THOMAS: Warum er anfangs nicht glaubte
Ein fiktiver Brief des Apostels Thomas
Warum ich an diesem Sonntag nicht mit den anderen zusammen war, kann ich gar nicht mehr sagen. Ich war nicht dabei. Vielleicht, weil es mir zu viel wurde. Selbst deprimiert zu sein, genügt; dafür brauchte ich nicht in weitere zehn verzweifelte Gesichter zu blicken. Ich habe gefehlt an jenem so entscheidenden Tag und weiß nicht einmal mehr, wo ich gewesen bin. Es ist unbedeutend. Bedeutend alleine ist: Ich war nicht da, als Jesus kam.
Er war - so haben sie es mir später erzählt - bei Ihnen. Lebend. Obwohl er doch gestorben war. Das wussten wir mit Gewissheit. Er starb am Kreuz, an diesem heißen Nachmittag, in der sich unsere Verzweiflung mit seiner vermischte, in der sein Schreien immer leiser wurde, bis er den Geist ganz aufgab. Er starb, war tot. Das wusste ich damals und weiß ich heute mit Gewissheit. Man stieß ihm eine Lanze in die Seite, legte ihn in ein Grab und verschloss es mit einem großen Stein. Das soll jemand überleben? Nein, Jesus war tot. Ich war am Ende. Jahre meines Lebens bin ich ihm gefolgt. Er hat mich mitgerissen, mich begeistert. Seine Worte haben mich ins Herz getroffen. Ich war keiner der bekannten Apostel, war nicht Petrus oder Jakobus oder Johannes. Aber ich war dabei und habe den Herrn geliebt.
An diesem einen Sonntag war ich nur noch wütend und verzweifelt. Was war aus der schillernden Zukunft geworden, die Jesus uns verheißen hatte? Wieso hatte Jesus es zugelassen, dass er am Kreuz starb? Wieso hat er sich nicht wiedersetzt oder ist wenigstens vorher geflohen? Ich war wütend auf ihn, weil er das zugelassen hatte. Ich war wütend auf mich, weil ich Jahre meines Lebens verschwendet hatte. Jesus war tot, die Geschichte am Ende. Deswegen war ich an diesem Sonntag nicht bei den anderen. Ich wollte alleine sein.
Ganz ehrlich: Hätten Sie es geglaubt? Hätten Sie den anderen Aposteln diese Geschichte vom auferstandenen Jesus abgenommen? Bedenken Sie, dass auch die anderen zehn Jünger enttäuscht, am Ende, nicht mehr wirklich zurechnungsfähig waren. Hatten die sich nicht nur einfach einen besseren Ausgang der Geschichte mit Jesus gewünscht, vorgestellt und dann vermeintlich sogar wirklich gesehen? Ich jedenfalls glaubte es nicht. Wenn, dann wollte ich Beweise. Dieser Mann müsste ja die Male seines Martyriums an sich tragen, sollte er wirklich den Tod besiegt haben.
Am nächsten Sonntag trafen sich die Jünger dann wieder, und jetzt war auch ich dabei. Mein Zorn und meine Enttäuschung waren verraucht. Ich war nur noch traurig. In dieser Trauer wollte ich nicht alleine sein. Ich klammerte mich an die Gesellschaft der anderen. Und dann - kam Jesus. Er stand in diesem Raum und alle Zweifel waren verflogen. Keine Frage mehr, ob er es wirklich war. Er war es! Als er zu sprechen begann, war es seine Stimme.
Dieser Moment, mein Moment, wurde so oft von Künstlern gemalt. Ich lege meine Hand in die Wunden Jesu. Habe ich das wirklich getan? Bin ich der Aufforderung Jesu wirklich gefolgt, meine Hand in seine Wunden zu legen? Eure Quelle ist das Johannesevangelium. Ja, dort steht, dass Jesus mich aufforderte, seine Wunden zu berühren. Habe ich es aber getan? Davon steht nichts im Johannesevangelium. Ist aber auch egal. Denn ich habe begriffen: "Mein Herr und mein Gott." Ich habe begriffen, dass diese Wunden das Zeichen Jesu sind. Jesus war nicht der Messias, den ich erwartet hatte. Aber er ist der Messias.
Ihr nennt mich heute den "ungläubigen Thomas". Dabei habe ich doch geglaubt. Ich war nur nicht voller Vertrauen auf das Zeugnis meiner verwirrten, verzweifelten und traurigen Freunde hin. Aber eines habe ich sofort verstanden: Dieser Mann ist der Messias. Er ist von den Toten auferstanden. Er ist mein Herr und mein Gott.
Text: Benedikt Bögle
(SIG)
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