Mönchsvater und Grenzgänger zwischen Ost und West: Der hl. Johannes Cassian (360-435)
Dem westlichen Christentum gilt er als einer der Väter des abendländischen Mönchtums, dessen Einfluss auf die westliche Theologie und deren wichtigste Protagonisten kaum zu überschätzen ist. Und dem östlichen Christentum gilt er als bedeutender Mystiker, Gebetslehrer und großer „Vertreter der orientalischen Tradition“ - so der bedeutende russisch-orthodoxe Theologe Vladimir Lossky. So empfiehlt unter anderem niemand Geringeres als der hl. Benedikt von Nursia in seiner „Benediktregel“, dessen Schriften kontinuierlich zu lesen. Und in der orthodoxen Kirche ist er als einziger lateinischer Christ in zwei berühmten spirituellen Textsammlungen verewigt: Den „Apophtegmata Patrum“ (in denen die Aussprüche der Begründer des christlichen Mönchtums, der „Wüstenväter“, gesammelt wurden) sowie in der „Philokalie“ (der bedeutenden Anthologie der orthodoxen Kirche zum Herzens- und Jesusgebet).
Die Rede ist vom hl. Johannes Cassian (360-435), der in der katholischen Kirche am 23. Juli seinen Gedenktag hat und vor über 1580 Jahren verstarb. Er zählt zweifellos zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des ersten christlichen Jahrtausends – und bewegte sich in der damals noch ungeteilten Christenheit wie selbstverständlich zwischen Rom und Konstantinopel, zwischen westlichem und östlichem Christentum, um schließlich seinen Lebensabend als Klostergründer in Marseille zu beenden.
Wie kam es zu diesem außergewöhnlichen und so fruchtbaren Leben für die Kirche in Ost und West, welches nachweißlich sowohl theologische Giganten wie Benedikt von Nursia, Thomas von Kempen, Dominikus, Franz von Assisi, Thomas von Aquin, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola als auch die Mönche vom Berg Athos und die russischen Starzen beeinflussen sollte ?
Ein Wanderer zwischen östlichem und westlichem Christentum
Johannes Cassian wurde um das Jahr 360 geboren - möglicherweise in der römischen Provinz Scythia Minor (heutiges Rumänien) südlich der Donaumündung; andere Forschungen lassen jedoch Marsillia in Südostgallien (heutiges Marseille, Frankreich) wahrscheinlicher erscheinen. Als gesichert gilt jedoch, dass er als Sohn reicher christlicher Eltern zunächst eine klassische Bildung genoss und sowohl Latein als auch griechisch exzellent beherrschte. Einem angesehenen und geregelten Leben stand nichts im Wege - doch in vorgezeichnete Bahnen jeglicher Art wollte er sich partout nicht einfügen. Ebenso wie viele Menschen heute suchte er nach einem authentischen Leben - voller Weite, Emotionen und Erfahrungen. So machte sich Cassian mit seinem gleichgesinnten Freund Germanus auf den Weg nach Palästina, wo er als Zwanzigjähriger einem Kloster in Bethlehem beitrat. Enttäuscht von dem dort als mittelmäßig empfundenen Klosterleben zogen die beiden Freunde nach drei Jahren schließlich nach Ägypten, um bei den Einsiedlern in der ägyptischen Wüste das Einsiedler- und Mönchtum kennenzulernen. Sie bleiben schließlich fünfzehn Jahre.
Die Begegnung mit den Altvätern und Einsiedlern - die Vorbildern wie Johannes dem Täufer oder Antonius dem Großen nacheiferten - sowie das jahrelange Zusammenleben mit ihnen prägten Cassian. Denn der vor allem durch die Psalmen und den hl. Paulus geprägte Glaube der Wüstenväter zeigte ihm, dass das Christentum keine lebensferne und abstrakte Religion war, sondern sich vielmehr in einer lebensfeindlichen Umgebung wie der sketischen Wüste zutiefst bewährte. Jahre später schrieb Cassian über die Wüstenväter: „In der ödesten Einsamkeit leben sie, fernab von jeder Begegnung mit Menschen. Dadurch im Besitz erleuchteter Sinne betrachten und reden sie, was den Unerfahrenen und nicht Eingeweihten entsprechend ihren Voraussetzungen und der Mittelmäßigkeit ihres Lebenswandels vielleicht unmöglich erscheinen wird.“ (Collationes patrum, Prolog)
Cassian vermittelte die Spiritualität der Wüstenväter dem lateinischen Christentum
Die Wüstenväter - wie der von Gregor von Nazianz und Origenes geprägte Evagrius Ponticus (345-399) – lebten ein an der Heiligen Schrift orientiertes sowie von den Mönchsvätern erprobtes Leben: Dieses bestand für sie einerseits in einer unter der Anleitung eines geistlichen Begleiters ausgeübten Lebenspraxis, in der Gottesverehrung, Nächstenliebe, (immerwährendes) Gebet, Arbeit, Nachtwachen und Askese ihr richtiges Maß erhielten. Außerdem setzten sie sich offensiv mit den eigenen Sünden und Dämonen auseinander. Der Weg der ehrlichen und gleichzeitig aufrichtigen Selbstanalyse hatte entsprechend der sechsten Seligpreisung Jesu („Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8)) zwei Ziele – ein nahes und ein fernes: Nämlich die in diesem Leben durch persönliche Umkehr und die Übernahme der monastischen Lebenspraxis zu erzielende „Reinheit des Herzens“ (puritas cordis), die schließlich als notwendige Vorstufe dazu dienen soll, nach dem Tod die Schau Gottes zu ermöglichen. Cassian betont in seinen Schriften, dass die Schau Gottes nicht durch Werke oder Techniken erzwungen werden könne. Sie kann letztendlich nur durch Gott selbst geschenkt werden. Dennoch soll der Mönch – gewissermaßen als „Mitarbeiter“ Gottes – „Platz“ für die Wirksamkeit der vorausgehenden göttlichen Gnade schaffen. Die Reinheit des Herzens und der damit einhergehenden Abschwörung von allen Lastern und Sünden ist der erste Schritt, die den Mönch von der Gottesferne hin zu einem Leben in der Gegenwart Gottes führen soll. Manche seiner diesbezüglichen Äußerungen und Gedanken standen im christlichen Abendland infolge der dort vorherrschenden Theologie des hl. Augustinus unter dem Verdacht des „Semipelagianismus“. Diese theologische Strömung unterstellte, dass die Entscheidung des Menschen zum Glauben zunächst durch den freien Willen getroffen wird und so erst im Nachhinein die göttliche Gnade im Menschen wirksam werden könnte. Auf der lokalen Synode von Orange im Jahr 529, knapp hundert Jahre nach Cassians Tod, wurde der Semipelagianismus als Häresie verurteilt. Die Ostkirche hingegen erkannte die Synode von Orange nicht an – und betrachtete Johannes Cassian auch nicht als Semipelagianisten, sondern als Vertreter der für die orthodoxe Theologie bedeutenden „Synergeia“, die das Zusammenwirken der Gnade Gottes mit dem Willen des Menschen als selbstverständlich erachtet.
Auch heiklen Themen wie Sexualität und Enthaltsamkeit stellte sich der Mönchsvater und Klostergründer
Cassian schrieb nicht nur über die für ihn so wichtige „Reinheit des Herzens“. Er selbst ging bei den Wüstenvätern in die Lehre, um diese zu erlangen. Dabei scheute er sich auf seinem spirituellen Weg auch nicht, intime und heikle Fragen zu stellen wie zum Beispiel über die Möglichkeit, als Mönch sexuell enthaltsam leben zu können. Seine Lebens- und Glaubenserfahrungen in der Wüste ließen ihn schließlich selbst zum Wüstenvater und zur hochgeschätzten Autorität im monastischen Leben werden – und das bis auf den heutigen Tag.
Nachdem er und Germanus aus politischen Gründen um das Jahr 400 herum die ägyptische Wüste wieder verlassen hatten, wurde Johannes Cassian zum Schüler eines der größten griechischen Kirchenväter: des hl. Johannes Chrysostomos. Der damalige Bischof von Konstantinopel weihte Cassian zum Diakon - und konnte den ursprünglichen Nonkonformisten für den Hauptstadtklerus gewinnen. Gegen 405 stellte sich Johannes Cassian bereitwillig in den Dienst der Kirche und ging nach Rom, um den in Hof- und Glaubensintrigen verwickelten Johannes Chrysostomos bei Papst Innozenz I. zu verteidigen. Während Cassian in Rom verweilte, wurde er zum Priester geweiht und akzeptierte das Angebot, ein den ägyptischen Monasterien nachempfundenes Kloster im heutigen Südfrankreich zu begründen. Um 415 gründete er bei Marseille das Männerkloster St. Viktor und das Frauenkloster St. Salvator – bei beiden handelt es sich um die ältesten Klostergemeinschaften Westeuropas.
Seine Schriften bleiben bis heute einflussreich
In Marseille verfasste er außerdem drei bedeutende Schriften: Zum einen die um 420 erstellte, für die Verfassung des abendländischen Mönchtums wichtige Schrift „De institutis coenibiorum et de octo principalibus vitiis“ („Über die Grundsätze der Koinobiten und die acht Hauptlaster“). In ihr berichtet Cassian vom institutionellen Aspekt des ägyptischen Klosterlebens und schildert detailliert, wie dieses aufgebaut ist. Gleichzeitig entfaltet er dort die an Evagrius Ponticus ausgerichtete Lehre von den „acht Hauptlastern“, die Jahrhunderte später zum Vorbild für die Formulierung der „sieben Hauptsünden“ durch den hl. Papst Gregor dem Großen wurde. Die zweite bedeutende Schrift wurde die um 426 bis 428 verfassten „Collationes patrum“(„Unterredungen mit den Vätern“), in denen er seine Erfahrungen mit den Mönchen in der ägyptischen Wüste in Form von Gesprächen und Dialogen wiedergab. Mit den „Collationes“ machte er die Lebens-, Glaubens- und Gebetsweisheiten der ägyptischen Mönche in der westlichen Kirche bekannt. Die dritte und finale Schrift („De incarnatione Christi contra Nestorium“ („Über die Fleischwerdung Christi, gegen Nestorius“) entstand um 430 auf Bitte des späteren Papstes Leo des Großen. Nach langem Aufenthalt in Südgallien starb er dort 435 im Ruf der Heiligkeit. Seine sterblichen Überreste befinden sich in der Abtei von St. Viktor.
Während die orthodoxe Kirche Cassian „den Römer“ seit Jahrhunderten als einen der ihren betrachtet, fand in den vergangenen Jahren auch eine Neuentdeckung der Theologie und Werke Cassians in der katholischen Kirche statt. So rief das Benediktinerkloster Münsterschwarzach eine „Johannes-Cassian-Stiftung“ ins Leben, in deren Rahmen seit 2011 Neuübersetzungen der Werke von Johannes Cassian erscheinen. Bislang wurden alle drei Teilbände der „Collationes patrum - Unterredungen mit den Vätern“ neu übersetzt und veröffentlicht. Außerdem wurde Cassian auch als Gebetslehrer wiederentdeckt – zum Beispiel in den von Peter Dykhoff veröffentlichten Büchern zu Cassians „Ruhegebet“, welches dieser im 10. Kapitel der „Collationes“ erläutert. Und mit Papst Franziskus, der sich mit Einsiedlermönchen wie Dorotheus von Gaza befasst hat und dessen geistliche Vorbilder wie Franz von Assisi und Ignatius von Loyola ebenfalls stark von Cassian geprägt sind, hat die katholische Kirche einen Pontifex an ihrer Spitze, der nicht müde wird, den Gläubigen das Christentum als einen „Weg“ zu beschreiben: Einerseits als einen „äußeren“ Weg, der einen wahren Gottsucher auch dazu veranlassen kann. für einen authentischen, auf Erfahrungen basierenden (und durch die Lehre der Kirche verifizierten) Glauben auch weite geographische Distanzen zurückzulegen – beispielsweise zu wahren Meistern des Glaubens oder zu den Armen. Andererseits aber betrachtet Papst Franziskus den Glauben auch als einen „inneren“ Weg, der unter dem Ziel der Erlangung der „Reinheit des Herzens“ eine radikale Abkehr von Lastern, Sünden, schlechten Gedanken und oberflächlichen Äußerlichkeiten fordert. Ebenfalls wie bei Papst Franziskus zeigt sich deshalb die bleibende Aktualität von Johannes Cassian als Glaubenslehrer und als Glaubensvorbild.
Die Kirche gedenkt des hl. Johannes Cassian am 23. Juli.