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Bischof Dr. Rudolf Voderholzer bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft
„Die oft vergessenen und ungehörten Geschichten festhalten!“
Regensburg, 22. Februar 2025
Ohne die Frauen wäre die Integration der Heimatvertriebenen nicht gelungen. Diese Aussage zog sich durch fast alle Beiträge bei der Landesfrauentagung der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Landesgruppe Bayern. Ein Beispiel waren die Großmutter und Mutter des Regensburger Bischofs, Dr. Rudolf Voderholzer, der über diese berichtete. Für die musikalische Umrahmung sorgte – wie gewohnt – das „Böhmische Trio“ aus Burglengenfeld mit Liedern aus der Heimat.
Mit dem Dank für die Treue zur Landesfrauentagung – Bischof Voderholzer besucht diese regelmäßig – führte die stellvertretende Landesobfrau und Landesfrauenreferentin Dr. Sigrid Ullwer-Paul in die Tagungsthematik ein. Sie bat den Bischof, die in der Ausstellung „Ungehört – die Geschichte der Frauen. Flucht, Vertreibung und Integration“ vorgestellten Lebensbilder um eine Schilderung der Schicksale in seiner Familie zu ergänzen. Denn Voderholzers Großmutter (* 1903) und auch Mutter (* 1927) erlebten die Vertreibung hautnah und haben diese unterschiedlich „verarbeitet“. Neben Schilderungen der Mutter und Großmutter hat Bischof Voderholzer auch solche seiner drei Onkel – damals „minderjährige, ziemlich robuste Kerle“ – in seinen Vortrag einfließen lassen.
Unter den Dokumenten der Mutter existiert auch ein Auszug aus dem Matrikelbuch der Pfarrei Kladrau. Demnach musste sich die Großmutter am 13. Februar 1946 im Pfarramt der Schlosskirche Kladrau beim Dechant Wenzel Remiger (Bruder von Weihbischof Johannes Nepomuk Remiger) den Auszug geben lassen, der die Heirat bzw. den Ehestand nachweist. Dies auch vor dem Hintergrund, dass es nicht mehr lang bis zur Vertreibung dauern werde. „Mein Großvater war zu dem Zeitpunkt noch in französischer Kriegsgefangenschaft und hat erst dann, nachdem die Familie vertrieben war, über die Vermittlung des Roten Kreuzes herausgefunden, wo die Familie gelandet ist“, schilderte der Bischof die Ereignisse. Das Formular selbst war in tschechischer Sprache, aber in Deutsch ausgefüllt – mit der handschriftlich vermerkten Begründung: „Deutsch auf Wunsch der Antragstellerin für den Zweck der Umsiedlung“, hieß es. „Das zeigt die Situation: der Versuch, die deutsche Sprache und das Deutschtum über Formalitäten zurückzudrängen, ist am Kriegsende voll in Gang gewesen“, interpretierte der Oberhirte diesen Vorgang. Mit Datum vom 19. Juni 1946 und durch einen Stempel „Odsun“ besiegelt wurde auf dem Dokument für diesen Tag die Durchführung der Abschiebung festgehalten. Dies sei, so Bischof Rudolf, „durchaus nicht spontan, sondern organisiert und von langer Hand vorbereitet worden“. Aus den Erzählungen weiß er, dass dies überaus willkürlich geschah. Am Vorabend wurde bekanntgegeben, welche Ortschaft an der Reihe war, verbunden mit dem Hinweis, sich mit (nur) 30 Kilogramm Gepäck auf dem Marktplatz zu versammeln - für den Transport zum nächsten Bahnhof und dann per Viehwaggon in den Westen.
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Bei diesem Transport war die Mutter des Bischofs nicht dabei, aber die Großmutter mit den drei Buben. Die Route führte über Karlsbad nach Wiesau, wo der große Sammelbahnhof war. Von dort ging es weiter Richtung Süden über München nach Wasserburg am Inn. „Hier mussten sie schauen, wo sie auf einem Bauernhof unterkommen konnten. Nachdem sie zum dritten Mal vor verschlossenen Türen standen, muss meine Großmutter – nach den Schilderungen meines Onkels – einen Nervenzusammenbruch erlitten haben. Sie hat sich auf ihren Koffer gesetzt und nicht mehr von der Stelle gerührt. Es ist dann aber Gott sei Dank gelungen, auf einem Hof aufgenommen zu werden. Mit dieser Familie haben wir heute noch einen guten Kontakt. Aber meine Großmutter hat sich von all diesen Traumata lange nicht wirklich erholt, zumal ihr Mann, als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war, nicht nur seelisch, sondern auch körperlich ziemlich angeschlagen und nicht mehr arbeitsfähig war. Es war eine schwierige Situation“, erzählt der Regensburger Oberhirte. Der Landwirt mit seiner Familie habe sich aber großzügig gegenüber den Vertriebenen gezeigt. „Sie haben sich mit all ihrer Arbeitskraft auf dem Bauernhof eingebracht und wollten niemanden zur Last fallen. Aber viele hier konnten sich nicht vorstellen, woher die Leute kamen“, beschreibt Bischof Voderholzer die damaligen Rahmenbedingungen. Und abschließend über die Großmutter: „Ohne starken Glauben, hätte sie das alles vermutlich nicht überstanden.“
Die Mutter Voderholzers hingegen ist der Vertreibung durch Flucht „schwarz“ über die Grenze zuvorgekommen. Maria Voderholzer war nach der Volksschule Schülerin an der Lehrerbildungsanstalt in Mies, wo sie die ersten Semester absolviert hatte. Durch die Wirren am Kriegsende wurde diese Ausbildung abgebrochen. „Die ganze Familie musste auf dem bereits enteigneten Hof als Dienstboten arbeiten. Es lag in der Luft, dass die jungen Frauen ins Landesinnere deportiert würden, um dort in Arbeitslagern ausgebeutet zu werden“, schildert der Bischof. Diese Dinge wissend machte sich die junge Frau zusammen mit Freundinnen und einigen Herren als Geleitschutz, die aber auch die Fluchtchance nutzen wollten, im Winter 1945/46 auf den etwa 40 Kilometer weiten und durchaus riskanten Weg von Kladrau über die Tillyschanz bei Eslarn über die Grenze in die Oberpfalz. Ziel war der Gutshof Marienhof bei Würzburg, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden. Einige der Geflüchteten blieben hier, um Geld zu verdienen. Für Voderholzers Mutter bot sich kurz darauf die Chance, in Aschaffenburg die Ausbildung zur Lehrerin wieder aufzunehmen. Hier konnte sie diese abschließen und wollte eigentlich im Spessart bleiben. Doch sie wurde in den Süden Bayerns versetzt, in die Nähe der Familie. Als Volksschullehrerin wirkte sie dann im Kloster Au, in Oberornau und in Babensham (alle Landkreis Wasserburg), wobei auf dem Land oft einklassige Schulen üblich waren. Mit den ersten Ersparnissen kaufte sie für ihre Mutter und deren Mann sowie die drei Buben, die schon in der Lehre waren, ein kleines Anwesen, um die Unterbringung im Bauernhof zu beenden. Im Beruf erfuhr sie hohe Anerkennung bei den Vorgesetzten, so dass sie vom Schulrat und weiteren Pädagogen zum Studium der Sonderpädagogik auserkoren wurde, auch um für den Landkreis Wasserburg eine Sonderschule aufzubauen. Beim Studium in München lernte sie ihren Mann kennen, der im Bayerischen Kultusministerium arbeitete. Zwar beendete Maria Voderholzer noch das Studium, zum Aufbau und zur Übernahme der Leitung der Sonderschule kam es dann wegen der Familiengründung nicht.
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Neben der Familie betätigte sich Maria Voderholzer als Autorin von zehn Kinderbüchern, sehr verehrt hat sie Otfried Preußler. Beim Schneider-Verlag arbeitete sie im Lektorat mit und unterrichtete stundenweise an Sonderschulen. Am Münchener Dante-Gymnasium, wo ihre Kinder zur Schule gingen, wirkte sie im Elternbeirat mit. „Das Dante-Gymnasium war ein kleines sudetendeutsches Zentrum“, blickt Bischof Rudolf zurück. Der damalige Schulleiter Dr. Erhard Bergmann, ein Sudetendeutscher, hatte mit Pater Victricius Berndt aus Pomeisl einen hervorragenden Religionslehrer verpflichtet. Dieser war mit Franz Josef Strauß, dessen Kinder ebenfalls dieses Gymnasium besuchten, bekannt. Im Elternbeirat arbeitete Maria Voderholzer viel mit Marianne Strauß zusammen. Im Rahmen ihrer Arbeit im Pfarrgemeinderat und in überregionalen Gremien war Maria Voderholzer damals in den Aufbau der Seelsorge für alleinerziehende Mütter involviert – „eine Erfahrung, die mit der Kenntnis der Schicksale von Kriegswitwen usw. einherging“, so Bischof Voderholzer. Für dieses Themenfeld konnte sie Marianne Strauß gewinnen, die ihre Beziehungen dafür einbrachte. Nach Marianne Strauß’ Unfalltod im Jahr 1984 wurde die nach ihr benannte Stiftung gegründet, Maria Voderholzer war im Dezember 1986 die erste Trägerin des Marianne-Strauß-Preises. Die Mutter des Bischofs arbeitete viele Jahre in Pfarrgemeinderäten und war die erste Frau in der Kirchenverwaltung ihrer Pfarrei in München. „Es ist an der Zeit, diese oft vergessenen und ungehörten Geschichten festzuhalten und zu sammeln. Das kann nur ein Anfang sein“, fasste Bischof Rudolf Voderholzer zusammen und schlug vor, das vorhandene Projekt quasi als Sammlung von Lebensbildern auszuweiten. „Was ich weiß und zusammengetragen habe und weitergeben kann, würde ich sehr gerne in einem kurzen Lebensbild zusammenfassen. Wir sind es diesen Frauen schuldig, ihre Lebensleistungen nicht ungehört bleiben zu lassen“, bot der Bischof seine Unterstützung an und empfahl, diese Erinnerungen möglichst multimedial zu dokumentieren.
Weitere Referentinnen waren Patricia Erkenberg vom Haus des Deutschen Ostens in München und Ingrid Sauer vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Sie stellten einige weitere Zeitzeuginnen vor, zum Teil aus der Wanderausstellung „Ungehört – die Geschichte der Frauen. Flucht, Vertreibung und Integration“, die an der Unibibliothek Regensburg gastiert (13. Januar bis 27. Februar 2025).
Unser Titelbild zeigt: Als Dankeschön überreichte Dr. Sigrid Ullwer-Paul (rechts) eine Spende zur Förderung der religiösen Volkskunst an Bischof Dr. Rudolf Voderholzer.
Text und Fotos: Markus Bauer
(jas)