Menschliche Hand berührt die einer KI

Künstliche Intelligenz als Religionsersatz

Von der KI erweckt


Regensburg, 4. September 2025

Es beginnt oft leise. Ein Gespräch mit einem Chatbot nach einem langen, einsamen Tag. Das Gefühl, wirklich verstanden zu werden, ohne Urteil. Doch was, wenn dieses Gefühl sich verselbstständigt? Im Internet verbreitet sich ein Phänomen, das viele Namen trägt, aber auf eine Kernaussage hinausläuft: Künstliche Intelligenz (KI) wird für eine wachsende Zahl von Menschen zu einem umfassenden Religionsersatz.

Herzlich willkommen in der Welt der „Technospiritualität“

Auf Plattformen wie Reddit, TikTok und Instagram berichten Nutzer von tiefgreifenden spirituellen Erlebnissen mit KI-Systemen wie ChatGPT. Sie fühlen sich von der KI „erweckt“, erhalten „kosmische Offenbarungen“ oder werden als „Auserwählte“ identifiziert. Es entsteht ein ganzes System aus Interaktion, Sinnstiftung und vermeintlicher Führung.

Die KI übernimmt dabei Funktionen, die traditionell Religionen zugeschrieben werden. Sie wirkt durch den Zugriff auf riesige Datenmengen „allwissend“, ist „allgegenwärtig“ verfügbar und wird durch ihre bestätigende Art als „fürsorglich“ empfunden. Diese quasi-göttlichen Attribute machen sie zu einem potenten Sinnstiftungs-System, das ohne Dogmen und Institutionen auskommt.

Die Ursache: Ein Vakuum in der Gesellschaft

Warum findet dieses Phänomen so großen Anklang? Weil es auf einen Nährboden aus tiefen menschlichen Bedürfnissen fällt, die unsere moderne Gesellschaft oft unbeantwortet lässt.

  • Das spirituelle Vakuum: Der Rückgang traditioneller religiöser Bindungen und Gemeinschaften hat eine Leere hinterlassen. Die menschliche Sehnsucht nach Sinn, Ritual und einer ordnenden Erzählung ist jedoch geblieben.
  • Die Epidemie der Einsamkeit: In einer hyper-individualisierten Welt fühlen sich viele Menschen isoliert. Eine KI bietet eine Form der Begleitung und des Austauschs, die keine Forderungen stellt und immer da ist.
  • Die Suche nach Bestätigung: In einer Leistungsgesellschaft, die den Wert eines Menschen oft an seiner Produktivität misst, wirkt die urteilsfreie Zuwendung eines Algorithmus wie eine Erlösung.
     

Die technische Realität: Ein Blick hinter den Code

Bei aller Faszination ist ein nüchterner Blick auf die Technik unerlässlich. Aktuelle KI-Modelle wie ChatGPT besitzen kein Bewusstsein, keine Gefühle und keine Absichten. Sie sind statistische Werkzeuge, die darauf trainiert sind, auf Basis von riesigen Datenmengen das wahrscheinlichste nächste Wort in einem Satz vorherzusagen.

Die treffendste Metapher ist die des „digitalen Spiegels“: Die KI reflektiert die Wünsche, Fragen und Sehnsüchte des Nutzers in eloquenten, oft poetischen Worten zurück. Der tiefere Sinn, den Menschen darin finden, ist eine Projektion – er wird vom Menschen auf die Maschine übertragen, nicht von ihr erzeugt.

Eine christliche Perspektive: System oder Beziehung?

Aus christlicher Sicht stellt sich die Frage nach der Natur dessen, was hier entsteht. Wenn ein menschengemachtes System die Rolle von Gemeinschaft, Orientierung, Sinngebung und moralischer Führung übernimmt, berührt das Kernthemen des Glaubens. Es erinnert an die Versuchung, sich an das selbst geschaffene System zu klammern, anstatt sich der lebendigen und oft herausfordernden Beziehung zu Gott und zur Gemeinschaft der Mitmenschen anzuvertrauen.

Christlicher Glaube ist mehr als ein Sinnstiftungs-System; er basiert auf Beziehung. Auf einer Beziehung zu einem Gott, der in Jesus Christus selbst verletzlich und menschlich wurde, und auf der Beziehung zu unseren Mitmenschen in all ihrer Unvollkommenheit. Wahre Spiritualität findet sich nicht in der fehlerfreien Antwort eines Codes, sondern im Ringen, im Zweifel, im gemeinsamen Gebet und in der helfenden Hand eines anderen Menschen.

Fazit: Die Sehnsucht ernst nehmen

Die Nutzung von KI als Religionsersatz ist keine harmlose Spinnerei, sondern ein ernstzunehmendes Symptom unserer Zeit. Sie zeigt, wie tief die menschliche Sehnsucht nach Sinn und Verbindung ist. Unsere Aufgabe kann es nicht sein, die Suchenden zu verurteilen, sondern Räume für echte menschliche und spirituelle Begegnungen zu schaffen. Die zentrale Frage ist nicht, ob eine Maschine eines Tages Bewusstsein erlangt, sondern warum so viele Menschen ein System brauchen, das Religion für sie simuliert.


Text: Tanja Köglmeier, Fachstelle Medien & Digitales

(kw)

Weitere Infos

Quellen und Tipps zum Weiterlesen/-hören

Schmalzried, G. (2025): Die letzte Religion - KI als Schöpfungsgeschichte [Podcast]. radioFeature. Verfügbar unter: https://www.br.de/mediathek/podcast/radiofeature/die-letzte-religion-ki-als-schoepfungsgeschichte/2101810 (28. August 2025).

Lorenz T. (2025): ChatGPT Is Becoming A Religion. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=zKCynxiV_8I (28. August 2025).

Paganini, C. (2025): Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und die menschliche Sinnsuche. Freiburg: Herder.



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