Hildegard von Bingen: Seherin und Universalgelehrte
Mit der Idee des Klosters verbinden sich Ruhe und Besinnlichkeit. Wer dort lebt, führt ein abgeschiedenes Leben. Die Kirchengeschichte kennt aber viele herausragende Personen, auf die das nicht zutrifft. Zu ihnen gehört auch die heilige Hildegard von Bingen, die 1098 geboren wurde und 1179 starb. Schon als 8-Jährige war Hildegard in die Obhut einer Nonne gegeben worden und lebte angeschlossen an das Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg, vom Rheinknie bei Bingen aus rund 40 Kilometer das Nahetal hinauf. Nachdem ihre eigene Lehrerin starb, wurde Hildegard selbst zur „Magistra“ der dort versammelten Schülerinnen, die zusammen mit ihrer Meisterin ein eigenes Kloster gründen wollten. Dieses Kloster sollte direkt am Rhein liegen, über Bingen. Hildegard hatte eine Vision gehabt, dass es so sein sollte.
Wie machtvolll Hildegards Visionen waren, zeigte sich nun. Mit Genehmigung höchster Instanzen gründeten die Frauen ihr Kloster. auf dem Rupertsberg. Sie setzten sich auch gegen den Widerstand bereits ortsansässiger Mönche durch. Hildegard wurde die erste Äbtissin, sie blickte nun über Bingen, mit bester Aussicht auf den Rhein, so wie ihn unser Bild zeigt. Und sicher war der neue Standort auch gut für ihren Ruf als Universalgelehrte, denn der Rhein war eine der großen Magistralen des Mittelalters. Hier konnten Gaben von vorbeiziehenden Reisenden erbeten werden, hier flossen zugleich auch Informationen. Und der Ruf als Visionärin, als von Gott Begandete verbreitete sich besser, wenn es Menschen gab, die die entsprechenden Informationen auf ihre Wege mitnahmen. Das Mittelalter ist eine Zeit, in der sehr praktisch gehandelt werden musste, denn heutige Technik fehlte..
Mutiges Auftreten gegen Autoritäten
Hildegard hatte keine Angst sich gegen Autoritäten durchzusetzen. Auf dem Friedhof ihres Klosters hatte sie einen exkommunizierten Gläubigen bestatten lassen, da dieser wieder zur Kirche zurückgefunden habe. Der Bischof von Mainz sah das anders. Er verlangte, dass der Verstorbene als Exkommunizierter – wie damals üblich – nicht auf einem geweihten Friedhof, sondern einem Schandacker beigesetzt werden sollte. Hildegard weigerte sich hartnäckig. Sogar als der Bischof das Interdikt über das Kloster verhängte und damit dort jegliche sakramentale Feier verboten wurde, knickte sie nicht ein. Sie erreichte die Rücknahme des Interdikts. Der Verstorbene durfte im Friedhof begraben bleiben. Die Äbtissin hielt öffentliche Predigten auf dem Marktplatz von Tier, aber auch in anderen großen Städten wie Mainz, Würzburg oder Köln. Bald kamen viele Männer und Frauen zu ihr, um Rat zu suchen. Mit dem großen Bernhard von Clairvaux stand Hildegard offenbar in Briefkontakt.
Visionen und Einsichten
Diese Anerkennung weit über die Bistumgrenzen hinaus hatte mit ihrer Durchsetzungskraft und ihrer Rhetorik sehr viel zu tun. Doch es gab auch eine übersinnliche Ebene bei Hildegard. Ihr wurden immer wieder Visionen zuteil, so wie das auch von anderen Heiligen bekannt ist. Ab 1141 begann Hildegard, diese Visionen aufzuzeichnen. Sie selbst beherrschte Latein nicht fehlerfrei, ein Priester half ihr bei der Abfassung. Das entstandene Werk „Scivias“ – „Wisse die Wege“ – fasst ihre Visionen über die Welt zusammen. Sie schreibt am Beginn: „Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, sah ich ein überaus stark funkelndes Licht aus dem geöffneten Himmel kommen. Es durchströmte mein Gehirn, mein Herz und meine Brust ganz und gar, gleich einer Flamme, die jedoch nicht brennt, sondern erwärmt. Es erglühte mich so, wie die Sonne einen Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen ergießt. Und plötzlich hatte ich die Einsicht in den Sinn und die Auslegung des Psalters, des Evangeliums und der anderen Schriften des Alten und Neuen Testaments.“ Das zeugt von Glaubensstärke ebenso wie von Selbstbewusstein, und ihre Worte wurden gehört. Ihr Ruf wuchs.
Universalgelehrte: Theologie, Naturwissenschaft und Musik
Sechs Jahre später, 1147, erhielt sie von Papst Eugen III. die Erlaubnis, ihre Visionen zu veröffentlichen. Neben ihren Visionen und den kirchenpolitischen Aktivitäten kann Hildegard aber auch als Universalgelehrte gelten. Aus ihrer Feder stammen zwei naturwissenschaftliche Schriften: Die „Physica“ sowie „causae et curae“. In diesen Werken verbindet sie das antike Wissen über Heilpflanzen und Medizin mit den entsprechenden deutschen Bezeichnungen der Pflanzen. Zu ihrer naturwissenschaftlichen Forschung kommen dann noch 77 von ihr komponierte Lieder.
Nach ihrem Tod wurde Hildegard nie offiziell heiliggesprochen. Das Mainzer Domkapitel stritt sich mit dem Papst über die Frage, wer die Kompetenz zu Heiligsprechungen habe. Wenngleich eine solche Kanonisation nie stattfand, wurde Hildegard von Bingen seit 1584 im „Martyrologium Romanum“, dem Verzeichnis der Heiligen geführt. Es war dann Papst Benedikt XVI., der im Jahre 2012 die Verehrung von Hildegard als Heilige in der Kirche gestattete. Er ernannte sie überdies zur Kirchenlehrerin.