totalitaristische Kräfte

Die versuchte Privatisierung der Religion, z. B. die in Frankreich seit 1905 praktizierte Totalzurückdrängung der Religion, scheitert am Islam, der in seinem Grundmodell keine Trennung von Religion und Gesellschaft kennt. Wir sehen weltweit, dass der Islam eine eminent politische Kraft ist. „Man sollte im Westen überlegen, ob der Versuch, das Christentum total zurückzudrängen und zur Privatsache zu erklären, in einem Weltpanorama, in dem sich der Islam nicht zurückdrängen lässt, nicht ein Rezept ist, das den Westen und Norden unseres Globus sehr beschädigen würde. Es würde ein Vakuum entstehen, wenn sich das Christentum als gestaltende Kraft in Europa zurückzöge. Das tut es freilich nicht. Aber von vis-à-vis versucht man da und dort, es so weit zu bringen. Es würden dann noch größere Hohlräume entstehen und Hohlräume würden einbrechen. In dieses Vakuum würden totalitaristische Kräfte einfließen, seien sie religiös oder anarchistisch“ (E. Kapellari).

Glauben Sie wirklich an Gott?

Heiner Koch, der Erzbischof von Berlin, hat von einer Begegnung mit einem nicht mehr jungen Bürger der ehemaligen DDR am Ende einer Bahnfahrt erzählt. Der Bischof war an seiner Kleidung als Bischof erkennbar, und dieser Mann hat ihn nach dem Aussteigen am Bahnhof angesprochen und gesagt: „Sie sind ein Geistlicher, erlauben Sie mir zwei Fragen: Glauben Sie wirklich an Gott? Und glauben Sie, dass nach dem Tod noch etwas ist?“ Der Bischof hat dies klarerweise bejaht; der Mann sagte dann zum Bischof: „Darum beneide ich Sie.“ Solche Fragen richten sich nicht nur an Priester und Bischöfe, sondern an alle Christen, von denen man annimmt, dass sie wirklich das glauben, was zur Mitte ihres Glaubens gehört.

Was fehlt, wenn Gott fehlt?

Weltweit ist Gott heute für unzählige Menschen eine zutiefst lebensprägende Wirklichkeit. In der westlichen Welt leben freilich auch viele Menschen so, als ob es Gott nicht gäbe. Kardinal Gianfranco Ravasi hat festgestellt, dass im Westen „die Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach dem Sinn des Lebens und ein beliebiges Vermengen verschiedener Religionen für die katholische Kirche die größte Herausforderung“ (zitiert nach ebd., S. 206) darstellt. Atheisten im eigentlichen Sinn sind mittlerweile eine Minderheit. Philosophen wie Jürgen Habermas und Schriftsteller wie Martin Walser stellen aber gerade vor diesem Hintergrund die eindringliche Frage: „Was fehlt, wenn Gott fehlt?“ Wer Gott wirklich gefunden hat, wird versuchen, ihn auch anderen Menschen einladend zu zeigen. „Die stärkste Kraft dafür ist ein glaubhaftes Leben als Mensch und Christ mit viel Solidarität und Empathie innerhalb der Kirche und über alle ihre Grenzen hinaus. Erst auf dieser Basis werden Argumente wirksam, die suchende Menschen zu Gott führen und Kirche als Heimat erschließen wollen“ (E. Kapellari). Die weltweite Christenheit ist im Ganzen eine Großmacht der Barmherzigkeit. Andererseits ist sie vor allem im Westen „angefochten durch Lauheit, durch mangelndes Wissen über den Glauben und ein Übermaß von Individualisierung auf Kosten von gemeinsamem Gebet und Gottesdienst. Die Christenheit ist heute aber weltweit auch eine Gemeinschaft der Märtyrer, zumal auch in Auseinandersetzung mit einem fundamentalistischen Islam. Das Blut dieser Märtyrer wird … auch der Same für neue Christen sein“ (E. Kapellari).

Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml

(kw)



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