Neue Halteseile für den Glauben
In dieser bewegten Zeit, wo die Welt auf den Kopf gestellt wurde und sich in den Geisteswissenschaften sowie in den Köpfen vieler Theologen die berühmte kopernikanische Wende vollzog, war es an Sailer, dem Jesuiten, Hirten, Priester und Wissenschaftler, der Religion ihre spirituelle Kraft zurückzugeben und der Theologie ihr metaphysisches Halteseil über dem Abgrund der Säkularisierung erneut aufzuspannen. Sailer, der sich sein ganzes Leben hinweg mit dem Königsberger „Alleszertrümmerer“ intensiv beschäftigte und diesem sein religiöses Glaubensmanifest entgegenstellte, schrieb: „Wenn ein Menschenkind, wie sich ein Philosoph ausdrückt, erstens discipliniert, zweitens kultiviert, drittens zivilisiert und viertens moralisiert werden muß, so muß es fünftens auch divinisiert, das heißt zum göttlichen Leben gebildet werden, wenn ihm anders das höchste Leben, das eigentliche Leben im Menschenleben, nicht fehlen soll.“
Der Mensch als leib-geistige Einheit
Der philosophisch zuhöchst gebildete Sailer widerspricht damit nicht den Gedanken der Aufklärung an sich, sieht aber deutlich ihre Grenze darin, dass diese den Menschen bloß auf seine Individualität reduziert und letztendlich zum Herrn der Schöpfung macht. Gott hingegen wird entsubstantialisiert und verbleibt als bloß hypothetisches Wesen ein Lückenbüßer einer sich als autonom generalisierenden praktischen Vernunft. Damit aber, so der Theologe aus dem oberbayerischen Aresing, verkürzt sich die Einheit des Menschen auf seine Ratio und löst das existentielle Geflecht mit seiner Leiblichkeit auf. Eine derartige Verkürzung des Menschen auf seine Ratio impliziert schließlich seine Verkleinerung, da sich der Mensch nicht mehr als das Ganze der Schöpfung wahrzunehmen vermag, sondern nur sich selbst als in sich geschlossene Einheit begreift und sich damit autonom und absolut setzt.
Sailer, der klar zwischen Verstand und Vernunft in seinem Werk „Grundlehren der Religion“ unterscheidet, hatte dem Verstand die Fähigkeit zugewiesen, die Welt und sich damit seiner selbst bewusst zu werden. Der Vernunft hingegen attestierte er die Fähigkeit zu, Gott zu vernehmen. „Die Wahrnehmung Gottes durch die Vernunft macht den Menschen erst eigentlich zum Menschen und ist die Möglichkeitsbedingung jeder anderen Wahrheitserkenntnis. – Weil Gewissen Vernunft in ethischer Hinsicht ist, wird im Gewissen Gott selbst als höchster Gesetzgeber vernommen. – Die Fähigkeit des Wollens wird nicht in erster Linie als Wahlfreiheit verstanden, sondern von der Dynamik der Vernunft und des Gewissens auf Gott hin als Freiheit zum Guten. Die Freiheit des Wollens ist dem Menschen gegeben, damit er die sittliche Freiheit erreiche.“
Was Sailer letztendlich an der Aufklärung kritisiert, ist ein Vernunftbegriff einerseits, der sich vom Transzendenten löst und einen Verstand andererseits, der sich nur an den Prinzipien von Nützlichkeit, Individualismus und Selbstverglückung orientiert. Dieser ethische Eudämonismus, der die endliche Glückseligkeit zum Zweck der ganzen Schöpfung macht, führt letztendlich in den Relativismus als Maß aller Dinge. So nimmt es nicht Wunder, dass der Pastoraltheologe gegen die Auffassung rebelliert, dass es unabhängig vom Gewissen keine objektiv-moralischen Gesetze mehr gibt. Das Gewissen bleibt – gegen die Aufklärung gewendet – nicht der Ort endlicher Selbstzentrierung, sondern erlangt seine Autorität allein durch seine göttliche Begründetheit. Wie das Gewissen für Sailer „gottvernehmende Vernunft“ ist und damit relational und personal verstanden wird, so begründet er auch den Gedanken der Menschenwürde von Anfang theologisch. Die Menschenwürde ist keine vom Menschen erworbene, sondern eine dem Sein mitgegebene göttliche Qualität und damit abgeleitet von Gottes Würde qua „Bild Gottes“. „Alles, was Mensch ist, ist dem guten Menschen ehrenwert. Der gute Mensch ehrt in jedem Menschen die Menschheit und in der Menschheit die Gottheit, deren Bild jene ist.“
Johann Michael Sailer als Brückenbauer
Auch im 21. Jahrhundert feiern Aufklärung und Globalisierung ihre Triumphzüge und potenzieren sich in Gender- und Transhumanismus-Idolen, die dem Religiösen kräftig ins Gesicht blasen, weil sie sein traditionelles Wahrheits- und Glaubensverständnis aus den Angeln zu heben drohen. Im Zeitalter, wo eine zunehmende Diktatur des „Alles ist erlaubt“ regiert, wo allein das rationale Argument das einzige zu sein scheint, dem Geltungskraft zugesprochen wird, wo ein theologischer Eklektizismus als Modeerscheinung den Glauben immer wieder vor neue Prüfungen stellt, zeigt uns ein Blick auf das Denken des Regensburger Bischof Sailer: Nur wenn es dem Menschen wieder gelingt, aus sich heraus in enger Beziehung zu Gott zu treten, die Vernunft für das Transzendente zu weiten und sich wider den Zeitgeist aufzurichten, lässt sich das lebendige Feuer des Glaubens erneut neu entzünden. Für diese funkelnde Gabe hat Sailer immer geworben, erweckte eine ganze Priestergeneration damals zu neuer Spiritualität und Mystik. Sein „Vollständiges Gebetbuch Lese- und Betbuch“ sowie seine Übersetzung der „Nachfolge Christi“ sind auch heute keineswegs aus der Welt gefallen, sondern lesenswerte Quellen. In Zeiten, wo der Zeitgeist des Relativismus wütet und alles Wahrhafte, Gute und Schöne, was den Hauch des Religiösen in sich trägt und atmet, aus purer Lust zerstören will, wo er sich also mächtig gegen das Tradierte und Konventionelle, gegen das religiös-konservative Leben wie ein Allesvernichter aufrichtet und seinen Siegeszug durch die weltlichen Institutionen antritt, sollte man sich, wie es einst Sailer predigte, erneut auf den Ursprung des Glaubens konzentrieren, um daraus Kraft zu schöpfen.
Johann Michael Sailer, „der bayerische Kirchenvater“, der weit über die Grenzen Europas hinaus zu den einflussreichsten Denkern seiner Zeit und auch heute noch zählt, hatte nicht zuletzt seinen Mut und seine Energie aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, dem Gottesdienst, der Feier des Kirchenjahres und dem christlichen Kultur- und Brauchtum geschöpft. Diese tiefe Innerlichkeit einerseits und das Zurück zu den Quellen des Glaubens andererseits waren sein Rettungsanker in einer damals vom Zeitgeist schwer angeschlagenen Kirche in tobend-unruhiger See. Die Zeiten haben sich zwar geändert, die Krisen aber sind geblieben. Unsere Gesellschaft mag zwar ganz anders als die seinige damals gewesen sein, aber auch sie bleibt genauso auf das Heil angewiesen. Auf dieses Heil hinzuarbeiten, macht Sailer auch nach 250 Jahren noch zu einem Brückenbauer. Von ihm können wir lernen, dass selbst eine Kirche, die im Sturm steht, dann nicht untergehen kann, wenn sie die Einsicht trägt, dass wahrhafter Glaube die Vernunft nicht demütigt, sondern diese für ihn öffnet. Dies bleibt damals wie heute ein Dreh- und Angelpunkt für jeden Glaubenden, um nicht in der wütenden See eines uferlosen Relativismus zu ertrinken.
Literaturhinweis
Johann Michael Sailer als Brückenbauer: Festgabe zum 99. Katholikentag 2014 in Regensburg, Verlag des Vereins für Regensburger Bistumsgeschichte 2014, hg. Von Konrad Baumgartner und Rudolf Voderholzer.
Text: Stefan Groß
Titelbild: Denkmal Johann Michael Sailers in der Sailerkapelle im Regensburger Dom St. Peter, Foto: Christian Beirowski