Tätigkeitsbericht von Dr. Martin Linder über das erste Jahr als Beauftragter des Bistums Regensburg für Fälle sexuellen Missbrauchs
10.11.2014
Informationen und Kontakt der Ansprechpartnerin für Opfer von Körperverletzung finden sie hier: Zwischenbericht des Bistums Regensburg zu Beschuldigungen von Straftaten körperlicher Gewalt.
Herzlichen Dank an meine Vorgängerin Frau Dr. Birgit Böhm!
Frau Dr. Birgit Böhm verstarb am 22. Mai 2013. Sie hatte das Amt der Missbrauchsbeauftragten des Bistums Regensburg seit 2008 inne. Vor allem seit 2010 war das Interesse der Öffentlichkeit aber auch die Resonanz von betroffenen Opfern groß, sodass Frau Dr. Böhm in dieser Zeit die bei weitem überwiegende Anzahl von Menschen mit ihren Berichten über erlittenes Leid bei diesem Weg zu dessen Anerkennung begleitete. Sie begegnete den Menschen, die sich an sie wandten als Anwältin, als Vertraute, als Begleiterin und auch als Seelsorgerin. Das konnte ich immer wieder spüren in den Kontakten, die ich an ihrer Stelle wieder aufnahm. Nur wenige Tage vor ihrem Tod begleitete sie noch ein Gespräch zwischen Bischof Dr. Rudolf Voderholzer und einigen Männern und Frauen, die als Kinder in kirchlichen Einrichtungen missbraucht wurden. Die Verletzungen, die diese Menschen erfuhren, bleiben. Hinwegnehmen lassen sie sich nicht. Es ist ein Ziel des Antragsverfahrens, dazu beizutragen, dass ein Betroffener vielleicht leichter mit ihnen seinen Frieden schließen kann, wenn sie angenommen, eingestanden und anerkannt werden. Frau Dr. Birgit Böhm trug mit ihrem Engagement entschieden dazu bei, dass betroffene Menschen und auch die Verantwortlichen des Bistums Regensburg diesen Weg gemeinsam gehen konnten. Für die Aufgabe, die jetzt mir übertragen ist, bereitete sie damit einen sehr guten Weg, für den ich ihr herzlich danke. Aufgrund Ihrer schweren Erkrankung konnte Frau Dr. Böhm zu Ihrem großen Leidwesen eine Reihe von Antragsfällen nicht mehr abschließen. Die Antragssteller waren mit einer ½ jährigen Vakanz konfrontiert und mussten Vertrauen in einen neuen Gesprächspartner fassen.
Anerkennen erlittenen Leides
Daher war die wichtigste Aufgabe des ersten Jahres als Beauftragter der Diözese, zu diesen Menschen den abgerissenen Gesprächsfaden wieder zu finden und sie weiterhin bei dem Antragsverfahren auf Anerkennung des Leids zu begleiten und zu unterstützen.
Zunächst sei in aller Kürze der Hintergrund dieses Antragsverfahrens dargestellt: als im Jahre 2010 die Medien über sexuellen Missbrauch durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kirche berichteten, bezogen sie sich in der Regel auf Straftaten, die schon lange zurücklagen. Viele der Beschuldigten waren im genannten Zeitraum im Rahmen öffentlicher Strafverfahren aufgrund damals angezeigter Straftaten verurteilt worden.
Neu war, dass sich infolge der Berichte des Jahres 2010 Menschen zu Wort meldeten, die bis dahin unbekannte Beschuldigungen vorbrachten. Über Jahrzehnte hatten sie nicht die Kraft oder den Mut gefunden, sich zu äußern oder hatten keine Hoffnung, gehört zu werden. Die Beschuldigten waren in den meisten Fällen zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Die Beschuldigungen ließen sich deshalb nicht mehr straf- oder kirchenrechtlich klären. Denn nur mit lebenden Beteiligten kann ein Strafverfahren eröffnet werden. Dennoch sollten die Aussagen dieser Personen aufgegriffen werden.
Dazu richtete die katholische Kirche ein Verfahren ein, in dessen Rahmen Straftaten sexueller Gewalt gegen Minderjährige und dadurch erlittenes Leid angenommen werden können, mit dem Missbrauchsbeauftragten als Anlaufstelle und Ansprechperson.
Die Aufgabe des Missbrauchsbeauftragten ist dabei das Gespräch mit dem Betroffenen, in dem das Leid wieder erinnert und der Vorwurf mitgeteilt wird und auch der förmliche Antrag gestellt wird. Beides begleite ich und berate dabei, Erlebtes in Vorwürfen zu präzisieren, alle wichtigen Informationen zu sammeln und das Ganze in eine rechtsförmige Gestalt zu bringen. Meist reicht die so erarbeitete Zusammenstellung aus, um eine hinreichende Plausibilität zu erweisen. Sehr wichtig ist für mich dabei die Erfahrung, dass die achtsame Begegnung im Gespräch als eine - oft erste - Form der Anerkennung des Leids empfunden wird, worauf so lange gewartet wurde.
Die Begleitung des Antrags schließt auch die Aufgabe mit ein, bei der Bistumsleitung dem erlittenen Leid Ausdruck zu verleihen, die Plausibilität zu prüfen und zu vertreten und auch die Dichte des Gesprächs zu vermitteln.
In weniger eindeutig erscheinenden Fällen schaltet das Bistum Regensburg einen unabhängigen Fachanwalt als Berater im Hinblick auf die Plausibilität ein. Dabei liegt die Schwelle der Plausibilität - falls nicht ohnehin ein juristisches Urteil Klarheit gebracht hat - weit unterhalb einer juristischen Beweiskraft. Daher ist die Plausibilität eines Vorwurfs zwar noch keine Aussage über die Tatsächlichkeit der vorgeworfenen Tat, jedoch die Grundlage für die freiwillige Leistung zur Anerkennung erlittenen Leids.
Die Bistumsleitung hat jetzt auch für diesen Bericht die Zahlen für die Jahre von 2011 bis 2014 zur Verfügung vorgestellt: In dieser Zeit wurden insgesamt für diesen Zweck eine Summe von 158.500 € für 30 Anträge ausgezahlt.
Nur vereinzelt erwiesen sich die erhobenen Vorwürfe nicht als plausibel. Lebt der Beschuldigte noch, werden die Vorwürfe zunächst an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet und nach staatlicher Klärung einem kirchenrechtlichen Verfahren zugeführt. Unter den 30 Antragstellern sind sowohl Opfer von verurteilten Straftaten als auch Antragssteller, deren Vorwürfe nicht mehr juristisch geklärt werden konnten.
Denn dieses Antragsverfahren kann ein ordentliches Strafverfahren nicht ersetzen. Die Plausibilitätsprüfung führt nicht zu dem Ergebnis, Straftaten rechtswirksam festzustellen und zu verurteilen. Deshalb muss in der Wortwahl Sorgfalt walten: mit dem Antragsverfahren wird erlittenes Leid anerkannt. Der Beschuldigte kann dennoch nicht im rechtlichen Sinn als überführter Täter gelten und so bezeichnet werden. Wenn der Beschuldigte noch am Leben ist und die staatlichen und kirchenrechtlichen Strafverfahren im Sande verlaufen, kann Aussage gegen Aussage stehen. Der Widerspruch kann möglicherweise nicht aufgelöst werden, so gilt es vor einer erneuten Traumatisierung zu schützen. Gespräche können helfen, damit zurecht zu kommen, wie auch die Anerkennung in dem Verfahren und die zugesprochene materielle Leistung.
Diesen Widerspruch in diesem Verfahren sehe ich. Aufzulösen ist er nicht, vor allem wenn ein Beschuldigter noch lebt und Aussage gegen Aussage steht. Es sind nur wenige im Bistum Regensburg davon betroffen, ich versuche so gut ich kann, in dieser schwierigen Situation aufzuklären und zu begleiten.
Anerkennungsleistungen sind eine persönliche Zuwendung an einzelne Menschen. Sie anerkennen die tiefen Verletzungen in der sensiblen Zeit der kindlichen Entwicklung der Betroffenen. Den Menschen, die sich dazu entschließen, das Erlebte offen zu legen und dieses Antragverfahren auf sich zu nehmen, ist selbstverständlich eine absolute Verschwiegenheit zugesichert. Deshalb kann dieser Bericht auch keine weitergehenden Einzelheiten enthalten.
Die Summe der ausgezahlten Anerkennungsleistungen und die Zahl derer, die diese Leistungen erhalten haben, mutet gering an. Wenn man bedenkt, wie viele Minderjährige in staatsanwaltschaftlichen und kirchlichen Strafverfahren als Opfer festgestellt wurden, kann man ahnen, wie schwer es für Opfer ist, sich an die Diözese zu wenden, auch wenn so viele Jahre nach dem Missbrauch vergangen sind.
Staatsanwaltliche und kirchenrechtliche Strafverfahren
Von Generalvikar Michael Fuchs sind mir für diesen Bericht Zahlen bezüglich der Täter zur Verfügung gestellt worden:
Von 1945 bis heute wurden von den etwa 2.380 tätigen Geistlichen der Diözese Regensburg 13 Geistliche wegen sexueller Straftaten an 77 Minderjährigen in unserer Diözese verurteilt, davon zwei wegen Besitzes von kinderpornographischem Material und einer, besonders schwerwiegend, wegen sexueller Straftaten an 25 Minderjährigen in zwei Pfarreien anfang der 50er Jahre. Von diesen 13 Geistlichen leben noch acht, zwei von diesen acht wurden laisiert, das heißt aus dem Klerikerstand entlassen, die übrigen sechs sind suspendiert.
Ein kirchenrechtliches Verfahren - nach Feststellung der strafrechlichen Verjährung durch die Staatsanwaltschaft - läuft derzeit wegen einer Beschuldigung einer Tat in den frühen 1970er Jahren. Auch dieser Beschuldigte ist suspendiert.
In einem weiteren Fall ist trotz des Todes des Beschuldigten auf Grund mehrerer, voneinander unabhängiger Beschuldigungen von einer juristisch vergleichbaren Sicherheit auszugehen.
Drei kirchenrechtliche Verfahren führten - nach staatsanwaltlicher Befassung ohne Urteil oder Strafbefehl - zur Einstellung des kirchenrechtlichen Verfahrens mangels Beweisen, sodass von der Unschuld des zunächst Beschuldigten auszugehen ist.
Diese Zahlen machen deutlich, dass sich nur eine Minderzahl der Opfer an die Diözese wendet, um den Antrag zu stellen. Deshalb möchte ich mit dem Bericht auch dazu ermutigen, das Gespräch mit dem Missbrauchsbeauftragten zu suchen und von dem Antragsverfahren Gebrauch zu machen.
Aktuelle Fälle und Aufgaben
Werden Anschuldigungen sexueller Gewalt oder sexueller Übergriffe von Mitarbeitern kirchlicher Einrichtungen an mich herangetragen, wird von mir mit Wissen der Betroffenen unverzüglich die Staatsanwaltschaft und die Bistumsleitung verständigt. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, zu ermitteln und nach den rechtsstaatlichen Maßgaben zu verfahren.
Aufgabe der Bistumsleitung ist es, darauf zu reagieren, um die anvertrauten Minderjährigen und Hilfsbedürftigen zu schützen, aufzuklären und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu unterstützen.
Prävention
Eine zentrale Aufgabe des Bistums sehe ich in der Präventionsarbeit. Auch wenn das öffentliche Interesse etwas abgeebbt ist, muss die Sensibilität für dieses Thema bei den Mitarbeitern wachgehalten werden. Die Bistumsleitung sieht das als eine vordringliche Aufgabe, der sie große Aufmerksamkeit widmet.
Für den Bereich der Prävention ist Frau Karin Haubenschild-Mergel zuständig, die im Auftrag der Diözese Schulungen zur Prävention gegen sexuellen Missbrauch - wie von der entsprechenden Rahmenordnung der Deutschen Bischofskonferenz vorgesehen - organisiert.
Es wurden seit Oktober 2013 durch vier speziell geschulte Referentinnen bereits ca. 1.070 hauptamtliche Mitarbeiter/-innen der Diözese Regensburg, die im Rahmen ihrer kirchlichen Tätigkeit Kontakt mit Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen haben, zur Prävention von sexualisierter Gewalt geschult.
Außerdem wird von allen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diözese, die im Kontakt mit Kindern, Jugendlichen oder Schutzbefohlenen stehen, ein erweitertes Führungszeugnis und eine Selbstverpflichtungserklärung eingeholt.
Im Bereich der Ehrenamtlichen der Pfarreien und Verbände wird seit 2014 ebenso ein erweitertes Führungszeugnis gefordert; dies organisieren die katholischen Jugendstellen der Diözese.
Weitere Vorhaben in nächster Zeit
Auf Grund meiner Erfahrungen habe ich der Diözese den Vorschlag gemacht, eine Frau als weitere Missbrauchsbeauftagte – wie es auch die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz empfehlen - zu berufen. Die Wahl zu haben, kann es leichter machen, sich zur Antragsstellung zu entschließen.
Geplant sind auch weitere Gespräche zwischen Geschädigten und Bischof Prof. Dr. Rudolf Voderholzer.
Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, um Vertrauen zu bitten und Betroffene zu ermutigen, mich anzurufen, wenn sie als Minderjährige sexuelle Gewalt von kirchlichen Mitarbeiter/Innen erlitten haben oder wenn solche Vorwürfe Ihnen bekannt werden.
Regensburg, den 10. Nov. 2014
Gez.: Dr. Martin Linder
Frühere Berichte
Hier finden Sie den Text zur Pressekonferenz zu Recherchen und Meldungen über Missbrauchsfälle vom 5. März 2010.
Lesen Sie hier den Zwischenbericht zu Meldungen von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 22. März 2010.