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Brief des Heiligen Vaters Franziskus

Über die Bedeutung der Literatur in der Bildung

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Rom / Regensburg, 21. August 2024

Im Rom hat sich Papst Frankziskus zur Bedeutung guter und weiterführender Bücher geäußert. Für ihn sind sie als Grundlage der Bildung wichtig, weil sie zugleich eine Basis für die Entwicklung des Glaubens bei jedem Einzelnen darstellen und so, auch wenn sie vielleicht auch ganz weltlich anmuten, ein Stück Heilsgeschehen darstellen.

Brief des Hiligen Vaters Franziskus über die Bedeutung der Literatur in der Bildung

1. Ursprünglich hatte ich einen Titel formuliert, der sich auf die Ausbildung von Priestern bezog, aber dann dachte ich, dass man diese Punkte analog auch über die Ausbildung aller pastoralen Mitarbeiter und aller Christen sagen kann. Ich beziehe mich auf den Wert der Lektüre von Romanen und Gedichten auf dem Weg der persönlichen Reifung.

2. Oft wird in der Langeweile des Urlaubs, in der Hitze und Einsamkeit verlassener Stadtviertel ein gutes Buch zu einer Oase, die uns von anderen Entscheidungen, die uns nicht guttun, abhält. Dann gibt es die Momente der Müdigkeit, des Ärgers, der Enttäuschung, des Scheiterns, und wenn es uns nicht einmal im Gebet gelingt, zur Ruhe zu kommen, dann hilft uns ein gutes Buch zumindest, den Sturm zu überstehen, bis wir ein wenig mehr Gelassenheit finden können. Und vielleicht eröffnet uns die Lektüre neue innere Räume, die uns helfen, uns nicht in jenen wenigen zwanghaften Ideen zu verschließen, die uns unerbittlich gefangen halten. Vor der Allgegenwart von Medien, sozialen Netzwerken, Mobiltelefonen und anderen Geräten war dies eine häufige Erfahrung, und diejenigen, die sie gemacht haben, wissen, wovon ich spreche. Das ist nicht etwas Überholtes.

3. Im Gegensatz zu den audiovisuellen Medien, bei denen das Produkt vollständiger ist und der Spielraum und die Zeit, die Erzählung zu „bereichern“ oder zu interpretieren, in der Regel geringer sind, ist der Leser beim Lesen eines Buches viel aktiver. Er schreibt das Werk in gewisser Weise um, erweitert es mit seiner Vorstellungskraft, erschafft eine Welt, nutzt seine Fähigkeiten, sein Gedächtnis, seine Träume, seine eigene Geschichte voller Dramatik und Symbolik, und so entsteht ein Werk, das sich von dem unterscheidet, das der Autor zu schreiben beabsichtigte. Ein literarisches Werk ist also ein lebendiger und stets fruchtbarer Text, der in der Lage ist, auf vielfältige Weise erneut zu sprechen und mit jedem Leser, dem er begegnet, eine originelle Synthese zu bilden. Bei der Lektüre wird der Leser durch das, was er vom Autor erhält, bereichert, was ihm aber gleichzeitig erlaubt, sich im Reichtum seiner eigenen Person zu entfalten, so dass jedes neue Werk, das er liest, sein persönliches Universum erneuert und erweitert.

4. Dies führt mich dazu, die Tatsache sehr positiv zu bewerten, dass wir zumindest in einigen Priesterseminarien die Besessenheit von Bildschirmen  ̶  und von den giftigen, oberflächlichen und gewalttätigen Fake News  ̶  überwinden und der Literatur Zeit widmen, Momente der ruhigen und freien Lektüre, um über diese Bücher, neue oder alte, die uns weiterhin so viel sagen, zu sprechen. Generell muss man jedoch mit Bedauern feststellen, dass in der Ausbildung derjenigen, die sich auf dem Weg zum geweihten Amt befinden, die Beschäftigung mit der Literatur derzeit keinen angemessenen Platz einnimmt. Letztere wird nämlich oft als eine Form der Unterhaltung betrachtet, d. h. als ein unbedeutender Ausdruck der Kultur, der nicht zum Weg der Vorbereitung und damit zur konkreten pastoralen Erfahrung der künftigen Priester gehört. Mit wenigen Ausnahmen wird die Beschäftigung mit der Literatur als etwas Unwesentliches betrachtet. Diesbezüglich möchte ich sagen, dass dieser Ansatz nicht gut ist. Er ist die Ursache für eine ernsthafte intellektuelle und spirituelle Verarmung der künftigen Priester, die so eines privilegierten Zugangs zum Herzen der menschlichen Kultur und insbesondere zum Herzen des Menschen durch die Literatur beraubt werden.

5. Mit diesem Beitrag möchte ich einen radikalen Kurswechsel hinsichtlich der großen Aufmerksamkeit anregen, die der Literatur im Rahmen der Ausbildung der Priesteramtskandidaten gewidmet werden muss. In dieser Hinsicht finde ich das, was ein Theologe sagt, sehr wirkungsvoll:

»Die Literatur [...] entspringt der Person im Unzurückführbaren, in ihrem Geheimnis [...]. Es ist das Leben, das sich seiner selbst bewusst wird, wenn es die Fülle des Ausdrucks erreicht und alle Mittel der Sprache in Anspruch nimmt«.1

6. Die Literatur hat also auf die eine oder andere Weise mit dem zu tun, was jeder von uns vom Leben wünscht, denn sie tritt in eine innige Beziehung zu unserer konkreten Existenz, mit ihren wesentlichen Spannungen, Wünschen und Bedeutungen.

7. Das habe ich als junger Mensch mit meinen Schülern gelernt. Zwischen 1964 und 1965, als ich 28 Jahre alt war, war ich Literaturlehrer in Santa Fe an einer Jesuitenschule. Ich unterrichtete die letzten beiden Jahre des Gymnasiums und musste meine Schüler dazu bringen, El Cid zu studieren. Aber den Jugendlichen gefiel es nicht. Sie wollten lieber García Lorca lesen. Also beschloss ich, dass sie El Cid zu Hause lernen sollten, und im Unterricht würde ich die Autoren behandeln, die den Jugendlichen am meisten gefielen. Natürlich wollten sie auch zeitgenössische literarische Werke lesen. Aber während sie das lasen, was sie im Moment interessierte, fanden sie allgemeiner Gefallen an der Literatur, der Poesie, um dann zu anderen Autoren überzugehen. Letztlich sucht das Herz nach mehr, und jeder findet seinen eigenen Weg in der Literatur.2 Ich zum Beispiel liebe tragische Künstler, weil wir alle ihre Werke als unsere eigenen empfinden können, als Ausdruck unserer eigenen Dramen. Wenn wir über das Schicksal der Figuren weinen, weinen wir auch über uns selbst und unsere eigene Leere, unsere eigenen Unzulänglichkeiten, unsere eigene Einsamkeit. Natürlich verlange ich nicht von euch, dass ihr zu den gleichen Lektüren greift wie ich. Jeder wird die Bücher finden, die sein eigenes Leben ansprechen und zu wahren Wegbegleitern werden. Nichts ist kontraproduktiver, als etwas aus Pflichtgefühl zu lesen, sich anzustrengen, nur weil andere gesagt haben, es sei wichtig. Nein, wir müssen unsere Lektüre mit Offenheit, Überraschung, Flexibilität aussuchen, uns beraten lassen, aber auch mit Aufrichtigkeit und versuchen, das zu finden, was wir in jedem Moment unseres Lebens brauchen.

Glaube und Kultur

8. Für einen Gläubigen, der aufrichtig mit der Kultur seiner Zeit oder einfach mit dem Leben konkreter Menschen in Dialog treten will, wird die Literatur darüber hinaus unverzichtbar. Mit gutem Grund stellt das Zweite Vatikanische Konzil fest, dass »die Literatur und die Künste [...] sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen« bemühen und »seine Elend und seine Freude, seine Not und seine Kraft schildern«.3 In Wahrheit schöpft die Literatur aus der Alltäglichkeit des Lebens, aus seinen Leidenschaften und aus ihren realen Ereignissen wie »bei der Tat, bei Arbeit, bei Liebe, Tod und bei all den schäbigen Dingen, die das Leben erfüllen«.4

9. Wie können wir zum Herzen der alten und neuen Kulturen vordringen, wenn wir ihre Symbole, Botschaften, Kreationen und Erzählungen nicht kennen, verwerfen und/oder zum Schweigen bringen, mit denen sie ihre schönsten Taten und Ideale, aber auch ihre tiefste Heftigkeit, ihre Ängste und Leidenschaften erfassen und zum Ausdruck bringen wollten? Wie können wir zu den Herzen der Menschen sprechen, wenn wir „die Worte“, mit denen sie die Dramatik ihres Lebens und Fühlens in Romanen und Gedichten zum Ausdruck bringen wollten, ignorieren, verwerfen oder nicht würdigen?

10. Die kirchliche Mission konnte ihre ganze Schönheit, Frische und Neuartigkeit in der Begegnung mit den verschiedenen Kulturen entfalten, in denen sie  ̶  oft dank der Literatur  ̶  Wurzeln geschlagen hat, ohne Angst, sich selbst aufs Spiel zu setzen und das Beste von dem herauszuholen, was sie vorgefunden hat. Diese Haltung hat sie von der Versuchung eines ohrenbetäubenden und fundamentalistischen Solipsismus befreit, der darin besteht, zu glauben, dass eine bestimmte kulturgeschichtliche Grammatik den ganzen Reichtum und die ganze Tiefe des Evangeliums auszudrücken vermag.5 Viele der Untergangsprophezeiungen, die heute versuchen, Verzweiflung zu säen, kommen genau von diesem Aspekt her. Der Kontakt mit verschiedenen literarischen und grammatikalischen Stilen wird es immer ermöglichen, die Polyphonie der Offenbarung zu vertiefen, ohne sie auf die eigenen historischen Bedürfnisse oder Denkstrukturen zu reduzieren oder verarmen zu lassen.

11. Es ist also kein Zufall, dass beispielsweise das frühe Christentum die Notwendigkeit einer engen Auseinandersetzung mit der klassischen Kultur seiner Zeit sehr wohl erkannt hatte. Ein Vater der Ostkirche wie Basilius von Cäsarea beispielsweise pries in seinem Mahnwort an die Jugend, das er zwischen 370 und 375 verfasste und das er wahrscheinlich an seine Neffen richtete, die Kostbarkeit der klassischen Literatur  ̶  die von den éxothen („den Außenstehenden“) hervorgebracht wurde, wie er die heidnischen Autoren nannte  ̶  sowohl für die Argumentation, d. h. für die lógoi („Reden“), die in der Theologie und der Exegese zu verwenden sind, als auch für das Zeugnis im Leben selbst, d. h. für die práxeis („Handlungen, Verhalten“), die in der Askese und Moral zu berücksichtigen sind. Und er schloss mit der Aufforderung an die jungen Christen, die Klassiker als ephódion („viaticum“) für ihre Bildung und Ausbildung zu betrachten, um aus ihnen „Gewinn für die Seele“ zu ziehen (IV, 8 – 9). Und gerade aus dieser Begegnung des christlichen Ereignisses mit der Kultur der Zeit entstand eine originelle Neugestaltung der Verkündigung des Evangeliums.

12. Dank der dem Evangelium gemäßen Unterscheidung der Kulturen ist es möglich, die Gegenwart des Geistes in der vielgestaltigen menschlichen Wirklichkeit zu erkennen, d. h. es ist möglich, den bereits gepflanzten Samen der Gegenwart des Geistes in den Ereignissen, Empfindungen, Wünschen, tiefen Spannungen der Herzen und sozialen, kulturellen und geistlichen Kontexten zu erfassen. Wir können zum Beispiel in der Apostelgeschichte, wo die Anwesenheit des Paulus auf dem Areopag erwähnt wird (vgl. Apg 17,16 – 34), einen ähnlichen Ansatz erkennen. Paulus spricht von Gott und sagt: »Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht« ( Apg 17,28). Dieser Vers enthält zwei Zitate: ein indirektes im ersten Teil, in dem der Dichter Epimenides (6. Jh. v. Chr.) zitiert wird, und ein direktes, in dem die Phenomena des Dichters Aratus von Silo (3. Jh. v. Chr.) zitiert werden, der die Sternbilder und die Zeichen des guten und schlechten Wetters besingt. »Hier erweist sich Paulus als „Leser“ der Poesie und zeigt seine Art, sich dem literarischen Text zu nähern. Er wird von den Athenern als spermologos bezeichnet, also als „Krähe, Schwätzer, Scharlatan“, was aber wörtlich „Samensammler“ bedeutet. Was sicherlich eine Beleidigung war, scheint paradoxerweise eine tiefe Wahrheit zu sein. Paulus greift die Samen der heidnischen Dichtung auf und aus einer früheren Haltung tiefer Entrüstung heraus (vgl. Apg 17,16) erkennt er die Athener als „sehr religiös“ an und sieht in diesen Seiten ihrer klassischen Literatur eine wahre preparatio evangelica«.6

13. Was hat Paulus getan? Er hat verstanden, dass »die Literatur die Abgründe des Menschen aufdeckt, während die Offenbarung und dann die Theologie sie aufgreift, um zu zeigen, wie Christus sie durchquert und erleuchtet«.7 Auf dem Weg zu diesen Abgründen ist die Literatur also ein „Zugang“,8 der dem Seelsorger hilft, in einen fruchtbaren Dialog mit der Kultur seiner Zeit zu treten.

Niemals ein Christus ohne Leib

14. Bevor ich auf die konkreten Gründe eingehe, warum die Beschäftigung mit der Literatur auf dem Weg der Ausbildung künftiger Priester gefördert werden sollte, möchte ich an dieser Stelle einen Gedanken zum aktuellen religiösen Kontext in Erinnerung rufen: »Die Rückkehr zum Sakralen und die spirituelle Suche, die unsere Zeit kennzeichnen, sind doppeldeutige Erscheinungen. Mehr als im Atheismus besteht heute für uns die Herausforderung darin, in angemessener Weise auf den Durst vieler Menschen nach Gott zu antworten, damit sie nicht versuchen, ihn mit irreführenden Antworten oder mit einem Jesus Christus ohne Leib und ohne Einsatz für den anderen zu stillen«.9 Die dringende Aufgabe, das Evangelium in unserer Zeit zu verkünden, verlangt daher von den Gläubigen und insbesondere von den Priestern die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass jeder einem fleischgewordenen, menschgewordenen und in die Geschichte eingetretenen Jesus Christus begegnen kann. Wir alle müssen darauf achten, das „Fleisch“ Jesu Christi nie aus den Augen zu verlieren: dieser Leib, der aus Leidenschaften, Emotionen, Gefühlen, konkreten Geschichten, Händen, die berühren und heilen, Blicken, die befreien und ermutigen, Gastfreundschaft, Vergebung, Empörung, Mut, Unerschrockenheit besteht, mit einem Wort: aus Liebe.

15. Und gerade auf dieser Ebene kann eine eifrige Beschäftigung mit der Literatur die künftigen Priester und alle pastoralen Mitarbeiter noch sensibler für die volle Menschheit Jesu, des Herrn, werden lassen, in die sich seine Gottheit vollständig hineingibt, und das Evangelium so verkünden, dass alle, wirklich alle, erfahren können, wie wahr es ist, was das Zweite Vatikanische Konzil erklärt: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf«.10 Damit ist nicht das Geheimnis einer abstrakten Menschheit gemeint, sondern das Geheimnis des konkreten Menschen mit allen Wunden, Sehnsüchten, Erinnerungen und Hoffnungen seines Lebens.

Ein hohes Gut

16. Aus pragmatischer Sicht behaupten viele Wissenschaftler, dass die Gewohnheit des Lesens viele positive Auswirkungen auf das Leben eines Menschen hat: Sie hilft ihm, einen größeren Wortschatz zu erwerben und folglich verschiedene Aspekte seiner Intelligenz zu entwickeln. Es regt auch die Phantasie und Kreativität an. Gleichzeitig lernt der Mensch, sich in seinen Erzählungen besser auszudrücken. Außerdem verbessert sie die Konzentrationsfähigkeit, verringert kognitive Beeinträchtigungen und baut Anspannung und Ängste ab.

17. Besser noch: Es bereitet uns darauf vor, die verschiedenen Situationen, die im Leben auftreten können, zu verstehen und damit umzugehen. Beim Lesen tauchen wir in die Charaktere, die Sorgen, die Dramen, die Gefahren, die Ängste von Menschen ein, die die Herausforderungen des Lebens letztlich gemeistert haben, oder wir geben den Figuren während der Lektüre vielleicht Ratschläge, die uns später selbst dienen werden.

18. Um das Lesen wieder zu fördern, zitiere ich gerne einige Texte bekannter Autoren, die uns mit wenigen Worten so viel lehren:

Romane setzen »in einer Stunde alle möglichen Freuden und Unglücke in uns frei, für die wir im Leben ganze Jahre bräuchten, um sie auch nur im Geringsten zu kennen, und von denen sich uns die intensivsten nie offenbaren würden, weil die Langsamkeit, mit der sie auftreten, uns daran hindert, sie wahrzunehmen«.11

»Wenn ich die großen Werke der Literatur lese, werde ich zu Tausenden von Menschen und bleibe doch gleichzeitig ich selbst. Wie der Nachthimmel der griechischen Poesie sehe ich mit unzähligen Augen, aber immer bin ich es, der sieht. Hier wie in der Religion, in der Liebe, im sittlichen Handeln und im Wissen übertreffe ich mich selbst, und doch bin ich dann mehr ich selbst als je zuvor«.12

19. Es ist jedoch nicht meine Absicht, nur auf dieser Ebene des persönlichen Nutzens zu verweilen, sondern über die entscheidenden Gründe nachzudenken, um die Liebe zum Lesen wiedererwecken.

Der Stimme von jemandem zuhören

20. Wenn ich über Literatur nachdenke, fällt mir ein, was der große argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges13 seinen Studenten zu sagen pflegte: Das Wichtigste ist, zu lesen, in direkten Kontakt mit der Literatur zu kommen, in den lebendigen Text vor uns einzutauchen, anstatt sich auf Ideen und kritische Kommentare zu fixieren. Und Borges erklärte seinen Schülern diese Idee, indem er ihnen sagte, dass sie vielleicht zunächst wenig von dem, was sie lesen, verstehen würden, aber dass sie auf jeden Fall „die Stimme von jemandem“ hören würden. Das ist eine Definition von Literatur, die mir sehr gefällt: die Stimme von jemandemhören. Und vergessen wir nicht, wie gefährlich es ist, nicht mehr auf die Stimme des anderen zu hören, der uns befragt! Wir fallen sofort in die Selbstisolierung, wir geraten in eine Art „geistige“ Taubheit, die sich auch negativ auf unsere Beziehung zu uns selbst und auf unsere Beziehung zu Gott auswirkt, ganz gleich, wie viel Theologie oder Psychologie wir studieren konnten.

21. Auf diesem Weg, der uns für das Geheimnis der anderen sensibilisiert, können wir durch die Literatur lernen, ihre Herzen zu berühren. Wie könnte man an dieser Stelle nicht an das mutige Wort erinnern, das der heilige Paul VI. am 7. Mai 1964 an die Künstler und damit auch an die großen Schriftsteller richtete? Er sagte: »Wir brauchen euch. Unser Dienst ist auf eure Mitarbeit angewiesen. Denn, wie ihr wisst, besteht Unser Dienst darin, die Welt des Geistes, des Unsichtbaren, des Unaussprechlichen, Gottes zu verkünden und zugänglich und verständlich, ja sie ergreifend zu machen. Und in diesem Vorgang, der die unsichtbare Welt in zugängliche, verständliche Formeln überträgt, seid ihr Meister«.14 Das ist der springende Punkt: Die Aufgabe der Gläubigen und insbesondere der Priester besteht gerade darin, das Herz der Menschen von heute zu „berühren“, damit sie angerührt werden und sich für die Verkündigung Jesu, des Herrn, öffnen, und in diesem Bemühen ist der Beitrag, den die Literatur und die Poesie leisten können, von unschätzbarem Wert.

22. T.S. Eliot, der Dichter, dem der christliche Geist zeitgenössische literarische Werke verdankt, hat die moderne religiöse Krise zu Recht als eine weit verbreitete „emotionale Unfähigkeit“ beschrieben.15 Im Lichte dieser Lesart der Wirklichkeit besteht das Problem des Glaubens heute nicht in erster Linie darin, mehr oder weniger an die Lehrsätze zu glauben. Es geht vielmehr um die Unfähigkeit so vieler Menschen, sich angesichts Gottes, seiner Schöpfung, der anderen Menschen anrühren zu lassen. Hier besteht also die Aufgabe, unsere Sensibilität zu heilen und zu bereichern. Deshalb habe ich nach meiner Rückkehr von der Apostolischen Reise nach Japan auf die Frage, was der Westen vom Osten zu lernen habe, geantwortet: »Ich glaube, dass es dem Westen ein wenig an Poesie fehlt«.16

Eine Art Schule für das Unterscheidungsvermögen

23. Was also hat der Priester von diesem Kontakt mit der Literatur? Warum ist es notwendig, die Lektüre großer Romane als einen wichtigen Bestandteil der priesterlichen Paideia zu betrachten und zu fördern? Warum ist es wichtig, die vom Theologen Karl Rahner skizzierte Intuition einer tiefen geistlichen Verwandtschaft zwischen Priester und Dichter in der Ausbildung der Priesteramtskandidaten wieder aufzunehmen und umzusetzen?17

24. Versuchen wir, diese Fragen zu beantworten, indem wir auf die Überlegungen des deutschen Theologen hören.18 Die Worte des Dichters, schreibt Rahner, sind »Worte der Sehnsucht«, sie sind »Tore zur Unendlichkeit, Tore ins Unübersehbare. Sie rufen das Ungenannte. Sie strecken sich aus nach dem Ungreifbaren«. Dieses dichterische Wort, »das Offenstehen ins Unendliche, das [es] ist, gibt nicht selber das Unendliche, bringt nicht und birgt nicht den Unendlichen«. Dies ist in der Tat dem Wort Gottes eigen, und  ̶  so Rahner weiter  ̶  »das dichterische Wort ruft darum Gottes Wort«.19 Für die Christen ist das Wort Gott, und alle menschlichen Worte tragen Spuren einer innewohnenden Sehnsucht nach Gott in sich, die auf dieses Wort hinzielt. Man kann sagen, dass das wahrhaft dichterische Wort in analoger Weise am Wort Gottes teilhat, so wie es uns der Hebräerbrief in aufrüttelnder Weise vorstellt (vgl. Hebr 4,12 – 13).

25. Und so kann Karl Rahner eine schöne Parallele zwischen dem Priester und dem Dichter ziehen: Das Wort »allein kann das erlösen, was die letzte Gefangenschaft aller Wirklichkeiten ausmacht, die nicht ausgesagt sind: die Stummheit ihrer Verwiesenheit auf Gott«.20

26. In der Literatur geht es also um Fragen der Ausdrucksform und des Sinns. Sie stellt daher eine Art Schule der Unterscheidung dar, die die Fähigkeiten des zukünftigen Priesters zur inneren und äußeren Prüfung schärft. Der Ort, an dem sich dieser Zugang zur eigenen Wahrheit eröffnet, ist das Innere des Lesers, der unmittelbar in den Prozess des Lesens einbezogen ist. Hier entfaltet sich also das Szenario der persönlichen geistlichen Unterscheidung, in dem es an Ängsten und sogar Krisen nicht mangeln wird. In der Tat gibt es zahlreiche literarische Seiten, die der ignatianischen Definition von „Trostlosigkeit“ entsprechen können.

27. Unter Trostlosigkeit ist alles zu verstehen »wie Finsternis der Seele, Verwirrung in ihr, Hinneigung zu niedrigen und irdischen Dingen, Unruhe infolge verschiedener Aufregungen und Versuchungen, die zum Misstrauen ohne Hoffnung, ohne Liebe hintreiben, wobei sich die Seele ganz träge, lau, traurig und gleichsam von ihrem Schöpfer und Herrn losgetrennt fühlt«.21

28. Der Schmerz oder die Langeweile, die man beim Lesen bestimmter Texte empfindet, sind nicht unbedingt schlechte oder nutzlose Gefühle. Ignatius von Loyola selbst hatte festgestellt, dass der gute Geist in denen, »die vom Bösen zum Schlechteren voranschreiten«,22 wirkt, indem er Unruhe, Erregung und Unzufriedenheit verursacht. Dies wäre die wörtliche Anwendung der ersten ignatianischen Regel der Unterscheidung der Geister, die denen vorbehalten ist, die »von einer Todsünde zur anderen Todsünde schreiten«, und die besagt, dass in solchen Personen der gute Geist wirkt, indem er »sie ständig beunruhigt und ihnen durch die innere Stimme der Vernunft Gewissensbisse erregt«,23 um sie zum Guten und Schönen zu führen.

29. Der Leser ist also nicht der Empfänger einer erbaulichen Botschaft, sondern eine Person, die aktiv aufgefordert wird, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, wo die Grenzen zwischen Heil und Verderben nicht a priori festgelegt und getrennt sind. Der Akt des Lesens gleicht also einem Akt der „Unterscheidung“, wobei der Leser in der ersten Person als „Subjekt“ des Lesens und gleichzeitig als „Objekt“ des Gelesenen einbezogen ist. Bei der Lektüre eines Romans oder eines poetischen Werks erfährt der Leser tatsächlich, dass er von den Worten, die er liest, „gelesen“ wird.24 Der Leser gleicht also einem Spieler auf dem Spielfeld: Er spielt das Spiel, aber gleichzeitig wird das Spiel durch ihn gespielt, in dem Sinne, dass er völlig in das, was er tut, einbezogen ist.25

Aufmerksamkeit und Verdauung

30. Was den Inhalt betrifft, so muss man anerkennen, dass die Literatur  ̶  nach dem berühmten Bild von Proust26  ̶  wie ein „Teleskop“ ist, das auf die Lebewesen und die Dinge gerichtet ist, unverzichtbar, um „den großen Abstand“ in den Blick zu nehmen, den das Alltägliche zwischen unserer Wahrnehmung und der Gesamtheit der menschlichen Erfahrung aufreißt. Die Literatur ist wie ein Fotolabor, in dem die Bilder des Lebens so bearbeitet werden können, dass sie ihre Konturen und Nuancen offenbaren. Dazu ist die Literatur also da: um die Bilder des Lebens zu „entwickeln“,27 um nach ihrem Sinn zu fragen. Sie dient, kurz gesagt, dazu, das Leben wirklich zu erfahren.

31. Und in der Tat ist unser gewöhnlicher Blick auf die Welt gleichsam „reduziert“ und begrenzt durch den Druck, den die operativen und unmittelbaren Ziele unseres Handelns auf uns ausüben. Selbst der gottesdienstliche, pastorale oder karitative Dienst kann zu einem Imperativ werden, der unsere Kraft und Aufmerksamkeit nur noch auf die zu erreichenden Ziele lenkt. Doch wie Jesus im Gleichnis vom Sämann sagt, muss der Same tief in die Erde fallen, um mit der Zeit fruchtbar zu werden, ohne von der Oberflächlichkeit oder den Dornen erstickt zu werden (Mt 13,18 – 23). Es besteht also die Gefahr, in ein Effizienzdenken zu verfallen, das die Unterscheidung trivialisiert, die Sensibilität verarmen lässt und die Komplexität reduziert. Es ist daher dringend notwendig, dieser unvermeidlichen Beschleunigung und Reduzierung unseres täglichen Lebens entgegenzuwirken, indem wir lernen, uns vom Unmittelbaren zu distanzieren, zu verlangsamen, zu betrachten und zuzuhören. Dies kann geschehen, wenn ein Mensch ohne andere Absichten innehält, um ein Buch zu lesen.

32. Es ist notwendig, zu aufnehmenden, nicht-strategischen, nicht direkt auf ein Ergebnis ausgerichteten Formen der Beziehung zur Wirklichkeit zurückzufinden, in denen es möglich ist, den unendlichen Überfluss des Seins hervortreten zu lassen. Distanz, Langsamkeit, Freiheit sind die Merkmale einer Annäherung an die Wirklichkeit, die gerade in der Literatur eine vielleicht nicht exklusive, aber doch bevorzugte Ausdrucksform findet. Die Literatur wird dann zu einem Übungsort, in dem der Blick geschult wird, um die Wahrheit der Menschen und Situationen als Geheimnis zu suchen und zu erforschen, als reich an einem Übermaß an Bedeutung, das sich nur teilweise in Kategorien, Erklärungsschemata, in einer linearen Dynamik von Ursache-Wirkung, Mittel-Zweck manifestieren kann.

33. Ein anderes schönes Bild, um die Rolle der Literatur zu erklären, stammt aus der Physiologie des menschlichen Körpers und insbesondere des Verdauungsvorgangs. Ihr Vorbild ist die ruminatio (das Wiederkäuen) der Kuh, wie sie der Mönch Guillaume de Saint-Thierry aus dem 11. Jahrhundert und der Jesuit Jean-Joseph Surin aus dem 17. Jahrhundert erwähnen. Letzterer sprach auch vom „Magen der Seele“, und der Jesuit Michel De Certeau wies auf eine echte »Physiologie des verdauenden Lesens« hin.28 Die Literatur hilft uns, unsere Gegenwart in der Welt auszudrücken, sie zu „verdauen“ und zu assimilieren, indem sie das erfasst, was über die Oberfläche der Erfahrung hinausgeht; sie dient also dazu, das Leben zu interpretieren, seine Bedeutungen und grundlegenden Spannungen zu erkennen.29

Mit den Augen der anderen sehen

34. Was die Form des Diskurses betrifft, so geschieht Folgendes: Durch die Lektüre eines literarischen Textes werden wir in die Lage versetzt, »durch die Augen anderer zu sehen«,30 und erlangen so einen Blickwinkel, der unsere Menschlichkeit weitet. Dadurch wird in uns die empathische Kraft der Vorstellungskraft aktiviert, die ein grundlegendes Vehikel für die Fähigkeit ist, sich mit dem Standpunkt, dem Zustand, dem Gefühl der anderen zu identifizieren, ohne die es keine Solidarität, kein Teilen, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit gibt. Durch das Lesen entdecken wir, dass das, was wir fühlen, nicht nur uns gehört, sondern universell ist, so dass sich auch der verlassenste Mensch nicht allein fühlt.

35. Die wunderbare Vielfalt des Menschen und die diachrone und synchrone Pluralität der Kulturen und des Wissens werden in der Literatur in einer Sprache ausgedrückt, die in der Lage ist, ihre Vielfalt zu respektieren und auszudrücken, aber gleichzeitig werden sie in eine symbolische Bedeutungsgrammatik übersetzt, die sie uns verständlich macht, nicht fremd, sondern mit anderen teilen lässt. Die Originalität des literarischen Wortes besteht darin, dass es den Reichtum der Erfahrung nicht durch die Objektivierung in der beschreibenden Darstellung des analytischen Wissens oder in der normativen Prüfung des kritischen Urteils ausdrückt und weitergibt, sondern als Inhalt einer Bemühung im Ausdruck und der Interpretation, der jeweiligen Erfahrung einen Sinn zu geben.

36. Beim Lesen einer Geschichte stellt sich dank der Sicht des Autors jeder auf seine Weise das Weinen eines verlassenen Mädchens vor, die alte Frau, die ihren schlafenden Enkel zudeckt, den Einsatz eines kleinen Geschäftsmannes, der versucht, trotz aller Schwierigkeiten über die Runden zu kommen, die Demütigung eines Menschen, der sich von allen kritisiert fühlt, den Jungen, der als einzigen Ausweg aus dem Schmerz eines unglücklichen und rauen Lebens seine Träume besitzt. Wenn wir inmitten dieser Geschichten Spuren unserer inneren Welt finden, werden wir feinfühliger für die Erfahrungen der anderen, wir treten aus uns heraus, um in ihre Tiefen einzudringen, wir können ihre Kämpfe und Sehnsüchte ein wenig besser verstehen, wir sehen die Wirklichkeit mit ihren Augen und werden schließlich zu Weggefährten. So tauchen wir ein in die konkrete, innere Existenz des Obstverkäufers, der Prostituierten, des Kindes, das ohne die Eltern aufwächst, der Frau des Maurers, der alten Frau, die immer noch glaubt, ihren Prinzen zu finden. Und wir können dies mit Einfühlungsvermögen und manchmal mit Duldsamkeit und Verständnis tun.

37. Jean Cocteau schrieb an Jacques Maritain: »Literatur ist unmöglich. Man muss davon wegkommen. Und es ist unnütz zu versuchen, mit der Literatur von ihr wegzukommen, denn nur der Glaube und die Liebe erlauben uns, aus uns selbst herauszugehen«.31 Aber gehen wir wirklich aus uns heraus, wenn die Leiden und Freuden der anderen nicht in unseren Herzen brennen? Ich möchte gerne daran erinnern, dass mir als Christ nichts Menschliches gleichgültig ist.

38. Außerdem ist Literatur nicht relativistisch, weil sie uns nicht der Wertkriterien beraubt. Die symbolische Darstellung von Gut und Böse, von Wahr und Falsch als Dimensionen, die in der Literatur die Form individueller Existenzen und kollektiver historischer Ereignisse annehmen, schaltet das moralische Urteil nicht aus, sondern verhindert, dass es blind oder oberflächlich verurteilend wird. »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?«, so fragt uns Jesus (Mt 7,3).

39. Und durch die Heftigkeit, Beschränktheit oder Zerbrechlichkeit der anderen haben wir die Möglichkeit, besser über unsere eigene nachzudenken. Indem sie dem Leser einen weiten Blick auf den Reichtum und das Elend der menschlichen Erfahrung eröffnet, erzieht die Literatur den Blick zur Langsamkeit des Verstehens, zur Demut der Nicht-Vereinfachung, zur Güte, nicht so zu tun, als könne man die Wirklichkeit und die menschliche Existenz durch ein Urteil kontrollieren. Sicherlich ist ein Urteil notwendig, aber man darf nie seine begrenzte Tragweite vergessen: Niemals darf ein Urteil in ein Todesurteil, in eine Auslöschung, in die Unterdrückung der Menschlichkeit zugunsten einer unfruchtbaren Verabsolutierung des Gesetzes münden.

40. Der Blick der Literatur erzieht den Leser dazu, nicht mehr selbst im Mittelpunkt zu stehen, zum Gefühl der Begrenzung, zum Verzicht auf die kognitive und kritische Beherrschung der Erfahrung und lehrt ihn eine Armut, die eine Quelle außerordentlichen Reichtums ist. Indem der Leser die Vergeblichkeit und vielleicht sogar die Unmöglichkeit erkennt, das Geheimnis der Welt und des Menschen auf eine antinomische Polarität von wahr/falsch oder gerecht/ungerecht zu reduzieren, akzeptiert er die Pflicht zur Beurteilung nicht als Instrument der Beherrschung, sondern als Anstoß zum unablässigen Zuhören und als Bereitschaft, sich in jenen außergewöhnlichen Reichtum der Geschichte hineinzubegeben, der auf die Gegenwart des Heiligen Geistes zurückzuführen ist, der auch als Gnade gegeben ist: das heißt als unvorhersehbares und unbegreifliches Ereignis, das nicht vom menschlichen Handeln abhängt, sondern das Menschliche als Hoffnung auf Erlösung erneut definiert.

Die geistige Kraft der Literatur

41. Ich hoffe, dass ich in diesen kurzen Überlegungen die Rolle hervorgehoben habe, die die Literatur bei der Herzens- und Verstandesbildung eines Hirten oder eines zukünftigen Hirten im Sinne einer freien und demütigen Ausübung der eigenen Verstandeskraft, einer fruchtbaren Anerkennung des Pluralismus der menschlichen Ausdrucksweisen, einer Erweiterung der eigenen menschlichen Sensibilität und schließlich einer großen geistlichen Offenheit für das Hören auf die Stimme Gottes durch viele Stimmen hindurch spielen kann.

42. In diesem Sinne hilft die Literatur dem Leser, die Götzen der selbstbezogenen, fälschlich selbstgenügsamen, statisch konventionellen Sprachen zu zerstören, die manchmal sogar unseren kirchlichen Diskurs zu verunreinigen drohen und die Freiheit des Wortes einsperren. Das literarische Wort ist ein Wort, das die Sprache in Bewegung setzt, sie befreit und reinigt: Es öffnet sie schließlich für ihre eigenen weiteren Ausdrucks- und Erkundungsmöglichkeiten, es macht sie aufnahmefähig für das Wort Gottes, das sich in menschliche Sprache kleidet, nicht wenn es sich als Wissen versteht, das bereits endgültig und vollständig ist, sondern wenn es zu einer Nachtwache des Hörens und des Wartens auf denjenigen wird, der kommt, um alles neu zu machen (vgl. Offb 21,5).

43. Die geistige Kraft der Literatur erinnert letztlich an die erste Aufgabe, die Gott dem Menschen anvertraut hat: die Aufgabe, den Lebewesen und Dingen einen „Namen zu geben“ (vgl. Gen 2,19-20). Die Aufgabe des Hüters der Schöpfung, die Gott Adam übertragen hat, besteht in erster Linie darin, seine eigene Wirklichkeit und den Sinn der Existenz der anderen Lebewesen zu erkennen. Auch der Priester ist mit dieser ursprünglichen Aufgabe des „Namengebens“, der Sinngebung, betraut, indem er sich zum Werkzeug der Gemeinschaft zwischen der Schöpfung und dem fleischgewordenen Wort und seiner Macht, jeden Aspekt der menschlichen Existenz zu erhellen, macht.

44. Die Verwandtschaft zwischen Priester und Dichter zeigt sich also in dieser geheimnisvollen und unauflöslichen sakramentalen Verbindung zwischen göttlichem und menschlichem Wort, die zu einem Dienst führt, der zu einem Dienst voller Zuhören und Mitgefühl wird, zu einem Charisma, das zur Verantwortung wird, zu einer Sicht des Wahren und Guten, das sich als Schönheit offenbart. Wir können nicht anders, als auf die Worte zu hören, die uns der Dichter Paul Celan hinterlassen hat: »Wer wirklich sehen lernt, nähert sich dem Unsichtbaren«.32

Gegeben zu Rom, bei Sankt Johannes im Lateran, am 17. Juli 2024, dem zwölften Jahr meines Pontifikats.

FRANZISKUS

 


1.) R. Latourelle, “Letteratura”, in R. Latourelle - R. Fisichella, Dizionario di Teologia Fondamentale, Assisi 1990, 631.

2.) Vgl. A. Spadaro, “J. M. Bergoglio, il ‘maestrillo’ creativo. Intervista all’alunno Jorge Milia”, in La Civiltà Cattolica 2014/ I, 523-534.

3.) Vgl. Zweites Ökumenisches Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 62.

4.) K. Rahner, „Die Zukunft des religiösen Buches“, in Schriften zur Theologie, Benziger Verlag, Einsiedeln 1966, Bd. 7, 512.

5.) Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 117.

6.) A. Spadaro, Svolta di respiro. Spiritualità della vita contemporanea, Vita e Pensiero, Mailand 2010, 101.

7.) R. Latourelle, “Letteratura”, 633.

8.) Johannes Paul II., Brief an die Künstler, Nr. 6.

9.) Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 89.

10.) Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22.

11.) M. Proust, Alla ricerca del tempo perduto. I. La strada di Swann, Mondadori, Mailand 1983, 104 f.

12.) C.S. Lewis, Lettori e letture. Un esperimento di critica, Mailand 1997, 165.

13.) Vgl. J.L. Borges, Borges, Oral, Buenos Aires 1979, 22.

14.) Paul VI., Predigt, » Messe der Künstler« in der Sixtinischen Kapelle, 7. Mai 1964.

15.) T.S. Eliot, The Idea of a Christian Society, London 1946, 30.

16.)  Pressekonferenz des Heiligen Vaters auf dem Rückflug von der Apostolischen Reise nach Thailand und Japan, 26. November 2019.

17.) Vgl. A. Spadaro, La grazia della parola. Karl Rahner e la poesia, Jaca Book, Mailand 2006.

18.) K. RAHNER, „Priester und Dichter“, in Schriften zur Theologie, Benziger Verlag, Einsiedeln 19625, Bd. 3, 349-375.

19.) Ebd., 374 f.

20.) Ebd., 358.

21.) Ignatius von Loyola, Geistliche Exerzitien, Nr. 317.

22.) Ebd., Nr. 335.

23.) Ebd., Nr. 314.

24.) Vgl. K. Rahner, „Priester und Dichter“.

25.) Vgl. A Spadaro, La pagina che illumina. Scrittura creativa come esercizio spirituale, Ares, Mailand 2023, 46-47.

26.) M. Proust, À la recherche du temps perdu. Le temps retrouvé, Paris 1954, Bd. III, 1041.

27.) A. SPADARO, La pagina che illumina…, a.a.O., 14.

28.) M. De Certeau, Il parlare angelico. Figure per una poetica della lingua (Secoli XVI e XVII), Florenz 1989, 139 f.

29.) Vgl. A. SPADARO, La pagina che illumina…, a.a.O., 16.

30.) C.S. Lewis, Lettori e letture. Un esperimento di critica, Mailand 1997, 165.

31.) J. Cocteau - J. Maritain, Dialogo sulla fede, Passigli, Florenz 1988, 56.

32.) P. Celan, „Mikrolithen sinds, Steinchen“: Die Prosa aus dem Nachlaß, Surkamp, Berlin 2005, Nr. 24.1: 24.



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