„Europa als Gabe und Aufgabe verstehen“ - Weihbischof Dr. Josef Graf war Gedenkredner beim Tag des Selbstbestimmungsrechtes der Regensburger Sudetendeutschen
Das wesentliche christliche Fundament Europas und die Erinnerung an die Ereignisse vom 4. März 1919, wo 54 Sudetendeutsche getötet wurden, die sich im damals neuen Staat Tschechoslowakei für ihr Selbstbestimmungsrecht einsetzten, standen im Mittelpunkt des "Tages des Selbstbestimmungsrechtes" der Regensburger Sudetendeutschen im Diözesanzentrum Obermünster. Weihbischof Dr. Josef Graf hielt stellvertretend für Diözesanbischof Dr. Rudolf Voderholzer, der kurzfristig der in Prag stattfindenden Trauerfeier für den Prager Erzbischof Kardinal em. Miloslav Vlk beiwohnte, die Gedenkrede.
Darauf wies auch der Kreisobmann Friedrich Kaunzner in seiner Begrüßung hin, in der er zudem die Rede des damaligen tschechischen Ministerpräsidenten Petr Nečas bei dessen Besuch in Bayern im Jahr 2012 erwähnte. Ebenso griff Kaunzner die Partnerschaft der Bistümer Regensburg und Pilsen auf und konnte viele Vertreter aus der Kommunalpolitik (Stadt und Landkreis Regensburg) sowie von Vereinen und Verbänden aus dem sudetendeutschen und Vertriebenenbereich willkommen heißen.
Verständigung und Aussöhnung nach einer schweren Zeit
Die Hintergründe dieser Gedenkveranstaltung beleuchtete Kaunzner gleichfalls in seinem Rückblick auf die Ereignisse in den Jahren 1918 und 1919: er ging ein auf die unmittelbare Vorgeschichte bis zur Gründung des tschechoslowakischen Staates, der jedoch den dort lebenden Deutschen - ca. ein Drittel der Bevölkerung - "das Selbstbestimmungsrecht verweigert" habe. Der Kreisobmann schilderte die Vorgänge vom November 1918 bis zum besagten 4. März 1919: Beschluss der Deutschen in der ČSR zum Anschluss an Deutsch-Österreich, Besetzung der deutschen Siedlungsgebiete durch tschechoslowakische Truppen, Streiks der Deutschen, militärische Reaktionen durch die ČSR, "54 Todesopfer und 104 Verwundete, als das tschechische Militär in die Menge schoss. Die Hoffnung auf Versöhnung war zerstört", so Kaunzner. Im Friedensvertrag von Versailles seien die deutschen Gebiete schließlich der Tschechoslowakei zugesprochen worden - "eine völkerrechtswidrige Abtretung", so Kaunzner, der auch kritisch die Rolle einzelner Siegermächte würdigte. In der Tschechoslowakei hätten die Ereignisse vom 4. März 1919 Folgen für die weiteren Jahre gehabt - bis zum Protektorat und der "Vertreibung unschuldiger Menschen". Angesichts der heutigen Kooperation in der EU empfahl Kaunzner als Vorbild die Initiativen Ungarns, das im Jahr 2012 einen Vertreibungs-Gedenktag eingeführt hat. "Wie würden wir Sudetendeutschen uns über eine ähnliche Geste freuen", schloss der Kreisobmann seine Ausführungen, sah aber beim derzeitigen tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman keine Hoffnung auf Änderungen.
Als eine "politisch brisante Zeit" charakterisierte auch die Regensburger Bürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer in ihrem Grußwort die Vorgänge vor ca. 100 Jahren. "Dieses Ereignis hat die deutsch-tschechischen Beziehungen lange belastet", stellte das derzeit amtierende Stadtoberhaupt fest. Umso mehr würdigte sie die Regensburger Kreisgruppe der Sudetendeutschen für ihren Kurs der Verständigung und der Auseinandersetzung mit der Geschichte. "Die Stadt Regensburg unterstützt alle Initiativen zur Verständigung", betonte sie und nannte die Städtepartnerschaft mit Pilsen, die langjährige Patenschaft der Stadt Regensburg für die Sudetendeutschen sowie die in Regensburg angesiedelten Einrichtungen Tandem und Bohemicum. "Wir sind nun gute Nachbarn geworden. Ich wünsche Ihnen auch weiterhin Erfolg für Ihre Arbeit von Aussöhnung und Verständigung", fasste die Bürgermeisterin zusammen.
Annahme der eigenen Geschichte und Identität
Kurzfristig als Referent der Gedenkrede eingesprungen war Weihbischof Dr. Josef Graf, der den von Diözesanbischof Dr. Rudolf Voderholzer erarbeiteten Vortrag zum Thema "Die Wurzeln Europas nach Joseph Ratzinger bzw. Papst Benedikt XVI." zum Besten gab und immer wieder mit eigenen Anmerkungen ergänzte. "Das Werk Joseph Ratzingers ist sehr mit dem Europagedanken verbunden", lautete die Eingangsthese. Auch mit seiner Papstnamensgebung habe Ratzinger auf den Europapatron, den Heiligen Benedikt, und auf den Papstvorgänger dieses Namens Benedikt XV. Bezug genommen, der in für Europa schwierigen Zeiten, von 1914 bis 1922, Oberhirte der Katholiken war.
Als wichtig sieht Weihbischof Graf an, Europa nicht nur geografisch, sondern unter dem geistig-normativen Aspekt zu sehen. Eine erstmalige Nennung Europas stamme - in Abgrenzung zu Asien und Afrika - von dem griechischen Geschichtsschreiber, Geographen und Völkerkundler Herodot. Prägend für Europa sei zunächst das griechische Erbe gewesen, vor allem die Philosophie als das Fragen nach der Wahrheit, aber auch das rationale Denken, der Vernunftsgedanke. Die zweite Säule, das jüdisch-christliche Erbe, dessen Wiege paradoxerweise außerhalb Europas steht, zeichne sich insbesondere durch die Betonung der Würde des Menschen aus - da eben auch Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Als dritten Pfeiler nannte Weihbischof Graf "das römische Erbe in seinen drei Phasen", d.h. die von Rom, Byzanz und Moskau ausgehenden Entwicklungen und Fakten: die lateinische Sprache, das Rechtswesen, die Universitäten und das Mönchtum (Benedikt von Nursia), aber auch unterschiedliche Realitäten im Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Dies habe sich, so der Weihbischof, dann in der Neuzeit konkretisiert und eine deutliche Unterscheidung von Religion und Kirche hervorgebracht. "Das hat auch den Raum für unterschiedliche politische Positionen gebracht", fasste Weihbischof Graf diese Tendenzen zusammen. Besonders empfahl er, Europa nicht nur als geografischen bzw. Wirtschaftsraum zu sehen, sondern diese vier geistigen Wurzeln immer im Blick zu haben. Die Herausforderung für heute sei in erster Linie, "Europa als Gabe und Aufgabe zu verstehen". Konkret forderte er eine "Überwindung des pathologischen Selbsthasses des Abendlandes", die Annahme der eigenen Geschichte und Identität und das Gottesbekenntnis als tragenden Grund Europas.
Kreisobmann Kaunzner dankte zum Schluss der Gedenkstunde den beiden Rednern sowie Anne Maria und Michael Wehrmeyer, die für den musikalischen Rahmen sorgten. Beim anschließenden Empfang konnten in vielen individuellen Gesprächen diese Themen vertieft oder auch andere Fragen besprochen und diskutiert werden.