Kreuzgang Kloster

Über den Durst nach dem Ewigen

Das Aufblitzen der Gottesfrage


Regensburg, 01. September 2025 

Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. gehört zu den herausragenden Theologen des 20. und 21. Jahrhunderts. Er hat immer wieder Fragen gestellt, die für die Kirche und die Gesellschaft auch heute und in Zukunft von entscheidender Bedeutung sind. Die Antworten, die Papst Benedikt XVI. gibt, führen stets ins Zentrum des christlichen Glaubens. 

Religion – neu entdeckt 

In seiner Schrift „Wendezeit für Europa?“ (1992) hat Joseph Kardinal Ratzinger die Überzeugung vertreten, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Religion als eine „nicht auszutilgende Kraft des individuellen wie des sozialen Lebens neu entdeckt“ wurde. Es hat sich gezeigt, dass die Zukunft der Menschheit nicht an der Religion vorbei geplant und gestaltet werden kann. Deshalb besteht für die Christen die Pflicht, in die Debatte um das rechte Verständnis der Gegenwart und des Weges in die Zukunft „miteinzutreten, um dabei die eigene Sphäre des Glaubens zu verdeutlichen und zugleich der Mitverantwortung für die öffentlichen Dinge gerecht zu werden“ (vgl. J. Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln 1992, S. 7-8). 

Die Illusion des perfekten Menschen und der perfekten Gesellschaft 

Die Anmaßung, man könne mit strukturellen Konzepten den perfekten Menschen und die perfekte Gesellschaft konstruieren, bezeichnete Joseph Ratzinger in seinem Vortrag „Wege des Glaubens im Umbruch der Gegenwart“ (1990) als den „eigentlichen Kern des modernen Materialismus“ (in: Wendezeit, S. 62), der sich als großer Irrtum erwiesen hat. Heute müssen die alten Fragen neu gestellt werden: Was ist der Mensch? Was ist Freiheit? Was ist mit Verantwortung gemeint? Im Hinblick auf diese grundlegenden Fragen ist ein neues Nachdenken, das zu einem Umdenken führt, erforderlich. Wieweit sind wir imstande, neue Visionen zu entwickeln und den geheimen oder offenen Materialismus unserer Zeit zu überwinden? 

Das Aufblitzen der Gottesfrage 

Nach der Wende in Osteuropa machte Kardinal Ratzinger darauf aufmerksam, dass sich im kommunistisch beherrschten Ostblock die Kraft der Religion neu gezeigt hat: Gerade hochintelligente Naturwissenschaftler stellten sich die Gottesfrage neu. Menschen, die sich der Grenzen der Wissenschaft bewusst waren, erkannten, dass die eigentlichen Antworten außerhalb dessen liegen, was die Wissenschaft in sich selbst darstellen kann. Mit diesem Aufblitzen der Gottesfrage inmitten strengster Rationalität meldete sich in den Tiefen der menschlichen Existenz der Durst nach dem Ewigen, der offensichtlich in den Grund unserer Seele eingebrannt ist, neu zu Wort. Damals wurde unmissverständlich deutlich, dass gerade in der vollkommen atheistisch aufgewachsenen akademischen Jugend Gott neu zum erregenden Thema geworden ist (vgl. J. Ratzinger, Wendezeit, S. 66-67; auch Tatjana Goritschewa, Von Gott zu reden ist gefährlich, Freiburg 1984; dieselbe, Die Kraft der Ohnmächtigen. Weisheit aus dem Leiden, Wuppertal 1987). Der vormals unter der Magie ideologischer Versprechungen verblasste Glanz der religiösen Verheißungen wurde wieder spürbar. Es zeigte sich wieder neu, dass es für die menschlichen Existenz eine höhere Erfüllung gibt als jene, die eine entgöttlichte Welt mit den Ersatzlösungen moralischer Beliebigkeit anbieten konnte. Gerade bei der akademischen Jugend ist Religion wieder als Instanz der Freiheit sichtbar geworden. Der Glaube an Gott trat wieder als öffentliche Kraft hervor, die die herrschende kommunistische Ideologie ins Wanken brachte. Der christliche Glaube beflügelte seelische Kräfte, die stärker wurden als äußere Repressalien. 

Die Selbstüberschreitung des Menschen 

Auch im Westen gibt es verstärkt den Großmut junger Menschen, die sich nicht mit vagen Gefühlen und halbherzigen Entscheidungen begnügen, sondern den unbedingten Gehorsam gegenüber der Wahrheit des Glaubens suchen. Wir sind – so Joseph Ratzinger in seinen damaligen Analysen – von neuem auf die Selbstüberschreitung des Menschen, auf den Weg des Glaubens an den lebendigen Gott verwiesen. Der Mut zum Glauben bedarf zuallererst der Zeugen, die ihn durch ihr Leben als den rechten Weg sichtbar machen. Dass der Glaube im europäischen Osten zur Kraft wurde, die sich stärker erwies als der sogenannte „wissenschaftliche Sozialismus“, kam vor allem aus der Demut und Geduld der Leidenden, deren Zeugnis eine über diese Welt hinausgehende Verheißung sichtbar werden ließ. 

Berührung durch Gott 

Was ist die wesentliche innere Gestalt des Glaubens? Wie muss der Glaube beschaffen sein, damit er auf die Zeichen der Zeit antworten und so dem Menschen den Weg zur Erlösung zeigen kann? Joseph Ratzinger verweist auf die Vernünftigkeit des Glaubens: Christlicher Glaube ist „Mut zum Sein“ und Aufbruch ins Große und Weite dessen, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Der Glaube beruht auf der Kraft eines neuen Ja, das dem Menschen in der Berührung durch Gott möglich wird. Der Glaube muss die Verengung des Vernunftbegriffs (Rationalismus), die irrationalen Ideologien Tür und Tor geöffnet hat, aufdecken. Das Geheimnis, auf das sich der Glaube bezieht, ist die Tiefe der göttlichen Vernunft, die wir mit unseren schwachen menschlichen Augen nicht durchdringen können. Das Wort des Johannesevangeliums von der schöpferischen Vernunft („Im Anfang war das Wort“) und von der sinnstiftenden Kraft Gottes bleibt grundlegend für den Glauben. 

Vernunft wird als Liebe sichtbar 

Nur von diesem Anfang her ist das Geheimnis Christi richtig zu verstehen, in dem die Vernunft zugleich als Liebe sichtbar wird. Das erste Wort des Glaubens sagt: Der Schöpfergeist Gottes ist der Ursprung und der tragende Grund aller Dinge. Alles, was in der Welt existiert, ist seinem Ursprung nach vernünftig, weil es aus der schöpferischen Vernunft Gottes kommt. Daher tragen alle Dinge Vernunft in sich, die nicht aus ihnen selbst kommt, sondern sie unendlich überschreitet. Die schöpferische Vernunft Gottes, die die objektive Vernünftigkeit der Dinge und ihre inneren Ordnungen schafft, ist zugleich moralische Vernunft, und sie ist Liebe. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die Spuren der göttlichen Vernunft zu erkennen und so die Dinge – ihrem Wesen entsprechend – zu entfalten. Die Herrschaft des Menschen ist ein Dienen, und seine Freiheit ist Bindung an die innere Wahrheit der Dinge und so ein Offenwerden für die Liebe, die den Menschen Gott ähnlich macht. 

Materialismus oder Glaube 

Der nachdenkliche Mensch ist vor eine grundlegende geistige Alternative gestellt: Steht am Anfang aller Dinge das Unvernünftige? Oder kommt die Welt aus der schöpferischen Vernunft Gottes? Benedikt XVI. weist darauf hin, dass die Worte des Kirchenlehrers Basilius des Großen (um 330-379) von überraschender Aktualität sind, wenn er sagt: „Einige, von der Gottlosigkeit im Innersten getäuscht, stellten sich das Universum ohne Führung und ohne Ordnung vor, wie dem Zufall überlassen.“ Diese Wenigen der damaligen Zeit sind heute sehr zahlreich geworden. „Vom Atheismus getäuscht, meinen sie und suchen sie zu beweisen, dass es weise ist zu denken, dass alles ohne Führung und ohne Ordnung ist, gleichsam dem Zufall überlassen“ (zitiert nach: Benedikt XVI., Gott ist bei uns jeden Tag, Freiburg 2008, S. 227). In der heutigen Krise der Vernunft muss der Kern des Glaubens, der die Vernunft rettet, wieder sichtbar gemacht werden, weil der Glaube die Vernunft in ihrer ganzen Weite und Tiefe erfasst und sie schützt gegen die Verengungen einer Vernunft, die sich allein auf das experimentell Überprüfbare beziehen will. Das Geheimnis, von dem der Glaube spricht, steht nicht gegen die Vernunft. Ganz im Gegenteil: Es rettet und verteidigt die Vernünftigkeit des Seins und des Menschen. Es liefe auf eine Resignation der Vernunft hinaus, wenn sie sich nur noch auf der Ebene des Funktionalen bewegen würde, aber sich nicht mehr imstande wüsste, die Wahrheit über den Menschen, über die Schöpfung und über Gott zu erkennen. Diese grundlegende Skepsis beherrscht heute weithin das Feld. Eine solche falsche Bescheidenheit erniedrigt den Menschen. Sie macht sein Handeln blind und sein Fühlen leer. 

Groß vom Menschen denken 

Der christliche Glaube – die Antwort des Menschen auf einen persönlichen Anruf Gottes – basiert auf der Begegnung zweier Freiheiten (der göttlichen und der menschlichen Freiheit). Er enthält eine umfassende Philosophie der Freiheit. Der moderne Rationalismus (Vertrauen auf die alleinige Erkenntniskraft der Vernunft) hingegen versteht – aufgrund seiner methodischen Selbstbeschränkung – das Unvernünftige als Ursprung der menschlichen Vernunft. Der christliche Glaube, der die göttliche Vernunft als Anfang weiß, geht jedoch vom Vorrang der Freiheit aus. Die Freiheit der Liebe Gottes ruft den Menschen in die Nachfolge Christi und weist seiner Freiheit den Weg. Der christliche Glaube ist kein bequemer Weg. Er stellt höchste Ansprüche an den Menschen, weil er groß vom Menschen denkt. Nur der Glaube in seiner ganzen Weite vermag Antworten zu geben auf die großen Herausforderungen der Gegenwart. 

Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Leiter der Hauptabteilung Orden und Geistliche Gemeinschaften im Bistum Regensburg 

 

 

 



Nachrichten